Aus „Vom Duft der warmen Zeit“
Konzert für ein Saxophon
Es ist Frühsommer. Der Mann auf dem Rad ist unterwegs zum Kirchgarten. Rasenmäher dröhnen. Die Luft ist schwer vom Blütenstaub. Der bärtige Hühne keucht den Grasbuckel hinauf. Oben steigt er ab und verschnauft bei einem kräftigen Schluck Mineralwasser und denkt an Manuela. Er hat dabei ein Bild vor Augen, das sich letztes Jahr in seine Erinnerung eingebrannt hatte. Seither trug er es mit sich: Manuela Engel in dem dunkelblauen Kleid mit weißen Punkten, dass irgendwie zu knistern schien, wenn Konrad Schilling es mit seinen Augen berührte. Einmal im Jahr kommt die Frau mit der feuerroten Mähne zum Pfingstkonzert in den Kirchgarten. Sie spielt Saxophon und bewegt sich dazu geschmeidig wie eine schleichende Katze. Konrad swingt sich am Rande von Ton zu Ton. Unbemerkt, obgleich der übergewichtige Mann eigentlich nicht zu übersehen ist. Doch es gibt Leute, die sind einfach durchsichtig, weil sie zum Szenario gehören: Konrad ist jener, der die Besucherbänke aufstellt. Jedes Jahr, immer schon. Wem sollte das noch auffallen?
Im Kirchgarten duftete der Flieder. Konrad fühlte sich gut. Morgen würde er ein neues Manuela-Bild bekommen. Ein Sinnbild fürs Aufstehen, ein Trugbild für die Nacht. Es würde ihn ein Jahr lang begleiten, bis die Musikerin es selbst überzeichnete. Jetzt lebte noch das blaue Kleid mit weißen Punkten in seinem Kopf, während er Bänke aus dem Kellergewölbe trug und sie auf dem Rasen platzierte.
Am Sonntagmorgen schneite es Fliederblüten. Konrad hatte gerade den Tau von den Bänken gewischt als der Pastor mit wehenden Schößen auf seinem Motorrad angebraust kam: „Sie kommt nicht! Um Himmels Willen, Konrad, die Musikerin kommt nicht. Hat abgesagt, eben. Was nun?“
„Hm.“ Konrad zog die Stirn in Falten und grübelte. Er schob das blau-weiße Kleid in seinem Kopf behäbig beiseite, und sagte schlicht: „Na, da muss ich nun wohl ran.“
Der Pastor nickte, wusste aber nicht genau wozu.
„Bin gleich zurück“, versicherte ihm Konrad, der schnelle Schritte über dem Damm setzte und in seinem Bauernkaten verschwand. Nach wenigen Augenblicken stand er wieder vor dem Pastor mit einem Saxophon in den Händen.
„Das kannst du?“, grummelte er ihn an.
Konrad zuckte mit den Schultern: „Jo, ein bisschen. Mein Musiklehrer fand’s ordentlich. Ich improvisiere einfach was.“
Dem Pastor war vor lauter Aufregung, sein Pfingstfest könnte platzen, im Grunde alles egal. Er nickte und herrschte: „Mach es!“
Konrad ging duschen und zog seinen eleganten schwarzen Anzug an, den er zu jeder Dorffeier und auch zu Beerdigungen trug. Dann setzte er das Instrument an seine Lippen und durch seinen weichen Kussmund strömten Wohlklänge. Zwar war sein Kinn noch steif, zu lange hatte er nicht mehr gespielt. Aber es half nichts, fest oder locker, er hatte jetzt nur die Situation zu retten.
Das Messing glänzte in der Sonne, als Konrad Schilling den Kirchgarten wieder betrat. Er kümmerte sich nicht um die überraschten Gesichter, er dachte nur diesen einen Satz: Das Knistern eines Kleides. Der Mann schloss die Augen und seine Fantasie zauberte nun sphärische Töne in Blau-Weiß. Die meisten Konzertgäste begannen sich zu entspannen und folgten seinen Seelentönen. Nur der Pastor stand ungläubig am Rande und schüttelte überrascht seinen Kopf. Warum wusste er nicht, dass dieser Mann Herzen berühren kann? Wahrscheinlich wusste Konrad das selbst nicht so genau. Nur eines war dem spielenden Mann vollkommen klar: Sein Variationsbild würde wohl fortan für immer in seinem Kopf verweilen. (pe)
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