Eine Lesekostprobe zur Lesung am 6. März 2016, 15 Uhr, im Jagdschloss Groß Schönebeck (Schorfheide):
Immer, wenn Ina sich entspannt für einen Termin entscheidet – irgendjemandem zum Geburtstagsbrunch zusagt oder zu einem literarisch-musikalischen Abend, kommt irgendwer daher und schiebt sich exakt mit seiner wichtigen Veranstaltung auf dieses freundliche oder festliche Datum. Am 4. wird Freundin Sabine 40 Jahre alt und nun trötet der Briefkasten gehässig: „Ätsch, ich hab‘ hier noch eine Einladung des örtlichen Kulturvereins, genau zum 4. – mit einem großen, unausgesprochenen, aber gut fühlbaren MUSS versiegelt.“ Der Tag hat plötzlich eine Delle, ein blaues Auge, und Ina mag gar nicht mehr in diese sommerliche Kalenderzeile schauen, denn die suggeriert jetzt Stress. Sie ist schlicht sauer, dass jemand es wagt, in ihren Kalender zu spucken. Ihr mit seiner kurzentschlossenen Wichtigkeit ein schlechtes Gewissen zu impfen, denn nun muss sich Ina neu entscheiden, zwischen Fest und Notwendigkeit. Und die Zeit als unbekannte Dimension tickt augenblicklich schneller, und schneller und schon ist es geschehen: Die gehetzte Variante von Ina erscheint.
Und weil die Zeit sich nicht verdoppelt und Ina immer vom Ernst des Lebens überrannt wird, kommt sie kaum noch zum Feiern. Das geschieht selbst in dem stillen Land, obgleich es doch den Stempel der gedehnten Zeit trägt. Und was ist mit Sex? Die gehetzte Variante von Ina hat keinen, denn Stress macht lustlos.
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Die zierliche Kindfrau balancierte lange auf extrem hohen High Heels von Termin zu Termin, um körperlich auf Augenhöhe jener Kerle zu sein, die die Verträge vergeben. Sie arbeitete eigentlich immer. Die Gedanken streng bei der Sache, strategisch und effizient in allem, was die gut gestylte PR-Frau auch tat. Erst nach dem zweiten oder dritten Weinschoppen konnte sie am Abend ihre fixierten Gedanken loslassen und vielleicht in die Weite schweifen. Aber für Sex war sie jetzt einfach viel zu müde, zumal es keinen festen Mann in dem Leben der Zarten gab, nur diese Sommerliaison mit Micha.
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Der Physiker war wie sie zeitlos unterwegs. Aber wenn der Sommer zur Hochzeit anstimmte, packte Micha seine Badehose ein und fuhr für drei Wochen aufs Land zu Tante Beate. Er hackte und stapelte ihr in dieser Zeit das Holz für den Winter, und sie verköstigte ihn dafür.
Abends schaukelte Micha mit seinen Gedanken in der Hängematte zwischen zwei Bäumen. Er döste sich im Nachtblau von Stern zu Stern und dann hinein in die Sommermilchstraße von Gasnebel zu Sternenhaufen, als wäre er der Held in Douglas Adams Zukunftsrausch „Per Anhalter durch die Galaxis“. Er liebte dessen Spruch: „Keine Panik!“ und scharfe Getränke im Bademantel. Am dritten, vierten Ferientag zog es Micha ins Templiner Kino, dort traf er sie – magisch von ihr angezogen.
Wenn Micha auftauchte, nahm Ina spontan eine Auszeit. Sie schlief in den Tag, pflegte sich und perlte erwartungsvoll die verführerische Variante von Ina hervor, für die pure Lust im Heu oder in Beates Rosenbettwäsche. Seit fünf Jahren ging das schon so. Micha und Ina trafen sich sonnabends auf der Terrasse zum Jazz wie ein Tanzpaar für ein paar Sommerwochen, stolz und schön, ohne irgendein Versprechen. Sie zehrten beide davon das ganze nächste Jahr – zwei Rastlose auf dem Weg zum Workaholic-Dasein. Doch etwas war anders in diesem Sommer.
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Ihre biologische Uhr tickte nicht nur, sie schlug fünf vor zwölf. Inas ganze Energie steckte in ihrer Karriere. Sie hat anderer Leute Unternehmen mit klugen Konzepten stark aussehen lassen, aber sie selbst? Die Frau Mitte 30 weichte an diesem Nachmittag in der Badewanne und grübelte. Wo war ihr privates Glück? Was ist Glück, und wie sollte es aussehen? Kind oder Hund? Eine kleine oder eine große Familie? Der einzige Mann, der ihr bisher guttat, war dieser Physiker, der von Elementarteilchen schwärmte wie von den spektakulären Entladungen eines Vierseiten-Gewitters. Er war ein Poet der dunklen Materie, ein Feingeist der Gravitationswellen und -felder. Aber Familie mit Micha? Er würde sie auslachen und es mit so einem Spruch wie „Sisyphusse heiraten nicht.“ abtun. Doch einen anderen Mann konnte sie sich nicht in ihrem Leben vorstellen – im Sommer. Doch wer war dieser Micha im Winter? Mochte er Weihnachten? Hält er Winterschlaf, oder feiert er närrisch Fastnacht? Und würde es dieser geschliffene Stadtmensch überhaupt in einem ländlichen Winterhaus aushalten? Sie wusste es nicht. Sie kannte nur den entspannten Sommer-Micha. Als er sie letztes Jahr ein Stück mit in den Stadtherbst nahm, einfach so, übergangslos, hatte sie gekniffen. Sie mag die Großstadt nicht und: Letzten Sommer war Micha mehr in sie verliebt, als sie in ihn. Das wechselte von Jahr zu Jahr. Jeden Sommer war ein anderer von ihnen beiden mehr entflammt. Es traf sich nie, dass sie beide zugleich dieses starke Gefühl in sich spürten, für den weniger Engagierten war es einfach nur guter Sex.
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„Na, du Job-Junkie, hast du die Reißleine gezogen“, spöttelte Ina, als sie Micha an diesem Abend traf. Sie sagte das, als hätten sie sich nur ein paar Tage nicht gesehen. Der sportliche Mann Ende 40 sprang auf, fasste nach ihren Händen und lächelte sie offen an: „Hi, meine schöne Sommerfrau.“ Nein, sie hatte sich kaum verändert. Er legte seinen Arm um sie und führte sie von der Terrasse zum Steilhang. Von dort hatten sie einen wundervollen Blick auf den Templiner See und auf das Blinken und Gleißen des Abendlichtes in den Wellen.
„Gibt es etwas Neues in deinem Leben“, fragte Ina vorsichtig, denn es hätte ja sein können, dass der Wintermann eine Ganzjahresfrau gefunden hat.
„Nö, alles beim Alten, die Elementarteilchen haben mich erst nach Hamburg, dann nach Zürich verschlagen, überall fremd geblieben, nirgends angedockt und du?“, fragte er lauernd zurück.
„Och, auch wie immer – keine Zeit für nix. Aber jetzt, wo du da bist, mache ich natürlich frei“, zirpte sie vielsagend.
Er lächelte und zog sie an seine Lippen, Vorfreude kribbelte in ihnen, noch während die Band ihr Equipment aufbaute, verschwanden die Zwei in der aufsteigenden Sommernacht. Sie liebten sich weich und geschmeidig bis ins Morgengrauen. Und im Einschlafen flüsterte sie ihm wie ein Hauch ins Ohr: „Ich wäre auch gern deine Winterfrau“, aber der Mann war eingeschlafen. Oder tat er nur so?
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Beate schepperte die große Kuhglocke im Hof und brüllte „Frühstück!“ dazu. Auch für sie standen frohe Tage ins Haus. Die Frau Mitte 60 empfand es einfach als schön, zusehen zu können, wie die Zwei jedes Jahr aufs Neue aufblühten. Und dazu gehörte ihr opulentes Frühstück mit Eiern im Glas, knackigen Brötchen, Ziegenkäse mit Kirschtomaten, Honig, Erdbeeren und Kaffee. Beate wünschte sich insgeheim, dass die beiden endlich auch den Alltag miteinander verbringen würden, hier auf ihrem schönen Fachwerkhof. Platz wäre genug. Ina könnte ihre kleine Mietwohnung aufgebe, und Micha käme an den Wochenenden heim. Eine leise Hoffnung der Landfrau, die vor Jahren ihrer sterbenden Schwester versprach, sich um Micha zu kümmern, was sie auch gehalten hatte. Sie war sichtbar stolz auf den Neffen, aus dem ein angesagter Grundlagenforscher geworden war, nur halt ein viel zu einsamer, bis auf die Sommerwochen mit Ina. Aber auch dieser Sommer verging, wie jeder andere in den letzten fünf Jahren: verschwenderisch, sinnlich, vergnüglich und unverbindlich. Ina aber fasste still einen Entschluss.
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Monate später. Am Freitag vor Pfingsten kam ein Anruf aus der Uckermark: Beate hatte sich das linke Bein gebrochen und brauchte kurzweilig Hilfe. Micha kaufte großzügig für die Feiertage ein und fuhr hinaus aus den heißen Stadtsteinen. Der Frühsommer verströmte wundervoll milde Wärme und den schweren Duft von Flieder. Die Natur leuchtete und stimmte den Mann am Steuer froh. Auf dem Weg würde er bei Ina kurz halten, vielleicht hatte sie Zeit und würde ihm seinen Aufenthalt bei Berta in Annenwalde versüßen. Noch nie waren sie Pfingsten miteinander unterwegs. Aber als er Inas Klingelschild in der Bahnhofstraße suchte, war es nicht aufzufinden. Er stand einigermaßen ratlos vor der verschnörkelten Tür des sanierten Gründerzeithauses, als eine Frau ins Freie trat und ihn fragend ansah.
„Guten Morgen. Können Sie mir verraten, was mit Ina Meyer ist“, fragte er höflich.
Die Frau war in Eile und antwortete nur kurz: „Ist im Januar weggezogen, ich weiß nicht, wohin, in irgendein Dorf in der Nähe.“
Sie huschte an ihm vorbei, und Micha schaute ihr einen Moment verdutzt nach. Weggezogen? Hätte Ina ihm das nicht verraten, fragte er sich in Gedanken. Wohl nicht, im Winter gab es keine Nachrichten von ihr, aber vielleicht wusste ja Beate Genaueres. Er bestieg seinen Wagen und kurvte sich an den unzähligen Baustellen am Altstadtmarkt vorbei.
In den Dörfern Röddelin und Beutel lehnte überall frisches Birkengrün an den Hoftoren. Micha schmunzelte, er mochte diese alten Bräuche. Die Birkenzweige gelten hier als Hoffnungsbündel. Beate hatte ihm den alten Pfingstbrauch „der Maien“ erklärt: Die Birke sei das Symbol für Kraft und Lebenswillen, für Trost, Licht und Heiterkeit. Das Aufstellen von Birkenzweigen soll die Freude über das Erwachen der Natur ausdrücken. Die Landleute glauben, dass bestimmte gute Kräfte der Birke auf den Menschen oder das Vieh übergehen würden. Die Kraft des ersten frischen Grüns sollte beispielsweise die Kühe veranlassen, besonders viel Milch zu geben. Alle alten Maibräuche finden zwischen dem „Säen und Mähen“ statt, also in einer bäuerlichen Atempause. Doch in dieser Zeit wohnte die ungewisse Erwartung über den Ausgang der Ernte. Micha stoppte am Waldrand und pflückte sich ein mächtiges Birkenbündel, mit dem er wenig später vor Beates Tür stand: „Hast wohl vergessen, rechtzeitig deinen Hof mit Maien auszustatten? So kannst du natürlich nicht heil bleiben!“ Micha und Beate grinsten und schlossen sich fest in die Arme.
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Beate stellte die Krücken neben die Eckbank in der Küche und ließ sich vorsichtig nieder, während Micha Kaffee ansetzte. Dann holte er seine Einkaufsschätze aus dem Auto, und die Tante zeterte: „Meine Güte, was hast du denn alles mitgebracht und die vielen teuren Gewürze!“
Micha linste zu ihr und murmelte: „Wenn ich dich verwöhnen soll, brauche ich meine Utensilien, Maggikraut, Lauch und Petersilie ist mir etwas zu schlicht. Und der Braten soll natürlich auch eine schöne Besucherin an den Festtisch locken. Weißt du was von Ina?“ Er stellte Beates prächtige Sammeltassen auf den Küchentisch, goss Kaffee ein und hockte sich zu ihr. Aber die Tante zuckte nur mit den runden Schultern: „Ich hab‘ neulich mal in der Agentur beim Eulenturm reingesehen, war gerade in der Nähe, aber der Chef meinte nur, sie pausiere und sei nach Grunewald gezogen.“
„Das ist ja seltsam, sie hat eigentlich nie von solchen Plänen erzählt.“ Der Mann zog bedenklich die Brauen hoch und schlürfte Kaffee vom Tassenrand. Beate blubberte leise vor sich hin: „Du weißt im Grunde gar nichts von deiner Sommerbraut.“
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Micha saß auf der kleinen Seebühne am Densowsee und fühlte mit den Fußspitzen nach dem Wasser. Es war noch eiskalt. Gedankenverloren hockte er in der Abendstille. Wieso war sie weg? Und warum dachte er eigentlich nur an Ina, wenn er bei Beate war? Sie waren doch ein Schwanenpaar. Ja, klar, unausgesprochen, aber doch eindeutig monogam. Diese seltsame Beziehung war ein Geschenk in jene Lebensjahre, die vollkommen den Jobs gehörten. Aber Arbeitsleben ist nur ein Teil und nicht DAS LEBEN an sich. Er wusste das, war aber noch nicht bereit, die Situation irgendwie zu ändern.
Vom Gestüt kamen Feriengäste, die durch den Park spazierten und die bemerkenswerten Glasskulpturen des dorfansässigen Glaskünstlers betrachteten. Sie hatten alle einen Klappstuhl dabei und riefen dem Mann auf dem Steg zu: „Geben Sie heute das Ein-Stuhl-Konzert?“
Micha winkte lachend mit einer Verbeugung ab und verdrückte sich. Im Park stellte indes eine Handvoll Leute Windlichter in weißen Papiertüten an den Weg, der hinunter zur Konzertwiese führte. Ein Mann im Frack mit einem Cellokasten an der Hand betrat den Sandweg und grüßte flüchtig im Vorbeigehen.
Im Dorf summte der Abend. Der Wirt von der „Kleinen Schorfheide“ zündete gerade seine Feuerkörbe am Eingang zum gut besuchten Freisitz der Wirtschaft an und von der Kirche klangen helle Stimmen. Die Singgemeinschaft probte für den Pfingstgottesdienst. Nach Sonnenuntergang schwiegen endlich die unermüdlichen Rasenmäher, und von einem alten Lindenbaum flog lautlos und unbemerkt die Waldohreule auf zur nächtlichen Jagd. …
Auszug aus „Vom Duft der warmen Zeit“
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