Ein Umweltmärchen:
In der Stadt Airless lebten blass-blaue Menschen. Über ihren gigantischen Glashäusern spannte sich ein gelber Himmel, in den niemals ein Vogel aufstieg. Alles umher war ohne wirkliches Leben, nur – die Städter wussten es nicht.
Lacky raste unter einen der regenbogenfarbenen Synthetik-Bäume. Eben kickte ihr der Smogmesser am Handgelenk „Atemphase! Achtung! Atemphase!“ zu. Wer sich in Airless draußen aufhielt, musste allenthalben Sauerstoff tanken, sonst wurde demjenigen schlecht, und wenig später wuchsen ihm überall eklige, gelbe Beulen. Darauf war niemand sonderlich scharf. Das Mädchen mit den roten Plastiklocken lehnte sich an den Baum, aus dem Luft düste und atmete tief. Wie Windduschen, dachte Lacky. Doch schon signalisierte ihr der Smogmesser: „Ende der Intensivphase! Ende!“, und Lacky zog die Nase aus dem Windkanal.
Sie spähte über den weiten Platz vor ihr. Eine Menge Regenbogenbäume standen dort, der Ort jedoch gähnte menschenleer. Lacky lauschte in die Stille. Sie liebte es, besonders während der staatlich verordneten Tele-Kommunikations-Zeiten, draußen herumzutollen. Meist bekam sie deswegen Ärger. Wenn schon. Festsitzen, wie ihre fernsehgelähmten Eltern, konnte sie einfach nicht. In Airless musste niemand mehr seine Wohnung verlassen. Alle Arbeiten verrichteten Computersysteme. Auch Schulen gab es nicht mehr. Stattdessen: einsame Lehrstunden am Fernsehgerät. Mahlzeiten wählten sich die Wolkenkratzerbewohner aus Automaten-schächten, und um Bekannte zu kontaktieren, benutzte man digitale Systeme. So lebten die Menschen dieser Stadt still und leer. Es gab nichts mehr für sie zu tun. Lacky saß noch, als sich ein alter Mann im flimmernden Mittagsdunst schwerfällig über den Platz schleppte. Plötzlich taumelte er und brach zusammen. Das Kind sprang erschrocken auf und lief so schnell es konnte zu ihm. „Was ist Ihnen?“, stupste Lacky den Alten vorsichtig an. Der Mann japste nur. „Haben Sie Ihre Atempause vergessen?“ Das Mädchen blicken zwei müde Augen an: „Atempause?“ hechelte der Mann. „Was für eine Atempause? Ich atme immer, ohne Pause.“ „Sind Sie nicht aus Airless“, forschte das Kind weiter. „Nein“, brummte der Alte. Jetzt wurde Lacky nervös. „Kommen Sie. Stehen Sie auf! Wir müssen unbedingt unter einen Baum, sonst werden Sie sehr krank.“
„Ich habe keinen Baum gesehen“, blubberte der Mann schroff und röchelte schlimm. Dann hievte er sich auf, und ließ sich von dem Mädchen unter einen Regenbogenbaum schieben. Im Luftstrom wurde es dem Mann besser. „Soweit ist es also mit euch gekommen, dass ihr kitschig-bunte Sauerstoffapparate ‚Bäume‘ nennt“, grummelte er kopfschüttelnd. Lacky betrachtete staunend den Mann. Sein Gesicht kam dem Mädchen ausgesprochen merkwürdig vor. Nicht, weil es alt und faltig war. Nein, dass Rosé darin war ungewöhnlich und die kurzen, weichen Fusseln auf seinem Kopf. Sehr seltsam. „Fixier‘ mich nicht, als wäre ich ein Weltwunder. Ich bin nur Karl, ein altgewordener Wiesenmensch. Vor vielen Jahren habe ich auch in dieser Stadt gelebt. Als es hier noch echte Bäume gab. Die Luft war damals schon übel, deshalb zog ich fort“, knirschte der Mann.
„Ein Wiesenmensch? Echte Bäume?“, stammelte Lacky verdattert.
„Ach herrjemine“, stöhnte Karl. „Du weißt wohl nichts von natürlichen Dingen, was?“ „Natürliche Dinge? Natürlich, weiß ich davon!“, platzte es schulschlau aus dem Mädchen. „Natürliche Dinge sind etwas Kreuzgefährliches. Wir haben alle bekämpft. Die letzte große Schlacht soll gegen die Bäume geführt worden sein. Da war ich noch nicht geboren. Von denen kamen die Pollenwinde, verheerender als die schlimmsten Neujahrsstürme. Die Menschen sollen davon reihenweise entsetzliche Allegieren bekommen haben. Manche sind daran gestorben. Das ist jetzt vorbei.“
„Aha, das habt ihr also geglaubt“, murmelte Karl dunkel und wurde ungewollt heftiger: „Und darüber seid ihr alle Blauhäutige geworden! Die Natur schickt den Menschen ein Zeichen, auf das sie achtgeben auf ihre geschundene Umwelt. Anstatt zu verstehen, bekämpften sie lieber die Zeichensender. Selbst wenn euch die Haare ausgehen, denkt ihr nicht darüber nach. Ihr setzt euch halt nette Perücken auf. Weißt du nicht, Menschen sind nur ein Teil der Natur? Ein Teil vom Ganzen, nicht das Ganze. Merkst du nicht, dass hier etwas fehlt? Das Land aus dem ich komme, ist wieder saftig grün und duftet von allein.
Ja, und die Menschen, die es gesund pflegten sind voller Kraft und milder Güte.“ Das Mädchen starrte gebannt auf den Fremden. Solche Worte hatte es noch nie gehört. Doch der Alte schloss jäh: „Ach, was soll’s? Ich will dich nicht weiter verwirren. Du wirst nur Ärger bekommen, wenn du zu viel weißt.“ Sodann raffte er sich mit bitterer Miene und ging grußlos. Zu oft schon versuchte Karl die Airlesser für die heilenden Naturkräfte zu interessieren. Vergebens. Lacky zögerte, dann rief sie ihm lauthals hinterher: „Was ist denn Natur? Und wo leben diese Wiesenmenschen?“ Aber der Alte drehte sich nicht mehr um.
Zuhause saßen die Eltern festgenagelt vor dem Fernseher als Lacky fragte: „Was ist eigentlich außerhalb der Stadt?“
„Ein Unort, wüstes Gebiet“, antwortete der Vater, ohne den Blick von der Mattscheibe zu nehmen.
„Heißt es Wiesenland? Und duftet es von selbst“, bohrte Lacky.
Die Eltern blickten entsetzt auf. „Wer hat dir so einen Unsinn erzählt?“, fuhr der Vater hoch.
„Ein alter Mann auf dem Platz“, erwiderte Lacky ruhig.
„Diese grünen Spinner können es nicht lassen, unsere Kinder aufzuhetzen“, erregte sich der Vater.
„Alles Lüge, Kind, es gibt keine gesunde Natur mehr. Was sich vor der Stadt noch findet, ist bedrohlich für den Menschen geworden!“
Lacky stocherte beharrlich: „Warst schon einmal dort?“
„Nein. Die Stadtverwaltung hat davon abgeraten.“ Womit der Vater nicht weiter darüber sprechen wollte. Das Mädchen fühlte sich allein mit seinen Fragen, und so hallten die Worte des Wiesenmenschens in ihm nach. Die Neugier zwickte und zwackte es. Wie mag es dort aussehen? Ob es dort schöner als hier ist? Wie riecht Grün? Bei Anbruch der Dunkelheit schlich sich Lacky unbemerkt davon. Sie lief durch gespenstische Schluchten, die monströse Schatten warfen. Kein Laut, nur das Klacken ihrer flinken Schritte. Plötzlich mündete der Weg in eine Steinwand. Was verbirgt sie? Lacky’s Herz schlug laut. Sie fingerte die Mauer entlang, tastete auf einmal eine Leiter und kletterte kurzentschlossen hinauf. Unendlich aufgeregt sprang das Kind ins Ungewisse und: landete weich. Wie leise es sich auf diesem Boden ging. Da schnarrte der Smogticker „Atemphase!“ in die Finsternis. Einmal lediglich. Das verwirrte Lacky. Sie war erschöpft vom Weg und fragte sich ängstlich, ob es hier Luftduschen gibt? Dann spähte sie angestrengt in die dunkle Nacht. Dort hinten. Das sah wie der Umriss eines Baumes aus. Hastig jagte sie auf das Gebilde zu. Ganz außer Puste hockte Lacky sich an den Stamm und atmete tief. Doch was war das? Kein Luftstrom, nur ein lieblicher Duft und eine Briese, die überall, auf dem flachen Land zu spüren war. Das Kind fühlte sich gut. Die Sommernacht war mild. Der Ticker drohte nichts mehr, und Lacky fiel in tiefen Schlaf. Anderntags weckte ein vergnügtes Gezwitscher das Mädchen. Lacky blinzelte und riss blitzartig die Augen auf. Was war das für eine wunderschöne, grüne Weite?
Ein Gesumme ringsum und der Himmel? Blau? Sie schob sich den roten Plastikschopf zurecht und ging wie durch ein Märchen. Was sie sah, gefiel ihr. Umso weiter sich Lacky von der Stadt entfernte, desto höher und farbenprächtiger wurde das Grünland. Bald begegnete sie den ersten Wiesenmenschen. Sie saßen vor ihrem Holzhaus und frühstückten im Freien. Lacky war fasziniert von diesem Anblick. Die Menschen fragten nicht lange, sie wussten gleich, woher das Kind kam und luden es ein. Überhaupt redeten sie ungewöhnlich viel. Vom schönen Wetter, und dass sie Heu machen werden und sich am Abend mit anderen zum Tanz treffen wollten. Für Lacky waren alle ihre Worte fremd und sonderlich. Die Wiesen-menschen Anna und Paul erklärten nicht viel. Lacky solle zusehen, dann würde sie es schon verstehen. Und so war es.
Beim abendlichen Tanz um ein großes Lagerfeuer, zu dem Musikanten aufspielten, entdeckte Lacky Karl. Der saß mit ein paar anderen alten Zauseln zusammen und spielte Karten. Sie hockte sich mit einem vergnügten „Hallo! Da hab‘ ich dich also gefunden.“ zu ihm. Karl sah sie erstaunt an: „Wo, verdammt, kommst du denn her?“
„Na, ich wollte wissen, wie dieses Wiesenland aussieht, und da bin ich…“ „Ach herrjemine, da hab ich ja was angerichtet. Deine Eltern werden dich suchen.“
„Ich geh‘ nicht mehr zurück!“, protestierte Lacky. „Um nichts in der Welt werde ich diesen schönen Ort verlassen.“
„Das geht nicht, Mädchen“, sprach Karl behutsam. „Deine Eltern werden sich sorgen!“
„Meine Eltern haben mir nur Lügen über das Wiesenland erzählt“, schimpfte Lacky trotzig.
„Das kann schon sein“, dämpfte sie Karl. „Aber bestimmt wussten sie es nicht besser. Du hast dich hier umgesehen. Deine Stadt könnte auch wieder begrünt werden, glaube mir. Vor ein paar Jahren noch, war das hier wirklich stinkendes, giftiges Ödland. Verdorben von einer gigantischen Industrie. Einige unermüdliche Menschen haben sich hierher aufgemacht und Jahre dafür gearbeitet, das es wieder lebt. Dabei sind wir auf dieses Geheimnis gestoßen: Alles, was krank ist, braucht Fürsorge. Nicht nur die Menschen. Wer sich um die Natur bemüht, schenkt neues Leben. Der Umwelt und sich selbst.“
„Gut, aber wem soll ich das erzählen? In Airless will keiner so etwas hören. Karl, ich möchte nicht in diese kalte Stadt zurück“, drängelte Lacky. „Es ist leicht, sich ins gemachte Nest zu setzen. Baue selbst eins. Wenn du nicht reden willst, dann tu‘ einfach etwas im Stillen. Morgen bringe ich dich zurück zur Stadtgrenze, und bis dahin fällt uns auch ein, was du unternehmen kannst.“
Lacky schluchzte traurig. Aber dann beanspruchte sie Karl mit seinen Geschichten über Gräser und Wiesenblumen derart, dass der Kummer in ihr versiegte und eine unbestimmbare Lust in ihr aufstieg. Die Lust etwas selbst zu gestalten.
Am nächsten Morgen weckte sie Karl quietschvergnügt. „Ich hab’s, Mädelchen.“ Er schwenkte dazu einen prallen Beutel über ihrer Nase hin und her.
Lacky richtete sich räkelnd auf und fragte: „Was ist da drinnen?“ „Ein Beutel Wiesensaat. Lauter kleine Samenkörner, die in jeder noch so kargen Erdritze aufgehen. Du musst sie nur überall in der Stadt verstreuen, und nach ein paar Tagen gehen sie auf. Sie brauchen nur ab und zu Regen. Blühen die Gräser erst, säen sie sich wieder von selbst aus.“ Karl schaute spitzbübisch. „In deiner Stadt weiß doch keiner mehr, was das ist. Man wird die grünen Pflänzchen bewundern und nichts dagegen tun.“
Lacky war neugierig, was geschehen würde. Die zwei machten sich auf den Weg. In Airless war nicht nur die Luft dick. Durch eines der Wohnzimmer donnerte das heftige Wutgewitter zweier Eltern. Sie tobten und fragten nichts. Viele Tage durfte Lacky das Haus nicht verlassen und keiner sprach mit ihr. So saß sie mal traurig, mal trotzig auf dem Balkon und träumte sich in blühende Wiesen und seidigen Wind, als plötzlich ihr Blick auf den Balkonkästen klebte. Ob darin Erde ist? Lacky rupfte die toten Kunstblumen eilig heraus und wirklich: in den Kisten fand sich richtiger Boden. Hart wie Beton. Der aber war schnell gelockert. Darein versteckte das Mädchen eine Handvoll Wiesensamen. Die Tage vergingen träge. An dem Morgen, als die Mutter Lacky wieder freundlich grüßte, ging die Saat auf. Ein Hauch von Grün. Winziges, neues Leben für eine kahle Stadt. Das Mädchen musste sein Glück einfach mit jemandem teilen und zerrte die Eltern auf den Balkon. Da standen sie nun und hörten höchst erstaunt, was das Kind zu erzählen hatte. Indem stieg auch in ihnen eine frohe Hoffnung auf. Am nächsten Tag besuchten sie Karl zu dritt. Nun wollten auch Lackys Eltern die Stadt zu neuem Leben erwecken und nahmen reichlich Saatgut mit, das sie auf all ihren Wegen verteilten.
Wochen später grünte es zart in der ganzen Stadt, und auf Lacky’s Balkon spielte der Wind mit wilden Gräsern und rotem Mohn. Die Menschen bewunderten, was sie sahen und immer mehr fragten und erfuhren von dem genesenen Wiesenland. Karls Geheimnis war in aller Munde, als hätten die Städter nur auf so eine gute Botschaft gewartet. Viele Airlesser wanderten vor die Stadt und holten von dort junge Bäume und blühende Stauden. Es gab augenblicklich wieder viel Arbeit, und die Menschen feierten so manchen Abend auf den grünen Höfen und Plätzen lustige Feste. Ja, die Pflanzen wuchsen langsam unter dem gelben Himmel. Aber sie wuchsen, weil sich die Menschen um sie kümmerten. Und mit der Zeit, nach vielen, vielen Jahren stiegen wieder Vögel auf über Airless‘ gelüfteten Himmel.
© Petra Elsner
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