Zeitzeugen (2)

… An dieser Stelle möchte ich bis November 2014 eine Handvoll Texte vorstellen, die gelebte Deutsche Teilungsgeschichte nacherzählen. Diesmal kommt hier ein Romanauszug, der die Ereignisse rund um den 7. Oktober 1989 in der damaligen DDR aufgreift …

Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

Die Nacht: … Mittlerweile stieg in Matze Zorn auf. Er hasste diese Klagetour.
„Kannst du dich nicht einfach mal nur darüber freuen, dass ich hier bin. Musst du mich dauernd mit deinen Norm-Predigten belasten. Ich habe mich doch auch zurück gehalten, obwohl ich sah, wie du dich wieder hübsch opportunistisch eingerichtet hast. Wenn du ein schlechtes Gewissen hast, musst du dich selbst fragen: warum.“
„So, einfach freuen. Wie könnte ich das? Ich weiß nicht, wie du zurechtkommst. Ich mache mir Sorgen und dein Schweigen ist wie ein schreiender Vorwurf“, steigt die Mutter darauf ein.
„Und wenn. Vielleicht ist es einer. Drückt das dein Gewissen? Mag sein, du hast Zwänge. Aber das du die noch gutheißt, jetzt statt sozialistische, marktwirtschaftliche Verhaltensweisen preist, das kühlte mich ab. Was ich für dich tun konnte, hab‘ ich getan.“
„Ach, ja?“, fragt die Rothaarige gereizt zurück. „Was hast Duuu schon für mich getan?“
„OOh, das ist dir entgangen? Na ja, warst ziemlich zu, als man eure DDR-Gerichte schloss. Da hab ich fast jeden Abend dein Händchen gehalten und dir zugehört. Weißte nicht mehr?“ Und seit dem du wieder obenauf bist, klopfst du diese Sprüche. Ich kann’s nicht ertragen.“ Matze wurde mit jedem Wort heftiger. Nun konnte er sich nicht mehr stoppen.
„Alles wär‘ heut‘ anders! Pah! Nur anders angepasst! Wirklich toll, was du da so faselst! Das mag für solche Gewohnheits-Angepasste wie dich gelten. Aber für mich? Was weißt du denn schon“, dröhnte es aus ihm heraus. „Während du am 8. Oktober 89 morgens brav-bieder in der S-Bahn die Zeitung aufgeschlagen hast, und dich vielleicht noch über die Krawalltypen mokiertest, ist dir da nicht die Frage in den Sinn gekommen, was das für junge Leute sind? Wo sie herkamen? Kannst du dir vorstellen, was ihnen in jener Nacht widerfuhr? Hast du nur einmal deinen Schatten übersprungen und wolltest es wirklich wissen? In die Gedächtnisprotokolle der Inhaftierten konnte man ein paar Wochen später im Ausstellungszentrum am Fernsehturm einsehen. Warst du da? Was meinst du, wie es jetzt in denen aussieht, und was die für ne Lust haben, sich anzupassen.“
„Was schreist du denn so, Junge?“, unterbricht sie ihn verletzt und erschrocken. „Warum sollte ich denn? Waren doch, wie sich heute herausstellt, alles Traumtänzer. Ist Geschichte. Vorbei. Und was erregt dich das heute noch?“
„Weil ich auch dabei war“, gibt Matze kaum hörbar, aber erlösend von sich.
Die Mutter saß mit aufgerissenen Augen und halb geöffnetem Mund, in dem das Entsetzen steckenblieb. Und weil sie still war, sprach er langsam weiter:
„Du weißt gar nichts und ich glaube, du wolltest auch nicht behelligt werden. Ja, ich war damals im ersten Studienjahr und schlief ab und zu auswärts. Aber es hat dich ja nicht einmal stutzig gemacht, dass ich gerade in diesen heißen Tagen nicht nach Hause kam. Dann war da die Frau-Freundin, und das war dir Erklärung genug. Hast du nicht gesehen, dass ich mich verändert hatte. Oder meintest du wirklich, Liebe macht so krank und hart, wie ich damals war? Nichts kam dir in den Sinn, und ich habe dir zuerst wegen deiner Position bei Gericht nichts gesagt. Ich wollte dich nicht ängstigen und noch mehr verunsichern. Es war ja in den paar Tagen nicht klar, ob es Folgen haben würde. Niemand wusste, wie das ausgeht. Niemand. Und später konnte ich es einfach nicht mehr aus dem Ärmel schütteln. Die ganze Wandlizscheiße, die unzähligen moralischen Verfehlungen, die da jeden Tag hochkamen und die Gemüter erhitzten. Dein Mitläufertum, ich wollte dir das bei all deinen Existenzängsten nicht auch noch aufdrücken. Aber dein unbekümmerter Übergang nach ein paar Wochen, den hab ich kaum ertragen, als hättest du nichts verloren.“
Matze versucht, seine vor Erregung zitternden Hände vor ihr unter dem ornamentenschweren Tischtuch zu verbergen. Indem richtet er die schmalen Schultern nach vorn und beginnt sich ruhig zu reden:

„Wir, ein paar Kumpels, waren an diesem Abend einfach unterwegs. Ein Feiertag – wie ein verkehrter Ball. Überall knisterte es. Du weißt ja, viele Leute saßen auf gepackten Koffern nach Prag und Budapest und wie viele schon weg waren. Es hatte sich herumgesprochen, dass abends in Alex-Nähe etwas losgehen würde, was die obskure Situation bloßlegt. An der Humboldt-Uni brodelte es: Illegale Treffs. Wir wollten Studentenräte bilden. Es ging uns um Mitsprache und gewerkschaftliche Vertretung. Die Strukturen der FDJ taugten nicht dafür. Aber der Zentralrat wehrte sich noch bissig. Die Rädelsführer der Studenten wurden beobachtet. Man versuchte uns von den anderen zu isolieren, drohte mit Exmatrikulation. Wir waren hoch politisiert. An jenem Abend am Alex aber, gehörten wir nicht zu den Akteuren, waren einfach mal nur neugierig und dann plötzlich mittendrin in dem Schlamassel: Auf der Seite der Demonstranten Freiheit-Rufe und auf der Front der Bullen große Technik und Schlagstöcke. Die bekamen wir augenblicklich zu spüren. In Nullkommanichts wurde ich mit vielen auf so nen Laster verfrachtet. Meine Kumpel konnten entkommen. Die Bullen griffen alle, die sie kriegen konnten. Auch Passanten. Mir gegenüber kauerte eine junge Frau. Die machte sich heulend gerade und schrie: `Seid ihr verrückt, das ist ja wie ein Alptraum, ihr sperrt die eigenen Leute ein – Genossen!‘ Ein Schlagstock flog ihr über den Schädel. Sie presste ihre Hände auf den Schmerz und wimmerte nur noch, ‚Das kann doch alles nicht wahr sein‘. Über das, was dann kam, kann ich immer noch nicht richtig reden. Während ich an der Wand in irgend so einer Großgarage mit gespreizten Beinen und Armen die Nacht durch stand, waren meine Kumpels bei Lisa. Sie klopften sie um ein Uhr morgens heraus, und verschafften sich mit dem dramatischen Satz ‚Matze ist verhaftet!‘ Einlass. Lisa war in Pankow Pionierleiterin. Jo’s kleiner Bruder war in ihrer Gruppe. Jo, das ist einer meiner Freunde noch aus Pankow. Erinnerst du dich noch an ihn? Na, egal. Im Sommer trafen wir die Frau zufällig im Bürgerpark und quatschten lange miteinander über neue Strukturen für mehr Demokratie, Schichtenparlamente und so. Sie lud uns zum Tee ein, und seitdem waren wir oft bei ihr, um über Problemen zu brüten. In ihrer Angst wussten meine Leute nicht wohin. Sie hofften, dass Lisa helfen könnte. Als Genossin – vielleicht. Sie soll da im Nachthemd gestanden haben, ganz ungläubig. Dachte, die Jungs übertreiben. So was tun ihre Leute nicht. Dann sind sie losgelaufen. Erst zu uns in die Florastraße. Sie haben sich am Sims hochgezogen und schauten in mein Zimmerfenster. Das Bett war leer. Erst jetzt begann Lisa die Sache ernst zu nehmen. Diese Nacht hat ihr Leben erschüttert. Alles, woran sie glaubte. Sie stand in einer Telefonzelle und hat Polizeireviere angerufen und sich als meine Mutter ausgegeben. Hörte, wie sie in Listen blättern und sagten: ‚Nein, hier nicht! Warten Sie ab. Sie bekommen Bescheid.‘ Sie hasteten nach zwei Stunden zurück zu meinem Fenster. Nichts. Jo und Chris sind ihr dann nicht mehr von der Seite gewichen und Lisa spürte in der wahnwitzigen Forderung meiner Kumpel: ‚Wir müssen ihn da rausholen‘ ihre Verantwortung. Zuletzt waren sie alle nur noch von Ohnmacht gedrückt. Lisa war erschüttert und das trieb sie an, sich um die jungen Leute dieser Nacht zu kümmern. Zusammen mit der Jugendfürsorge hat sie im Jugendklub eine ‚Sprechstunde des Vertrauens‘ eingerichtet, damit solche wie ich ihren Schock verarbeiten können. Ich kam vier Tage später aus dem Knast. Frag‘ nicht wie. Ich hatte echt ’nen Knacks weg. Ich war doch kein Staatsfeind, aber man verfuhr mit mir so. Zuerst ging ich zu Jo. Der mir das alles erzählte und danach brachen wir zu Lisa auf. Dort blieb ich. Eine Woche hab ich mich nicht aus der Bude gewagt. Ich war total verstört. Irgendwann nachts ist Lisa in das Gästezimmer gekommen, hat meine Hand genommen und sie unter ihren Bademantel rumgeführt. Am Morgen danach floss wieder Blut in mir, und ich konnte nach Hause gehen. – Das ist zwei Jahre her.“
Matze räuspert sich, und er sagt nur noch: „Wir leben nicht mehr miteinander, aber ich bin noch ab und zu bei ihr – zum Reden …

© Petra Elsner

Cover
Cover

(Auszug aus: „Glatze & Palituch“, der Roman erschien 1993 bei  Delfini in Athen (in Griechischer Sprache)

Nächtlicher Flugversuch

Mit geborgten Flügeln abheben,
um dem Moloch ohne Himmel zu entfliehen.
„Nicht zu hoch und nicht zu tief segeln“
raunt eine alte Stimme dem Stadt-Ikarus zu.
Er kommt nicht sehr weit,
denn im Morgengrauen muss er
das mystische Lichtgewebe der Nacht zurückgeben.

© Petra Elsner

"Feuer" auf Leinwand von Petra Elsner
„Feuer“ auf Leinwand von Petra Elsner

Zeichenarbeit: Schräge Vögel auf der Draisine

Heute mal ohne viel Worte, denn ich zeichne. Meine schrägen Vögel werden diesmal auf zwei roten Draisinen  unterwegs sein.

Breistiftzeichnung Foto: pe
Bleistiftzeichnung
Foto: pe
... die Frabe kommt ...
… die Farbe kommt …

und ein Tag später ist es fertig:

Schräge Vögel auf der Draisine Zeichnung: Petra Elsner
Schräge Vögel auf der Draisine
Zeichnung: Petra Elsner

Die Renft-Legende: Zeitzeugen

25 Jahre wird es am 9. November 2014 her sein, dass die Mauer in Deutschland fiel. An dieser Stelle möchte ich bis November eine Handvoll Texte vorstellen, die gelebte Deutsche Teilungsgeschichte auf die eine oder andere Weise nacherzählen. Einige dieser Geschichten oder Betrachtungen sind schon vor 20 Jahren von mir niedergeschrieben worden. Weil sie authentisch sind, ziehe ich sie wieder hervor. Manch Protagonist ist inzwischen gestorben, aber was ihnen geschah, soll nicht vergessen sein.

"Ich" - Selbstbildnis von Klaus Renft in Öl Repro: Petra Elsner
„Ich“ – Selbstbildnis von Klaus Renft in Öl
Repro: Petra Elsner

Die Renft-Legende:
Die Legende döste unerkannt am Stammtisch der Berliner Szenekneipe „Lampion“. Die zwei Frauen gegenüber dem biermüden Manne lösten sich gerade aus ihrem Gespräch. Ihre Blicke streifen den zausligen Typen, der weit über seinen Tages-Zenit war. Fast sanftmütig fragte die eine: „Und, wer bist Du?“ Der Mann wuchs ein Stück gerader, deutete ausladend mit der Linken über den Schriftzug seines verschwitzten Rocker-T-Shirts. Darauf prankte grell „The Doors“. „Ach, spinn´ nicht“, winkte die Frau ab. „Wer bist ´n wirklich?“ Der vorwitzige Glanz verschwand aus den braunen Augenschlitzen des Mannes, der indem wieder zusammensank. Zugleich, kaum hörbar, sprach es aus ihm: „Ich bin Renft. Klaus Renft.“ Die Frauen kneisteten ihre Pupillen, als wollten sie sie scharf stellen. Nein, der Typ da soll Renft sein? Ihr Zweifel äußerte sich hochgradig explosiv: „Eh, red´ keinen Quatsch. Renft, das ist ´ne Legende. Mit so was macht man keinen Scheiß´!“ Der Mann namens Renft hatte einigermaßen Mühe, den späten Mädchen am Tisch glaubhaft zu machen, dass er nicht hochstapelte. Kein Einzelfall. 1990, als Renft nach 16 Jahren wieder in Berlin-Ost auftauchte, hatten ihm Männer im „Bärenquell“ auf der Friedrichstraße ernsthaft Keile angeboten, als er sich vorstellte. Die gealterte Legende passte nicht ins Bild, und er, Klaus Renft, wusste nichts, gar nichts von dem Mythos, der nach seiner Ausreise 1976 unter der Käseglocke DDR entstanden war. Nicht ohne Stolz, klar, entdeckte der jahrelang verhinderte Profi-Bassmann das Phänomen, doch es traf ihn fassungslos.
Der Mann grübelt heute noch, wie es dazu kam. „Kann sein“, bedenkt er sich, „weil wir von der Basis kamen, ein nicht zu berechnender Sauhaufen waren, der sich nicht zähmen und instrumentalisieren ließ und schließlich verboten wurde.“
Unantastbar wurden mit der Ausreise von Renft und Monster die Songs und standen für unbeugsamen Rocker-Trotz. Ihre wohlbehüteten Plattenkonserven waren fortan für viele junge Leute in der DDR Begleitmusik der inneren Emigration, und sei es nur für Stunden. Etwas in der Art war wohl der Boden, aus dem schließlich der Renft-Mythos kroch.
Die DDR-Geschichte von Klaus Renft ist die Geschichte von Berufsverboten. Alles begann harmlos in einem thüringischen Dorf mit familiärer Hausmusik. 1952 mit dem Umzug nach Leipzig kommt der Junge mit Jazz in Berührung. Er schwärmte für Big-Bands. Die ersten Schlagzeugbecken verdiente er sich mit kartoffellesen. 99 Pfennige die Stunde. 1957, mit Fünfzehn, gründete er seine erste Band, die „Kolibris“. Ein Bassist wurde gebraucht. Wieder Ferienarbeit für einen Kontrabass. Nach der Schule die Tischlerlehre und ab Mai 1958 spielt ein „Klaus-Renft-Quartett“. „Renft“ leiht sich ahnungsreich den Mädchennamen der Mutter. Für Uneingeweihte: bürgerlich läuft der Rocker unter dem Namen „Jentzsch“. Erst Jahre darauf wird er, Kind einer Kriegsliebe, in seiner Geburtsurkunde statt Jentzsch Renft lesen. Kein Drama, der junge Mann weiß in jenen Tagen schon Leidenschaften zu schätzen. Nur vier-, fünfmal spielte das „Renft-Quartett“ und wurde wegen Verbreitung von Schund und Schmutz verboten. Sie hatten amerikanische Blues-Rock-Sounds nachgespielt, das reichte. Es wird zukünftig sein Schicksal sein, gleich einem Steh-auf-Männchen neue Rockgruppen nach deren Verboten wie Phönixe aus dem Boden zu stampfen. Mit unerschütterlichen Mumm und Dreist sein. Das Feeling musikalische Begabungen auszugraben, zuzulassen, das war sein Part, während die Sänger Monster, Cäsar… ins Rampenlicht rückten. „Sänger, hm“, sinniert er heute ein bisschen neidisch, „die tragen die Band nach außen.“ Was soll´s, ein Bassist hat halt mehr Schattenseite. Verhängnisvoller ist wohl, alle seine Bands „neutralisierte“ die Stasi: die „Buttlers“, das „Ulf-Willi-Quintett“, „Progressiv“ und schließlich DIE „Klaus-Renft-Combo“, die an der Wiege der Deutsch-Rocker-Welle stand. Lieder voller Poesie und Ironie, Bisse in den schalen Tag und unvergessene Songs für DEFA-Filme und vor allem – Dauerzoff. Die „Renft-Combo“ lebte in einer ständigen nervenzerfetzenden Zerreißprobe: Rivalitäten, Flügelkämpfe, Streit um Ansprüche, jede Lied-Zeile ein Krieg – heute noch, bzw. nach 16 Jahren Zwangspause wieder.
„Ich hab zum 31.12.94 bei Renft gekündigt“, prustet er vor seinem schmucklosen Kamin. Haucht sich wärmend in die Hände und lugt mephistohaft auf die Reporterin. „Na, und am 1.1. fang´ ich wieder an“, witzelt kiebig. Dann schlürft er einen gigantischen Schluck aus der Bierbüchse – gegen den Frust, der bitter hinter der Pose steckt und schiebt mit dem Fuß zwei anderthalb Meter lange Bretter weiter in die Feuerstätte. Aus der monströsen Studioanlage schreicheln Schnulzen sein angekratztes Gemüt. Die mag der derbe Rockerzausel – zu Erholung zwischen den anstrengenden Auftrittsreisen, den Problemen, dem alltäglichen Zoff. Der Mann wirkt müde, aber die alte Lust ist nicht still zu kriegen, freut er sich. Die Gier nach einem harten Sound, einem vollen Leben, den Frauen, dem Alk´ treibt den gerade wieder frischen Papa.
In Krisen konnte der Vollblut-Rocker immer die eine oder andere Wut auf der Bühne rauslassen. Ohne Band war es in den Endsiebzigern schwerer. Damals, als seine Ehe mit Angelika, einer schönen Griechin, kriselte. Renft begann sich malend zu entäußern. Abschalten, vergessen und auch klar sehen, eine Freiheit im Kopf schaffen. Alles, was sich in ihm staute, bannte er in seinem Küchenatelier auf Malgründe. Mit hausgemachten Techniken bewegt der Wandler zwischen expressionistischen Ausbrüchen und Konzeptphasen seither, wenn er kann, politische Themen und den Dauerrenner seines Lebens: Sex und Alkohol. Der Mann liebt knallige rot-gelb Töne, schafft intensive, sprechende Kompositionen mittels Öl, Aquarell, Sprühdosen oder einfach Filzstiften. Ein respektables Werkschaffen, das auch Käufer findet.
Jetzt schauen seine Bilder „Gebrüder Aids“, „Schenkelparty“, „Kühle Schöne“… reihenweise stumm, wenn er hier in der Ansbacher Straße in den Zeugnissen zu seinem Berufsverbot auf Lebenszeit versinkt. Er hockt kopfschüttelnd über Bergen von Stasiakten. Da ist Zorn, Entsetzen, Verwirrung, Zweifel und auch Milde in ihm. Zersetzende Papierberge gegen eine Band. Das Material ist noch nicht komplett. „Und vorher“, besteht Renft, “ wird nicht getönt“. Man glaubt es kaum, dass das Finden von Aktenwahrheiten zum Geldproblem gerät, denn die Stapel sind derart gigantisch, dass Renft nur in Intervallen die Kopierkosten in der Gauck-Behörde aufbringen kann.
Zur Erinnerung, was diesem Bassmann, der kein Sänger ist und ohne Band also gar nichts anstellen kann, letztlich das Leben zerschnitt:
Wir schreiben das Jahr 1975. Bei einem Konzert in der Schönefelder Bahnhofshalle teilt man der „Renft-Combo“ mit, anderntags hätten sie um 10 Uhr morgens in Leipzig zur Einstufung anzutreten. „Das war ungewöhnlich“, rekapituliert der Mann nicht emotionslos. „Die frühe Stunde und, dass sie die Fans nicht zuließen, machte mich misstrauisch. Ich packte mein Mitschnittgerät ein und ließ es beim Termin empfangsbereit zwischen mich und den Bass rutschen. Die Vollstreckerin Ölschlägel verkündete das Berufsverbot. Förder-Instrumente wurden beschlagnahmt. Der Mitschnitt wurde später so etwas wie eine persönliche Sicherheit, die ich beim ZDF parken ließ. Aber erst einmal packten wir wütend unsere privaten Gitarren ein und wollten spontan auf den Sachsenplatz ziehen und ein improvisiertes Konzert geben. Kaum waren wir draußen, im Ratskeller, da wussten die Stasi-Typen schon von unserem Plan. Major Fritsche von der K trat plötzlich an unseren Tisch und forderte mich auf, ihm auf zwanzig Minuten zu folgen. Meine Jungs stellten sich vor mich, wollten mich schützen. Der K-Mann bot ihnen als Sicherheit für meine Rückkehr einen anderen Genossen als Pfand. Ich wurde durch einen Säulengang ins Oberbürgermeisterzimmer geführt. Dort musste ich ein Schriftstück unterzeichnen, dass ich keinerlei Provokationen vornehme und ein eventuell geplantes Konzert auf dem Sachsenplatz unterlasse. Wie die bandinterne Info dorthin kam – schön nicht?“
Er fingert noch und nöcher Dokumente heraus, redet sich unterdessen in Rage, die Vergangenheit züngelt an seinem Temperament und lädiert ihm die Nerven. „Und eigentlich hatte ich nach meiner Ausreise mit alle dem abgeschlossen“, stockt er dann urplötzlich, dreht die Schnulzen ab und legt alte Renft-Aufnahmen auf. „Irgendwann muss jeder mal, raus aus seiner Haut…“ Die Legende weht wieder durchs Studio-Galerie-Zimmer, wie in DDR-Konserven-Tagen.
Im Mai 1976 reiste Klaus Renft-Jentzsch in den Westen aus. Er jobbte beim RIAS als Musikredakteur. Sammelt Folklore in ganz Europa für die Sendereihe Kunstkopfstudio. Später wird er im Renaissance-Theater als Tontechniker beschäftigt. Das wär´s wohl gewesen. Zum Spaß spielt er noch mit ein paar Leutchen irische Folklore. Seine Rockmusik war mit der Renft-Band verstummt. Ein Konzert mit Monster und Hansi Biebel im „Quartier Latent“ floppt unter eingeschleusten Stasi-Buhrufen. Aber das wissen sie erst heute. Damals gaben sie weitere gemeinsame Unterfangen auf.
Fraglos, die Wende brachte für die „Renft-Combo“ eine neuerliche Chance. Seit 1990 touren sie wieder zwischen Liebe und Zorn: Lutz (Sauerkraut) Heinrich, Peter (Pjotr) Kschentz, Thomas (Monster) Schoppe, Robert (Golis) Hoffmann, Heinz Prüfer, Detta Herms und Renft. Und logisch, die internen Flügelkämpfe lodern wieder. Immer mal wieder kündigt einer, wird gefeuert und zurückgeholt. Die neue Songs sind wie eh und je provokant, ehrlich, poetisch, hintersinnig in ihren Texten und unverwechselbar in ihrem urwüchsigen Sound, als gäbe es da keine Zwangspause. Am 3.10. 1994 entschuldigte sich die PDS bei den Alt-Rockern für das ihnen zugefügte SED-Unrecht. Ein Happy End? Bei Renft´s keine alten Zeiten …
© Petra Elsner

Klaus Renft ist am 9. Oktober 2006 verstorben.

Dorfgeflüster: Neujahrsfeuer

Gesundes neues Jahr Euch allen und Friede auf Erden!

Kurtschlager Dorfkirche Foto: Lutz Reinhardt
Kurtschlager Dorfkirche
Foto: Lutz Reinhardt

Wir erlebten unerwartet zauberhafte, nächtliche Begegnungen. Unser Nachbar hatte sein mobiles Lagerfeuer scharf gemacht (in einem eisernen Schubkarren, in dem eine Waschkesselschale von anno Knips saß. Das Rad für den Karren war einst ein Waschmaschinenantrieb, ein bereiftes würde der Hitze nicht standhalten), und uns zur Mitternacht zum Glühwein daran eingeladen. Das Feuer wollte anfangs nicht so richtig züngeln und umhüllte den Schiebenden vollkommen in geisterhaftem Rauch. An der Kirche stoppte die kleine Gesellschaft, denn einer der Männer war mit Auftrag unterwegs: Er stieg in den Kirchturm und läutete schnaufend das neue Jahr ein. Raureif betupfte die Landschaft puderzuckerartig und ringsum zischten üppig die Raketen in den sternenklaren Nachthimmel. Unten am Fließ loderte ein zweites Feuer. Dorthin zogen wir und trafen auf eine große, heitere Runde. Das Dorf hatte sich in diesem Dezember mehrfach überrascht: Mit Turmblasen und Adventsfeuer an der von uns allen geschmückten Tanne und nun dieses Neujahrsfeuer. Man sah die Freude darüber in den Gesichtern, denn all das hat es noch nie in unserem Schorfheidedorf gegeben. Aber man ist sich darüber einig: Das wird nächstes Jahr wieder so sein – wie wunderbar! (pe)

Orakelstunden

… das neue Jahr kommt auf flinken Sohnen…

Himmlischer Bote Zeichnung: Petra Elsner
Himmlischer Bote
Zeichnung: Petra Elsner

Behütete Sprüche:
Der Wechsel des Jahres ist fast überall unüberhörbar. Schon die alten Germanen benutzten Rasseln, Dreschflegel und Peitschen als lärmende Instrumente, um in der Neujahrsnacht böse Geister zu vertreiben. Im Mittelalter besorgten Kirchenglocken oder Pauken und Trompeten dieses Ansinnen. Doch seit in der Renaissance das Schwarzpulver erfunden wurde, wird in jener Nacht mehr oder weniger scharf geschossen. Aus Aberglaube, Freude oder Zukunftsangst – sei mal dahingestellt.
In meiner Familie wird in jenen Krawallnächten lieber ein kleines, knisterndes  Neujahrsfeuer entzündet. Man steht da besinnlich mit seinem Glühwein im Feuerschein und spürt den Atem der Zeit. Was wird das neue Jahr bringen?
Mit dieser Frage beginnen nach dem erleuchteten Himmel überall die spielerischen Orakelstunden: Mit Bleigießen, Zwiebelorakel, Glücksgreifen oder dem Gummibärchenorakel. Wir unterhalten uns immer mal wieder mit den „Hutweisheiten“ aus dem Vorjahr. Und das geht so: Jeder bekommt einen Zettel mit einer oder mehreren Fragen. Private oder politische. Zum Beispiel: „Wie lange hält die GROKO?“ Die beantwortet jeder geheim, schreibt seinen Namen dazu und steckt den gefalteten Zettel in einen Sammelhut.
Der eigentliche Spaß beginnt im Grunde erst zum folgenden Silvester-Neujahrs-Fest (aber irgendwann muss man halt damit einfach beginnen). Wenn nämlich die  aufbewahrten Unkensprüche gelüftet werden, kommt manch herzhaftes Gelächter und zwangsläufig eine Unterhaltung auf, was ja auch schon etwas Wünschenswertes ist. (pe)

Zum Jahreswechsel möchte ich allen Besuchern / Lesern dieses Blogs vielen Dank sagen,  für die mir geschenkte Zeit und Zuwendung.
Möge 2014  für uns alle ein glückreiches Jahr werden!

Petra Elsner aus dem Schorfheidewald

Schutzzeichen von Petra Elsner
Schutzzeichen
von Petra Elsner

Werknotiz: Nächtliche Maskerade oder der Schlüssel zum Mut

Mein Bild „Nächtliche Maskerade“ ist meine Phantasie auf die Schau „Alegria“ des CIRQUE DU SOLEIL. Die Karten zu dieser Europatour waren erheblich, und ich konnte sie mir damals einfach nicht leisten. Ein Freund meiner Bilder kam eines Tages zu mir und suchte sich im Atelier ein Bild für seine Liebste aus. Ein kleines, und weil er schon etliche Arbeiten bei mir erworben hatte und selbst gerade von der Steuer geschröpft war, habe ich ihm das Objekt seiner Begierde geschenkt. Wir sprachen dabei beiläufig über „Alegria“ und meine Neugier darauf. Irgendwie konnte er mein Geschenk dann doch nicht so recht annehmen. Anderentags steckten zwei Karten in meinem Briefkasten, und ich war voller Freude. Ich habe niemals zuvor so eine hinreißende Mischung aus Artistik, Tanz, Theater und Show gesehen. Und die nie abtretenden Narren waren das Allerbeste dabei. Sie spielten das Spiel: Wenn ich ein König wäre, bräuchte ich einen Narren. Natürlich wäre dann der Narr des Narrenkönigs Inbegriff des Narrseins. Und beider Narrheit mündete in Weisheit … Diese Phantasie habe ich versucht in meinem Bild, das ich nach diesem Erlebnis unbedingt entwickeln und malen musste, einzufangen und auch das Motto des Stücks: „Wenn du keine Stimme hast, schrei, wenn du keine Beine hast, lauf, wenn du keine Hoffnung hast, träum.“

Es war die Zeit (1998) tiefster Rezession in Berlin, und den Künstlern ging es seinerzeit eben nicht gut. Dieses Bild war für mich gewissermaßen der Schlüssel zum Mut. Sich in dürren Zeiten nicht unterkriegen zu lassen.

Nächtliche Maserade Öl auf Leinwand von Petra Elsner
Nächtliche Maskerade
Öl auf Leinwand von
Petra Elsner

Die Gingofrau

Aus gegebenem Anlass, weil meine Freundin Trilli schon wieder einmal das Quartier wechselt (17489 Greifswald, Domstraße 13) und man/frau sie darüber nicht vergisst (inzwischen ist sie in Erfurt…),
stelle ich hier mal ein Porträt von Ihr vor, dass aus unserer Berliner Zeit stammt:

Gabriele Trillhaase Foto: Petra Elsner
Gabriele Trillhaase
Foto: Petra Elsner

Die Ginkgofrau weht ein rauer Wind ins Café. Sie raucht einen dieser krummen Zigarillos, die an Wurzelwerk erinnern. Nach dem animalischen Arbeiten an einer Lederhaut, muss sie erst einmal abschlaffen. Den Rausch verschnaufen. Die Spiegelbilder von Gabriele Trillhaase sind Abbilder ihres Seins: naiv-sinnlich-erotisch. Die blinken und funkeln aus dem samtigen Grün-Braun-Blutrot, als sängen sie mal laut, mal ganz leise: „Sieh in Dein Selbst.“ Ja, auf die stimmigen Kompositionen ist die Trillhaase mit Recht stolz. Aber zu ihren Kritzeleien meint sie ganz ungeniert: „Ah, was sie bedeuten? Lauter kleine Pimmelmännchen.“ Sie bestellt einen Schoppen Weißen und erklärt dann doch näher: „Die geritzten Zeichnungen sind gewollte leichte Natürlichkeit. Ein Abarbeiten, um zu verstehen. Ich bin zwar ein friedlicher Mensch, aber ich werde dennoch konfrontiert mit: Einsamkeit, Alkoholismus, Gewalt, Neid, Missgunst oder mit meiner eigenen Geilheit. Ich will wissen, wie kommt das. Wenn ich’s verstehe, bin ich ruhiger und kann damit umgehen.“
Die Frau nippt am Wein und fragt mich: „Kennst Du schon meinen Ginkgo-Engel? Nein? Musst Du Dir ansehen. Gestern hab’ ich ihn abends auf der Husemannstraße postiert. Darüber einen Scheinwerfer. Ich wollte sehen was passiert. Aber es war nicht viel. Ich saß in dem Flutlicht wie unter einer Glocke und die Vorbeigehenden dachten: Dort dreht man wieder einen Film. Und wollten nicht stören. Dumm gelaufen.“ Die begehrte Sonnabendnacht auf der ächzenden Touri-Meile des Berliner Prenzlauer Berges ist vorbei und damit ein mögliches Geschäft. Sie schmaucht gelassen an ihrem Zigarillo, wirkt dabei wie die Dietrich, so herb-verführerisch-schön. Trilli weiß um ihre Wirkung. Und wenn jemand bei einem Fest darum bittet: „Ach sing uns doch ein paar Lieder von der Liebe“, dann holt sie spontan eine weiße Boa und den Kassettenrecorder herbei und verbreitet ein Glücksgefühl. Die Träumerin wandelt sich indem zum verführerischen Vamp. Süße Spätlese von Ende 40. Ihr Hunger auf Leute und kreative Suche halten sie jung und in Atem.
Anderntags. In der Husemannstraße 7 im Hof unterhält die Ginkgo-Frau ihr Atelier. Es riecht süßlich nach Leder und Salmiakbeize. Ernste Musik erfüllt kathedralenhaft die anderthalb Räume. Sinne fluten gehört zum Wachsein der Frau. Das war keineswegs immer so. Vorzeiten, in Erfurt, führte sie noch ein zufriedenes, bequemes Leben ohne Eigenart. Elektroingenieurin war sie, während ihr Mann mit der Folkgruppe „Brummtopf“ aufspielte. Sein Freitod riss sie 1983 aus ihrem Frieden. Diese bunkernde Lebenswunde trieb die Schöne mit zwei kleinen Töchtern in ein nachdenkliches Alleinsein, aus deren Schmerz mit der Zeit Schmuckstücke wuchsen: Ketten, Broschen, Reifen. Das erste Eigene. Gleich nach der Wende schon wieder passé und, inzwischen in Berlin, schon wieder die Frage. Wovon nun leben? Sie stieß auf das Ginkgomotiv und eine neue Idee: Spiegel und Leder. Ein Kontrastprogramm aus hart und weich, keimte in winzigen Augenspiegeln. Jedes Detail ein aufwendiges Einzelstück. Aber Erwerbszwänge und die bittere Erkenntnis: Du musst billiger werden nötigten sie sehr bald zur Serienfertigung mit drei Stanzeisen. Finanziell ging es nun besser. Doch: jemand hinterfragte den Stolz der Kleinproduzentin: „Und was bitte, ist mit deiner Kreativität?“ Das gab tief innen einen Stich.
Seit 1991 sprudeln nun auch großformatige Arbeiten aus Trillis Phantasie. Sie schaut auf ihren Ginkgo-Engel. Mannsgroß ist das bizarre Sinnbild karibischer Lust. Ginkgoblätter symbolisieren für die Kunsthandwerkerin: „Liebe und Zweisamkeit. Man weiß eben nicht, ob es Eins ist, das sich in zwei teilt, oder zwei, die sich in eins verbinden…“ Mit diesen fächerartigen Blättern der japanischen Silberaprikose hat sie es andauernd. Und Leute, die ihre Ledervarianten mögen, sterben nicht aus. Seit einem Jahr fertigt eine geschützte Werkstatt den zeitlosen Trillhaase-Schmuck. Auch eine Marktfrau wird indes davon satt. Trilli organisiert den Vertrieb, entwickelt neue Stücke und nimmt sich wieder Zeit für große Spiegel-Bilder. Farbenreiche, überschäumende Lebensschreie oder samtige Ruhebilder.
Sie erzählt von ihrem Schaffensgenuss: „Da liegt so eine Kuh, eine große wertvolle Haut vor mir und ich muss mich entscheiden. Wie ein Bildhauer seinen Stein beschlägt. Sobald ich die Aale draufsetze, ist die Linie vorgegeben, unveränderlich. Das ist eine schöne Herausforderung.“
Vom Schneidplatz wechseln wir hinüber in die alte Küche, die heute als Färberei dient. Zwischen gestapelten Töpfen erklärt sie weiter: „Sind die Linien geschnitten, werden die Ornamente, Figuren oder Linien mit Tuschen nachgezeichnet oder gefüllt. Zuletzt kommt ganz normale Holzbeize drauf. Die vermischt sich, die verschwimmt wie ein Aquarell. Oft mache ich Sachen unbewusst und begreife erst hinterher, was da passiert ist. Bei der jüngsten Ausstellung in Templin beispielsweise erfuhr ich, warum ich dunkle Spiegel-Bilder mache: Es war natürlich eins mit Ginkgomotiv. Das dunkle Leder hat etwas Sanftes. Eine Frau tritt davor und sagt: ‘Zum ersten Mal schaue ich beruhigt in einen Spiegel.’ In diesem Werk ist meine Sehnsucht nach Harmonie aufgegangen. Und das ist für mich Erfolg: Anzukommen.“
Sie hält es mit dem Spruch von Böll „Mit Ungeduld auf Geduld setzen.“ Seit die Ginkgo-Frau lernte, den Dingen (nicht untätig) Zeit zu lassen, wuchsen aus ihr unverwechselbare Schmuck- und Beziehungsstücke. Winzige „Selbstbewusstseinsspiegel“ beispielsweise mit liebevollen Texten. „Die großen Spiegel und Spiegel-Bilder“, verrät sie zuletzt, „ergaben sich mit der Zeit aus den kleinen“.

Winter-Melancholie

360., 361. … Tag des Jahres. Von Laternenlicht zu Laternenlicht huscht eine Mädchengestalt über den Straßenasphalt. Sie singt hemmungslos traurig eine portugiesische Weise, die dreht sich und kreiselt wie ein welkes Herbstblatt, kommt mal laut, mal leise – gleich einem Echo – zurück. Da ist sie plötzlich, diese immer wiederkehrende November-Dezember-Melancholie, die die meisten irgendwann in dieser Zeit befällt. Ja, vor das schönste Fest im Lande hat das Jahr Nebelvorhänge gewebt. Die müssen durchschritten werden, so oder so. Und wenn das milde Wetter in den Dezember zieht, tanzt die Nebelfee selbst zum Weihnachtsfest ein Düsterlied. Wer sich dann dem Anflug von Winterdepression nicht ergeben möchte, steuert jetzt gegen: Die einen haben (vielleicht deswegen) seit dem 11. 11. rote Pappnasen auf, andere rennen ins Sonnenstudio, doch manche hat schon die erste Erkältung niedergestreckt. Mit der gefühlten Nasenlänge eines Ameisenbärs wird die Laune auf der Liege auch nicht besser. Zeit für ein echtes Aufbauprogramm: Johanneskraut, Zimt, Lichttherapiegerät, Vitamine … es gibt unendlich viele Variationen.
Mein Gute-Laune-Programm kostet nichts. Es schlummert in einem Schuhkarton. Darin lagern wüst: Briefe, ausgedruckte Mails, Rezepte, Ideenskelette, Kneipen-Mitteilungen, abgerissene Eintrittskarten, Skizzen – gewissermaßen die Freizeit und die Kontakte des Jahres, und eben alles, was menschlich wichtig ist und Bedenkzeit fordert. Immer an einem Schlecht-Drauf-November-Dezember-Abend krame ich mir diese Sammel-Box des Jahres hervor, schmökere und staune, sortiere und hefte schließlich das Ganze zu einem Band mit dem diesmaligen Namen „2013“. Beim nachblättern bemerke ich schlussendlich – kein so schlechtes Jahr (unterwegs, gehetzt vom Tag, war mir das gar nicht aufgefallen) und: ich lächele …

Stimmung Zeichnung : Petra Elsner
Stimmung
Zeichnung : Petra Elsner