Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (3)

… Der Tag danach wollte für Ken nicht vergehen. Die Zeit kroch wie das Grau des Wolkenteppichs über der Stadt. Landregen verbreitete endlose Langeweile, ebenso Mathe-Schulz vorne an der Tafel. Ken hörte den Lehrer nicht einmal mehr. Der Junge guckte blaue Löcher hinaus in das schlechte Wetter und ärgerte sich stumm. „Ein Gang durch die Stadt würde heute Wallo bestimmt nicht gefallen. Bei Regen sieht man keine Gesichter. Alle sind abgetaucht unter Schirmen, Kapuzen oder wenigstens hochgeschlagenen Kragen und tragen die Köpfe eingezogenen. So kann man nicht viel entdecken. Und das ist natürlich auch kein Tag für eine Begegnung mit den faustschnellen Typen im Kiez.“

In Kens Gedanken wuchs Wallo zu einer unschlagbaren Kraft. Er hatte sie nur noch nicht probiert, und deswegen wusste er bloß nichts von ihr. In einer Gefahrensituation würde Wallo sie schon einsetzen – bestimmt. „Es kann ja auch gar nicht sein“, dachte sich der Junge, „dass einer, der einen Baum innerlich bewegt, ohne Zauber sein soll.“ Ken war ohne Zweifel und fühlte sich gut und sicher mit seiner Annahme, als ihn was aus seinen Gedanken riss: „Keeeenn! Eine Reihe bitte!“, forderte ihn der Lehrer auf.

„Em, wieeee bitte?“, stammelte der Träumer.

„Du hattest jetzt lange genug Pause. Das ist dein Part. Alsoooo: 5 mal 7, mal 20, minus 17, mal 3, plus 48, dividiert durch 5, minus 2, multipliziert mit 8 …“ Der Lehrer setzte die Kette noch eine Weile fort, Ken zog die Stirn kraus. Er hasste solcherart Stundenabschlüsse und wusste, was ihm nun blühen würde. Bis Ken begriff, dass er kopfrechnen sollte, hatte der alte Zahlenreiter schon losgelegt, es war sinnlos, den Faden zu suchen. Ken mimte ein Rechengesicht, bis er die letzten Worte des Lehrers vernahm: „… dividiert durch 8 ist?“ Mathe-Schulz wartete zwei, drei Sekunden und wiederholte dieses „ist“ schärfer. Ken fixierte die Zimmerdecke und erwartete das Unvermeidliche und schon kam es: „Danke! Sechs. Setzen!“

Ken plumpste abgeurteilt in seine Bank, da klingelte es zum Schulschluss. Der Junge saß noch einen Moment und ärgerte sich. Er hätte es wissen müssen, denn es ist eine Marotte vom alten Mathe-Schulz, den Stillsten der Stunde mit einer Reihe zu belohnen. Jetzt bückte sich der Mann mit dem Rotstift über das Klassenbuch und quittierte Kens Nichtleistung. Dann raffte er seine Hefte und schlurfte, den Jungen nicht beachtend, hinaus in den Flur, wo das Schulschlussgejohle langsam verebbte.

Ken trödelte mit gebührlichem Abstand hinterher. Eigentlich mochte er seine Schule, nur diesen Geruch nach Bohnerwachs, Staub und Schweiß ganz und gar nicht. Er wollte schneller gehen, damit seine Nase in den Wind kam. Aber dann hätte er den gebeugten Mann überholen und sich noch einmal seinem enttäuschten Blick aussetzen müssen. Das vermied er, denn so was setzte Ken mehr zu als eine Schelle vom Vater.

***

Kens Tag lief bis dahin nicht sonderlich gut. Jetzt hatte er nur noch den Wunsch, schnell bei Wallo zu sein. Er fegte in unglaublichem Tempo über das nasse Pflaster. Vor der Höhle angekommen, tropfte ihm der Regen aus den braunen Haaren. Wallo wartete bereits.

„Du triefst ja vor Nässe“, begrüßte Wallo Ken mitfühlend. Ihm war auch gleich ziemlich feucht zumute. Er kringelte sich um den Freund, als wollte er ihn wärmen. Während der Junge verschnaufte, Schuhe und Socken abstreifte und letztere auswrang und zum Trocknen an der Höhlenwand aufhängte, sprach Wallo unternehmungslustig auf ihn ein:

„Ich hab es mir überlegt und glaube nun schon, dass ich den Baum auf kurze Zeit verlassen kann. Auf einen kleinen Gang durch die Straßen. Was meinst du, ob wir nachher noch losgehen können?“

„Es ist ungemütlich heute da draußen. Aber wenn du keine Angst vor einem Schnupfen hast, dann gehen wir einfach los“, antwortete Ken. Er staunte über Wallos schnellen Entschluss.

„Gut, aber was ist Schnupfen?“, wollte Wallo wissen.

„Etwas Widerliches. Erst drückt einem der Kopf, die Augen werden dick, und dann läuft einem ständig die Nase. Man muss sie andauernd kräftig ausschnauben und der Zinken wird davon ganz unförmig und wund“, erläuterte Ken und benieste anschließend seine Erklärung. „Ja, und damit fängt so was an, man muss niesen.“

Wallo schaute Ken mitleidig an und fragte unsicher: „Du bekommst jetzt so einen Schnupfen, können wir trotzdem gehen? Ich bin nämlich sehr erwartungsvoll und glaube auch kaum, dass ich so ein Nasenzeugs kriege.“

„In Ordnung“, raffte sich Ken auf und zog seine klammen Socken wieder an. „Vielleicht ist das heute gar nicht so schlecht. Die Leute laufen bei Regenwetter fast mit geschlossenen Augen, da brauchst du keine Angst zu haben, dass dich jemand entdeckt und nervös wird.“

Gesagt, getan. Die zwei krochen aus ihrem Versteck ins Freie. Wallo blinzelte gegen das Licht und den Nieselregen. Endlich sah Ken seinen Freund in voller Pracht. Wallo, der grüne Lichtschweif, maß mindestens zehn Meter. Da er dicht über dem Boden schwebte, wirkte er zunächst wie ein wiesengrüner Nebelfetzen. Nur das Glimmen seiner Augen darin war etwas ungewöhnlich. Die zwei schlenderten wortlos hinüber zum verlassenen Spielplatz. Ken wollte Wallo in seinen neuen Empfindungen nicht stören. Der durchstöberte alles, was er sah. Seine Gurkennase grub zuerst eine Furche in das regennasse Gras. Wallo fand dabei Wildblumen, die hatten es ihm angetan. Während er weiter seinen Korridor durch die Wiese rüsselte, verfing sich seine Nase in einer herumliegenden Colabüchse. Mit der jonglierte Wallo so ähnlich, wie es dressierte Robben mit Bällen tun. Ken kicherte. Wallo fand einen Papierkorb, lugte hinein, schüttelte sich und warf die rot-weiße Büchse da rein. Schließlich gelangten die beiden zu den Spielgeräten. Gleich einer grünen Wasserwelle plätscherte Wallo über die Kinderrutsche, dann wirbelte er mit der Schaukel durch die Luft, wobei seine Gestalt mal vorne, mal hinten heftig ausbeulte. Ganz ausgelassen preschte Wallo daraufhin zum Karussell, wo er nicht etwa nur einen Platz besetzte, sondern sich in seiner ganzen Länge zum Platz nehmenden Kreis formte. Ken schob das Karussell an und Wallo juchzte.

Wallos Regentanz. Zeichnung: Petra Elsner
Wallos Regentanz.
Zeichnung: Petra Elsner

Es muss ein langes Kribbeln in dem sehr langen Bauch entstanden sein. Und so lang war auch sein Juchzen. Für einen Moment rissen die Wolken auf und ein Sonnenstrahl traf Wallo. Das Licht brach sich in zigtausend Regentropfen, die an dem kreisenden Nebelschweif hafteten. Wallo leuchtete augenblicklich zu einer wundersamen Regenbogenkette auf und war von seinem Glanz selbst bezaubert und sehr glücklich. So schön war er noch nie. Er blickte dankbar auf den Jungen, der ihn immer noch mit kräftigen Stößen drehte.

Auch Ken war fasziniert von diesem Anblick und konnte sich gar nicht satt sehen an Wallo. Inzwischen zogen sich die Wolken wieder zusammen und das kleine Wunder war vorbei. Wallo taumelte vor Freude durch den Park, es dämmerte bereits und Ken nieste immer öfter. Wallo spürte, dass es für heute genug sein musste. Indem Ken einen heißen Kopf bekam, wurde auch Wallo ganz matt und er schlug vor: „Lass uns jetzt zurückkehren. Ich fühle, dir geht es nicht gut, und ich bin auch schon ganz wässrig.“

Ken war einverstanden. Er begleitete Wallo zum Höhleneingang und verabschiedete sich mit einen müden „Bis morgen.“

Aber daraus sollte nichts werden. Ken packte ein heftiges Fieber, das ihn zwang, eine Woche lang im Bett zu bleiben. Es waren glutheiße Sommertage. Die Stadt staubte und ächzte vor Trockenheit. Wallo wartete in der schützenden Höhle besorgt auf den kleinen Freund …

Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (2)

Wallo
Wallo

… Die Worte hatten einen langen Weg und ein Echo kam über sie, so dass jedes einzelne noch lange in dem Baum nachhallte. „Ist gut!“, rief Ken zu Wallo hoch. „Ich habe verstanden, du kannst wieder herunterkommen. Das wäre mir wirklich angenehmer. Ich gucke dir lieber beim Reden in die Augen als auf deinen großen Zeh.“

Kaum hatte das Ken gesagt, wickelte sich Wallo wieder um ihn. Es sah so aus, als säße der Junge in einem grün leuchtenden Nest. Wenn er nach Wallo griff, fasste Ken immer ins Leere. Wallo war ein Lichtstreif und so nicht zu fassen. Aber ganz offensichtlich war er da, bewegte sich, sprach mit Ken und lebte also.

Wallo blinzelte Ken freundlich zu: „Nein, ich kann keine Wünsche erfüllen. Aber wenn du träumst, dann reise ich mit. Ich sehe, was du siehst, und fühle, was du fühlst, und das ist doch was Besonderes. Wer weiß schon genau um den anderen? Aber das klappt auch nur, wenn du in dieser Höhle sitzt, denn dann bist du einfach in mir, dem Baum. Verstehst du das?“

Ken wusste das nicht genau. Er verstand nicht, wie er in Wallo sein konnte, wenn er doch neben ihm saß. Aber das war nicht so wichtig. Den Umstand, dass er auf jemanden getroffen sein sollte, der genau das mitdenken konnte, was er sich erträumte, fand der Junge umwerfend. Denn es war für Ken oft die größte Schwierigkeit, sich jemandem verständlich zu machen. Meist klappte das nicht. Entweder schlossen sich an solcherart Erklärungsversuche endlose Moralpredigten des Vaters. Danach war von Kens Meinung nichts mehr übrig oder es gab gleich Missverständnisse und Krach. Ohne Worte verstehen – das war ausgesprochen reizvoll. Aber Ken beschäftigte noch eine andere Frage: „Erklär mir das bitte, Wallo, warum soll das Ganze nur in der Höhle klappen?“

„Ich weiß nicht“, antwortete der grüne Lichtstreif, nachdenklich in sich gewunden. Er kringelte sich ein Weile, so, als würde er sich irritiert die Haare raufen, dann schoss er wieder gerade vor Kens Nase und sprach: „Womöglich, weil du nur bei mir Teil meines Daseins bist. Gehst du, kann ich dich nicht sehen, weiß nicht, wem du begegnest und was dir dort draußen, unter den Menschen, geschieht.“

„Na gut, aber warum kannst du dich nicht in meiner Jackentasche ganz klein machen, und so mit mir kommen“, wollte Ken wissen.

„Weil dann der Baum keine Seele mehr hat“, erklärte Wallo geduldig.

„Aber der Baum ist doch tot. Es wird ihm bestimmt nicht schaden, wenn du mit mir einen kleinen Ausflug machst“, drängelte Ken. „Ich kann dir die Stadt zeigen. Wenn du schon solange schläfst, wirst du sie kaum wiedererkennen.“

Wallo wallte hin und her. Er schien regelrecht aufgeregt. Sein Grünlicht leuchtete greller und flackerte dabei. Offensichtlich machte ihm Kens Vorschlag zu schaffen. Schließlich stammelte er Ken zu: „Ich war noch nie außerhalb des Baumes.“

„Hättest du dazu Lust?“, fragte Ken.

„Ich denke schon“, erwiderte Wallo.

„Warum tun wir es dann nicht einfach? Was soll schon geschehen?“, ermunterte der Junge den Geist.

„Es ist schon dunkel draußen. Man könnte mein Leuchten sehen. Und was geschieht meinem Baum? Ich weiß, du möchtest am liebsten gleich mit mir losziehen. Gedulde dich etwas. Ich muss darüber nachdenken. Komm morgen. Morgen sage ich dir, was ich entschieden habe. Jetzt aber geh, es ist spät.“

Bei diesen Worten streichelte der Grüngeist Kens Wange. Daraufhin schob er das Kind zum Höhlenausgang und blickte ihm mit glimmenden Stielaugen nach. Er wollte Ken den Pfad etwas beleuchten. Dabei spähte Wallo einen kurzen Moment in das Draußen. Es war ihm ein wenig unheimlich, so wie Ken zuerst die Dunkelheit in der Höhle. Was würde ihn dort erwarten? Dann schlängelte sich Wallo wieder in den Baum und verfiel in einen grüblerischen Wachtraum.

Ken war richtig aufgeregt auf seinem kurzen Wegstück nach Hause. Er hatte einen Vertrauten gefunden. Irgendwie staunte er sehr darüber, wie schnell sie einander mochten. Schließlich kannten sie sich erst ein paar Stunden. „Stunden. Auweia!“, erschrak sich Ken. Es musste schon nach 21 Uhr sein. Er hatte völlig die Zeit vergessen. Der Vater wird zornig sein. Längst müsste Ken im Bett liegen.

Der Vater war zornig. Er fragte nicht lange. Ken hatte kaum die Wohnungstür hinter sich zu und war von den vier Treppen im Laufschritt noch ganz außer Atem, da hatte er schon eine Ohrfeige abgekriegt. Wortlos. Der Vater zerrte ihn mit hartem Griff ins Kinderzimmer und knallte sogleich wieder die Tür hinter dem Jungen zu. Es würde kein Abendbrot geben. Ken fingerte nach der Gummibärchentüte in seiner Jackentasche. Sie war noch fast voll. Wissend, er würde das Magenknurren beruhigen können, zog er sich aus und kroch unter seine Schlafdecke. Während Ken ausgestreckt lag, schob er ein Gummitier nach dem anderen in sich rein und dachte an Wallo…

Wallos seltsame Reise

Cover
Cover

Aus diesem Buch habe ich Euch noch nicht wirklich was vorgestellt: „Wallos seltsame Reise“. Die unglaubliche Geschichte einer Baumseele hab ich 1993 geschrieben als ich meinen Liebsten kennenlernte und er nach sechs gemeinsamen Wochen einen schweren Deprischub bekam. Wir waren damals Scherbenkinder der Wende und ihn hatte der Mut verlassen. Ich schrieb dieses moderne Großstadtmärchen im Grunde für ihn, und es ist ihm auch gewidmet. 2006 hat es der Wiesenburg Verlag veröffentlicht. Aber wie es immer ist mit Kleinverlagen – die dort gedruckten Geschichten und deren namenlosen Autoren bleiben unbekannt. Jede Seite hat zu wenig Kraft. Das ist keine Klage, es ist eine Tatsache. Ein paar Auszüge aus dieser märchenhaften Erzählung stelle ich hier nacheinander vor:

… Es war eben wieder Kens Stunde für den Baum. Das ist immer die Zeit, wo das Viertel sein Nachtgewand überstreift. Es scheint dann ganz so, als fiele der dunkle Himmel über die abgetakelten Mietshäuser wie schwarzer Samt. Zu jener Stunde also huschte Ken gleich einem Schatten durch den Park, unglaublich vorsichtig und fast unsichtbar, denn er wollte nicht den Zugang zu seinem Geheimnis verraten. Kurz vor dem Brennnesselstück schoss es dem Jungen urplötzlich in den Sinn, ob nicht schon irgendjemand vor ihm die Baumhöhle entdeckt haben könnte. Vorzeiten. Und womöglich waren von jenem noch Zeichen im Holz aufzuspüren. Angekommen, entzündete er aufgeregt sein Windlicht, um nach Spuren seiner möglichen Vorgänger zu suchen. Nichts. Oder doch? Sein Blick wanderte hoch hinauf. Nein.

Enttäuscht ließ er sich fallen und sprach halblaut vor sich hin: „Baum, ist denn gar nichts in dir zu finden?“

Der schlafende Wallo. Zeichnung: Petra Elsner
Der schlafende Wallo.
Zeichnung: Petra Elsner

Auf einmal war es Ken, als bewege sich seine Höhle leicht, so als würde sie schwerfällig atmen. Dann räkelte sich die Höhle ächzend, als wenn sie einen sehr langen Schlaf hinter sich hätte. Unter Ken schlingerte der Boden, während etwas zu ihm ins Innere der Höhle sprach:

„Du hast doch mich gefunden und nun meine Stimme geweckt,  ist das etwa nichts?“

Die Stimme grummelte das ganz sacht. Trotzdem erschrak Ken. Er sah sich um, prüfte mit den Händen, ob das Teil um ihn wieder fest war. Nun suchte er nach dem, was da sprach.

„Wo bist du, und wer bist du?“, fragte er mit geducktem Kopf. Aber so konnte er nichts entdecken. Vorsichtig schraubte er sich in die Höhe. Mit weit aufgerissenen Augen spähte er umher. Dort, wo er hockte, war nichts auszumachen. Es musste aber etwas da sein. Er hatte sich die Sache eben doch nicht nur eingebildet. Oder? Der Junge dachte bei sich:

„Ist mir die Fantasie durchgegangen? Es gibt öfter Leute, die meinen, ich spinne zu viel. Na ja, stimmt schon. Nur, das gerade kann ich mir nicht eingebildet haben. Unmöglich!“ Ken suchte weiter und rief dabei den Baum laut an: „Was soll das? Wenn hier wirklich einer ist, dann zeig dich endlich!“

Augenblicklich fuhr den langen Höhlenschlund ein Gebilde aus grünlichem Licht hinab. Das Ganze wirkte wie eine gigantische Gurkennase mit welken Sehschlitzen. Kurz vor Ken bremste das Ding scharf und formte aus dem Nichts einen vollen Mund, der sogleich wieder dröhnte: „Du hast mich eben erst geweckt, was brüllst du so? Da räufeln sich einem ja die Sinne!“

„Ich dich geweckt? Ich wüsste nicht, wie!“, empörte sich Ken. Er war sich keiner Schuld bewusst. Ja, er hatte mit sich gesprochen und wohl ganz, wie nebenher, den Baum dabei angeredet. Nicht laut. Der muss einen sehr seichten Schlaf haben, oder er war eben schon richtig ausgeschlafen, aber dann brauchte er nicht unbedingt so empfindlich zu reagieren.

Wenn Ken morgens erwachte, war er wach, ungeheuer wach, meinte der Vater ständig genervt. Der ist morgens ein Brumm-Monster. Richtig ekelig. Am besten, man weicht dem Mann mit dem eigenen Wachsein aus. Auf den Balkon oder die Straße. Frühaufsteher haben’s schwer. Es irritierte Ken, dass er zu seiner Traumstunde einen Erwachenden um sich hatte. Weniger verwirrte es ihn jetzt, dass es ein Baum war. Traumplätze sind Orte verwunschener Gedanken, darin ist alles vorstellbar.

Inzwischen hatte sich die Höhle noch einmal flach gestreckt, dann wieder aufgerekelt und dabei ganz wundersam gejuchzt. Ken musste in der Flachstreckphase den Kopf einziehen.

So richtig wach geworden, schlängelte sich das Gurkengesicht noch näher hinab zu Ken. Die Sehschlitze hatten sich etwas weiter geöffnet, und es war Ken, als flackerten ihn daraus zwei galaktische Irrlichter an. Warmgelb. Irgendwo auf seinen Traumreisen waren ihm solche schon begegnet. Er wusste nur nicht mehr genau, wo. Aber ihm war gut bei diesem Anblick. Er fürchtete sich kein bisschen mehr.

Ken sah grübelnd in dieses schwimmende Gesicht. Woher kannte er diesen Ausdruck? Wo war er ihm zuletzt begegnet? Es muss dort gewesen sein, wo er seine Mutter traf. Er hatte es so sehr gewünscht, sie noch einmal wieder zu sehen. Und auf einem sehr, sehr fernen und wirklich lichten Planeten traf er sie endlich nach unglaublich langer Suche. Vater erklärte ihm vor drei Jahren, seine Mam sei nun im Himmel und es ginge ihr gut. Ken konnte das erst glauben, als er sie dort antraf. Diese Irrlichter in dem Gurkengesicht hatten etwas davon: milde Wärme, die Ken so vermisste.

Ken staunte sprachlos das grüne Tier an und fragte sich, was es denn sei. Eine Erdschlange vielleicht? Oder ein Lindwurm?

Er hatte noch nie einen gesehen. Er starrte so verwundert auf das Wesen, dass es sich von selbst vorstellte: „Wundere dich nicht, ich bin nur der Geist des Baumes. All deine Träume habe ich miterlebt, wie ich all die anderen kleinen Träumer vor dir auf ihren Reisen begleitet habe. Es waren stets ähnliche Wünsche von Geborgenheit und Glück.“

„Der Geist des Baumes?“, murmelte Ken überrascht. Ein Baumdrache wäre ihm ehrlich gesagt lieber gewesen. Mit dem hätte er gegebenenfalls die Muskelprotze von der Straße vertreiben können. Aber was fängt man mit einem Baumgeist an? „Ich wusste gar nicht, dass Bäume einen Geist haben“, gab Ken ehrlich zu. Hast du einen Namen?“

„Aber ja, jedes Ding hat einen Namen und einen Lebensgeist. Ich heiße Wallo und solange mein Haus, der tote Baum, steht, werde ich in ihm wohnen. Nur gerufen hat mich halt noch keiner und so schlafe ich schon sehr lange in dem alten Holz.“

„Das ist aber eigentümlich“, fand Ken. Geister spuken doch nachts umher und jagen den Leuten gewaltige Schrecken ein.“ Er wusste das aus Gruselfilmen. Die Geister waren meistens ziemlich aktiv und nicht solche verschlafenen Gesellen wie Wallo. Oder sie waren einfach mal eingesperrt, in einer Flasche, damit sie kein Unwesen mehr treiben können. Derjenige, der sie befreite, hatte drei Wünsche frei. Oder wie in der „Unendlichen Geschichte“, worin Fantasien nur durch kindliche Wünsche leben konnten. „Kannst du auch Wünsche erfüllen?“, wollte Ken von Wallo wissen.

„Ich weiß nicht“, gestand Wallo etwas verlegen, weil er bemerkte, dass ihn Ken für so etwas wie ein Spukgespenst hielt. „Vielleicht habe ich mich dir nicht korrekt erklärt.“ Wallo richtete sich gerade, was ihm einigermaßen Mühe bereitete, da er dazu seine schlangenhafte Gestalt, die er um Ken geringelt hatte, aufgeben musste und pfeilartig hinauf in den Baumstamm schoss. Nun stand er und wiederholte richtig offiziell seine Vorstellung: „Ich bin kein Poltergeist, ich bin die Seele des Baumes.“ …

Wallos seltsame Reise, Erzählung von Petra Elsner, Hardcover, 55 Seiten, mit zehn farbigen Illustrationen, 2. Auflage erschienen im Wiesenburg Verlag 2013, ISBN 978-3-939518-02-0
Preis: 16,90 Euro

Moosgrün

MoosgrünDer Regentag versenkte gerade sein letztes fahles Licht im Unterholz. Moosgrün, der Waldwicht, räkelte sich auf seinem Lager aus welken Blättern, als ein Wassertropfen durch das Laubdach rann und seine Nase  traf. Platsch, nun war er wach. „Verflixter Ökowecker!“ Er rubbelte sich seine zwei Haare trocken und stülpte seine Filzkappe darüber, da wackelte plötzlich die Erde unter seinen Füßen, und es knackte mächtig. Scheinwerfer flammten auf und fluteten das Dunkel.  Panisch raffte der Wicht seine Hosen, Socken und die wunderschöne Frühstückseichel. Dazu schrie er voller Entsetzen: „Holzernter! Holzernter! Um Himmelswillen, sie werden meinen Baum fällen, gleich oder später! Wo ist nur das Zauberwasser?“ Die kleine grüne Gestalt zitterte am ganzen Leib. Eine Motorsäge kreischte auf, und Späne hämmerten zerstörerisch auf Moosgrüns Hüttendach. Der Flakon mit dem Zauberwasser klirrte von den Schlägen der harten Späne, als wollte er sagen: „Hier bin ich!“. Schnell griff der Waldwicht das Fläschchen und rutschte auf seinem Hosenboden abwärts in seinen Wurzelkeller. Da ächzte schon der mächtige Baumriese über ihm und fiel krachend zu Boden. Und nach ihm noch einer, und noch einer, die ganze Nacht lang.

Moosgrün jammerte leise in dem finsteren Loch. Seit einer Ewigkeit hauste er am Fuße dieser alten Eiche mit der Aufgabe, die Bäume zu beschützen und im Frühling mit einem Spritzer Zauberwasser zu erwecken. Doch gegen die gigantischen Holzerntemaschinen war sein kleiner Zauber völlig wirkungslos. Er hatte es versucht, keine Frage. Aber wo kein Glaube, da kein Gehör – seine Bannflüche  erreichten nicht einmal als Wispern die Ohren der Männer auf dem schweren Gefährt.  Der Waldwicht war schließlich nur ein ganz kleiner Frühlingsgeist.

Moosgrün kannte fast alle Eichen des Waldes, so um die 2000 ganz alte Exemplare. Man sah es ihm nicht an, aber er war schon vor gut drei Jahrhunderten dabei, als sie gepflanzt wurden, damals, als der Wald den Namen „Schorfheide“ bekam. Der Waldgeist liebte die mächtigen Eichen und auch jene, die indes als totes Bruchholz aus der Landschaft ragten oder zwischen die Farne gestürzt waren. Mit Moos bewachsen, sahen sie ganz samtig aus, mal wie ein schlafendes Tier, mal wie die Höhle eines Erdwesens. Lange grübelte er, was er tun könnte. Er wollte einfach nicht, dass diese mächtigen Stämme aus dem Wald verschwinden. Die zündende Idee kam ihm, als er an den steinernen Wegweisern vorbeihuschte. Sie trugen Namen und wurden von Jedermann geachtet. Deshalb? Ja, weil man dank ihrer den rechten Weg durch das weitläufige Gebiet finden konnte. Namen sind so etwas wie Merkzeichen, die den Dingen eine Bedeutung geben. Hm, das war es!  Wenn er nun den Waldbäumen einen speziellen Namen verleihen würde, was würde geschehen? Er kratzte sich seinen Kopf unter dem Filzhütchen. Hm, sie wären etwas Besonderes, und man könnte sie so nicht einfach mehr verschwinden lassen! Noch besser, wenn die Namen richtig berühmt wären wie Kunstwerke. Ha! Das ist es: Der Wald als Naturkünstler! Die Menschen würden seine Baum-Skulpturen ganz ehrfurchtsvoll betrachten, und keiner würde es mehr wagen, sie anzutasten.

Seit diesem Gedanken schuftete Moosgrün tagein, tagaus. Immer, wenn die Nacht am dunkelsten war, lief er durch seinen Wald und verteilte Namen, Künstlernamen, denn nachts war er besonders erfinderisch. Tagsüber wälzte er kleine Findlinge zu den Eichenfüßen herbei und schrieb mit Farbe die Namen seiner Waldskulpturen darauf: „Humpelnde Walküre“, „Tanzender Bär“, „Knarrender Lindwurm“, „Melancholischer Riese“, „Fromme Gouvernante“ …, und fortan witterten seine Baumfreunde, viel beachtet und deshalb behördlich geschützt, in der Zeit. Denn mit den Namen kamen die Menschen, um die Naturskulpturen zu bestaunen.

(Aus meinem Buch „Schattengeschichten aus dem Wanderland“ – Schorfheidemärchen, erschienen 2010 im Schibri-Verlag ).

Neu erschienen: 2018 bei der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk in Schwedt an der Oder als Märchensammlung (30 Texte) unter dem Titel „Die Gabe der Nebelfee“

Spende? Gerne!
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Dellwog und der Flößer

Flussgott Dellwog Zeichnung: Petra Elsner
Flussgott Dellwog
Zeichnung: Petra Elsner

Es war spät. Für einen Moment schien der Regen nachzulassen, blaue Schatten legten sich über Wald und See.  Dort schwammen Heinrichs Stämme. Morgen würden sie als Trift auf Flussfahrt gehen. Im Reisestall für Pferde und Kutschen schliefen schon die Knechte, und auch der Flößer Heinrich wollte hier ein Strohlager finden. Aber jetzt brauchte er zunächst etwas Warmes. In der kleinen Gaststube brodelte noch Kaffeewasser, und die Viehhändler und Holzaufkäufer würfelten um die besten Schlafplätze. Heinrich ging zur Feuerstelle und rieb sich die klammen Hände. Aus der Ecke neben dem Tresen lugte eine seltsame Gestalt ins Kerzenlicht. Die Wirtin reichte Heinrich wortlos einen dampfenden Becher, deutete zu dem Schattenriss in dem Winkel und flüsterte dem Flößer zu „ein Kaffeeriecher, ein Schnüffler des Fürsten.“

Heinrich wandte sich ungerührt den Spielenden zu und schlürfte den geschmuggelten Kaffee. „Will er morgen flößen?“, fragte ihn einer der Viehhändler. Heinrich nickte.

„Das wird wohl nichts werden“, raunte die Runde. „Wieso nicht?“, stutzte der Fröstelnde.

„Weil das Schleusenschütz klemmt“, murrte die Wirtin. „Wir werden hier noch alle absaufen, wenn die Pegel weiter im Regen steigen.“

„Es klemmt nicht, ein mächtiges Ungetüm hängt dran!“ knurrte einer der Viehhändler. „Wie eine quallige Saugglocke belagert es das Schütz und spritzt grüne Säure, wenn man nach ihm sticht.“

Heinrich wurde unruhig: „Seit wann hockt es da? Und gibt es gar keinen Weg, es zu vertreiben?“

Die Männer zuckten mit den Schultern, nur die Gestalt im Treseneck murmelte aus dem Dunkel: „Seit Urzeiten wandelt zwischen den Seen und den sumpfigen Niederungen der Schorfheide ein kleiner, launischer Flussgott umher. Er entsprang eben diesem See als Döllnfließ, dem, wenn man es befahren wollte, eine Locke zu opfern war. Dieser längst vergessene Wasserfürst heißt Dellwog. Wenn er wütend ist, verwandelt er sich in eine glibberige Riesenqualle, die alles aufsaugt, was sich ihr in den Weg stellt, aber ansonsten schwimmt er als bunt geschuppte Gestalt friedfertig mit den Wellen. Doch man hat dem Dellwog die Flanken beschnitten, seine Windungen begradigt, damit die Flößer das Holz schadlos aus dem Wald hinaus bringen können. Und nun stöhnt und wütet er vor Schmerz.“

Oh je, dachte Heinrich. Gewiss, das Döllnfließ war keine leicht zu beflößende Gasse, aber dass ein Flussgott dieses grün-blaue Band durch das Land zieht, wusste er nicht. Wie sollten nun seine Stämme rechtzeitig zu dem Hamburger Schiffbauer gelangen, wenn Dellwog sich nicht besänftigen ließe? Noch als alle Gäste des Krugs fest schliefen, starrte Heinrich ins Kaminfeuer und dachte nach.

Im Morgengrauen regnete es wieder Blasen und Heinrichs Stämme drohten über die Schleuse zu stürzen. Der Flößer sah, wie der strömende Regen alles an Land mit sich spülte und dabei kam er auf eine Idee: Der Mann schöpfte sich eine Handvoll Regenwasser aus einer Pfütze, sprang damit in den See und tauchte zur Quelle des Fließes. Dort unten öffnete er seine Hand und der weiche Regen floss, schob, spülte und löste schließlich den Schmerz des Flussgottes auf und schwemmte ihn davon. Heinrich stieg aus dem Wasser, schnitt sich eine Haarsträne ab und warf sie mit den Worten: „Dellwog, sei friedlich, ich achte dich!“ in die schäumenden Wellen. Dann zog er das Schleusenschütz, und seine Stämme begaben sich auf die lange Fahrt flussabwärts, hinaus aus dem Wanderland in die Welt.

(Aus meinem Buch „Schattengeschichten aus dem Wanderland“ – Schorfheidemärchen, erschienen 2010 im Schibri-Verlag ).

Neu erschienen: 2018 bei der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk in Schwedt an der Oder als Märchensammlung (30 Texte) unter dem Titel „Die Gabe der Nebelfee“

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Adela und der Steinschiffer

Als Adela den Heidewald verließ, stachen am Fluss schon die Wanderarbeiter nach dem

Adela, Muhme der Wiesen und Felder, Zeichnung: Petra Elsner
Adela, Muhme der Wiesen und Felder,
Zeichnung: Petra Elsner

Ton unter der Grasnarbe. Der Sonnenball stieg gerade feurig über die Baumwipfel und nährte die rote Stunde dieses Morgens. Grillen zirpten,  und die Vögel besangen den Glanz des Lichtes, während sich die schöne Wiesenmuhme  das wüste Treiben im Weidengrund besah. Adela war ein weiblicher Heidegeist, der keinen Raubbau zulassen durfte.

Natürlich brannten sich die Bewohner des Wanderlandes seit einer Ewigkeit Ziegel. Das hätte Adela nicht weiter aufgeregt. Doch diese Männer nahmen mehr, als sie selbst brauchten. Ziegelhandstreicher formten Grünlinge aus dem Ton, Brenner türmten daraus Meiler, und das Feuer darin, ließ die Grünen steinhart werden. Überall in den Wiesen am Westrand des Wanderlandes rauchten die Meiler und Feldbrandöfen, denn Adrian, der schlaue Schiffer, kaufte die Bausteine und schipperte sie in die nächste Stadt. Da kam er gerade wieder schweren Schrittes. Weil der Fluss mit seinem kastenförmigen Lastkahn nicht sicher befahrbar war, zog ihn Adrian mit einem Pferdegespann von Land aus. Der Treidelpfad, der bei diesem Schiffeziehen entstand, lag wie ein breites Band neben dem Flusslauf. Lange hatte Adrian, wie andere Schiffer auch, nur Baumstämme transportiert, bevor er sich entschloss, Steinschiffer zu werden. Die Städte rings um das Wanderland begannen gerade zu wachsen, so dass der Schiffszieher gar nicht so viele Steine heranbugsieren konnte, wie jene verbauten. Bald schon wurde Adrian wohlhabend, konnte sich Pferde, Knechte und ein zweites Schiff leisten. Aber er war mit dem Wohlstand auch vom Hochmut befallen.

Adela tänzelte und wehte durch die Wiesen wie ein Schmetterling. Adrian sah die Schöne mit dem Blumenkranz, aber sein begehrlicher Blick bekam sie nicht recht zu fassen. Irgendwie sah er immer nur das Echo ihrer geschmückten Gestalt. Doch dann wehte eine harte Stimme an sein Ohr: „Wer hat  dir erlaubt, meine Ufer zu plündern?“

Adrian drehte sich erschrocken um, aber da hallte es schon in sein anderes Ohr: „Schick dich von dannen,  Schiffer, sonst ereilt dich die Wüste!“

Der Mann schüttelte sich, als wollte er den Spuk abwerfen, da stand sie plötzlich vor ihm: „Geh, Schiffer, und nimm deine Tonstecher mit, dieses Land hat genug Wunden!“

Adrian lächelte kühl: „Ah, das verlangt ein Blumenweib? Dass ich nicht lache!“

Die Wanderarbeiter schauten besorgt,  und der Älteste unter ihnen erklärte: „Herr, nimm er sich in Acht, sie ist kein einfaches Weib, sondern eine  Muhme der Wiesen und Felder. Ihr Zauber könnte uns alle böse treffen.“

„Schweig,  Alter, und spute dich, die Ziegel müssen an Brod!“,  befahl ungerührt Adrian und raunte sodann Adela zu: „Und du Weib, komm in meine Arme oder scher’ dich vom Acker! Hier hat nur der Steinschiffer das Sagen!“

Die Männer bei der Tonsohle blickten finster als sie Adelas Murmeln vernahmen: „Ich wünsche dir Sand und Schluff in den Ton, auf dass deine Ziegel nichts mehr taugen.“

Dann lief sie zurück in die Wiesen. Aus ihrem Rocksaum rieselte dabei feiner Sand, und der Wind frischte auf, der sich kaum später zum Sturm erhob. Der blies weißen Sand in jeden Winkel des Landes und bedeckte es dünengleich.  Die Wanderarbeiter zogen bald weiter, denn sie hatten seither vergebens nach gutem Ton gegraben. Adrians Schiffe zerbarsten in jenem Sturm auf einer Sandbank, und der Mann verlor darüber nicht nur Hab und Gut, sondern auch seinen Verstand.  Er stand da in seinem Kahn auf welligem Sandland, in den Händen eine Stake, mit der er davon kommen wollte, doch Adelas kalter Atem hielt ihn für immer fest im Bann.

(Aus meinem Buch „Schattengeschichten aus dem Wanderland“ – Schorfheidemärchen, erschienen 2010 im Schibri-Verlag ).

Neu erschienen: 2018 bei der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk in Schwedt an der Oder als Märchensammlung (30 Texte) unter dem Titel „Die Gabe der Nebelfee“

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Die Moorgeister vom Plagefenn

Umor, Schlangentroll vom Plagefenn Zeichnung: Petra Elsner
Umor, Schlangentroll vom Plagefenn
Zeichnung: Petra Elsner

An diesem milden Frühlingsmorgen scherbelte das Eis auf dem schmalen Wassergraben, der das Moor umgab. Es schien, als würden die feuchtschweren Mooshügel atmen. Auf einem dieser hockte Fidelio, das Fledermännchen, und zählte Gasblasen. Eigentlich müsste das Moorgeistergeflüster längst erwacht sein. Blub, wieder war eine Blase zerplatzt, doch mehr regte sich nicht. Fidelio wischte sich die Schlammspritzer von seiner blassen Nase und seufzte. Das himmelblaue Männchen mit den Libellenflügeln wollte gerade davon surren, als sich aus dem Moor eine wirklich fette Beule aufblähte. Das Fledermännchen ging in Deckung, da gluckste und schmatzte es, und ein brauner Schlammtroll quoll aus dem Matsch. Fidelio lugte hinter den Binsen hervor. „Oh, Blubber, endlich ausgeschlafen?“ „Nein, aber die Sonne heizt das Moor so an, da wird man zwangsläufig wach. Moorflocke wird auch gleich aufsteigen.“
„Und Umor?“, fragte die glasige Gestalt. „Nein, keine Sorge, der große Schlangentroll kommt wie immer erst zur Nacht.“

Indes erschien Moorflocke mit ihrem Wollgrashütchen an der Oberfläche, und Fidelio kicherte: „Mein Gott, ich habe über den Winter ganz vergessen, wie hübsch hässlich ihr seid. Da hilft keine Schlammpackung!“ Moorflocke tauchte beleidigt ab, nur eines ihrer Froschaugen linste noch aus dem Sumpf und dem hielt Fidelio eine lila Glockenblume hin. Moorflocke spritzte aus dem Schlick. „Wo hast Du denn die her, die blühen doch erst in ein paar Wochen?“ „Topfblumen, extra für dich.“ Das kleine Elfenmännchen wusste genau, etwas Schöneres konnte er ihr nicht bringen. Dann hockten sich auf die wabernden Mooshügel und schauten in die geheimnisvolle Landschaft. Noch war das große Kesselmoor im Herzen der Schorfheide kahl und öd, doch bald würde wieder alles von Seggen, Binsen und Farnen sattgrün schimmern. Wenn erst überall die Glockenblumen läuten, dann schlägt die Hochzeit der Moorgeister. Aber eigentlich hat dieser Spuk keine bestimmte Stunde. Die Moorgeister foppen jeden, der sich sommerwärts in ihre Nähe begibt. Den Heidekrautschneidern schicken sie fliegende Ringelnattern, auf das sie schreiend davonlaufen. Ein anderes Mal erschrecken sie mit feinem Heulen oder schrillem Pfeifen. Doch all das ist gar nichts gegen eine Begegnung mit Umor. Wer den buckligen Moorgeist mit dem Schlangenhaar, den glühenden Augen und der Schuppenhaut erblickt, den packt das kalte Grausen. Wer davonläuft hat Glück, wer Wurzeln schlägt, den holt sich Umor.

Es dämmerte früh an diesem Tag, und Fidelio wurde unruhig. So sehr er auch die Moorgeisterkinder mochte, ihrem Vater, dem Schlangentroll, wollte er nicht begegnen. Doch es begab sich, dass eben zu jener Stunde ein Kräuterweiblein vom Großen Plagesee den Weg durch den Sumpf nahm. Moorflocke warf Frösche nach ihr, und Blubber rülpste unwirklich laut und klatschte mit Ästen auf das Wasser. Das alles aber störte die Frau nicht weiter, denn sie kannte den Unfug der kleinen Moorgeister. Doch als plötzlich eine Schlammfontäne aufbrach, und Umor aus der Finsternis schoss, stockte ihr der Atem. Grausig sah er aus, und die Frau erstarrte.

Fidelio mochte die Auftritte Umors gar nicht. So flog er zu der Kräuterfrau und wisperte ihr zu: „Nicht hinsehen.“ Er hatte keinen großen Zauber, nur die Gabe, einen Nebelschleier zu schicken. Den legte er nun schützend um die Erstarrte, die sogleich ungesehen fliehen konnte. Umor aber grollte ganz fürchterlich, seine glühenden Augen sprühten vor Wut Funken, die als Glühwürmchen wie Spione davon schwebten. Die kindlichen Moorgeister murmelten: „Das Fledermännchen ist aber mutig. Nicht, dass der Vater es jagt, wir müssen ihm beistehen.“ Und so wirbelte Moorflocke eine Wolke aus Wollgrasähren auf und Blubber brachte das Moor zum Brodeln und ließ es düster stöhnen. Umor tauchte schließlich im Morast ab. Er kannte seine Kinder und wusste, zusammen sie allemal stärker als er. (pe)

(Aus meinem Buch „Schattengeschichten aus dem Wanderland“ – Schorfheidemärchen, erschienen 2010 im Schibri-Verlag ).

Neu erschienen: 2018 bei der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk in Schwedt an der Oder als Märchensammlung (30 Texte) unter dem Titel „Die Gabe der Nebelfee“

 

Info: Plagefenn

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Der Ball der Wasserfrauen

Die kichernden Regentropfennixen waren zum Ball geladen und kamen mit einem kräftigen Guss im Döllnfließ an. Immer in der Johannisnacht trafen sich die Wassergeister aller vier Himmelssphären, um für Freya, die hohe Wasserfrau des Wanderlandes, Kräuter zu sammeln. Für diese eine Nacht des Jahres verloren die Nixen ihr Fischgewand, und all die schönen Wesen aus Pfützen, Tümpeln, Brunnen und Teichen, aus Flüssen und Seen lustwandelten im hellen Mondlicht durch die Wiesen, und schnitten schweigend reife Pflanzen. Nur das leise Läuten ihrer Glockenblumenkränze und das Zirpen der Grillen waren vernehmbar.

Wasserfrau Zeichnung von Petra Elsner
Wasserfrau
Zeichnung von
Petra Elsner

Die Wiesen am Fließ dufteten schon Tage lang so berauschend, dass kaum einer in den Heidedörfern Schlaf fand. Man hockte hellwach am Feuer, tanzte, trank Bier oder Wein, als ein Mädchen vor einem liebestollen Manne in die Wiesen floh. Aber es war zu weit die Hänge hinuntergelaufen, denn dort, wo der Auenwald begann, verästelte sich der Fluss, und die Wiese verwandelte sich in einen wundersam blühenden Sumpf. Das Mädchen war völlig entrückt, als es die Blütenpracht sah. Es pflückte sich einen Strauß, wie er schöner nicht sein konnte, aber währenddessen verlor es den festen Boden unter den Füßen, und die schmatzende Erde verschluckte das Mädchen. Es waren die Regentropfenixen Pia, Nike und Dafne, die das versinkende Wesen entdeckten und die hohe Wasserfrau herbei riefen. Freya schüttelte ärgerlich ihr Blumenhaupt. „Wer unsere Rituale stört, sollte eigentlich mit dem Sumpfwasser ziehen.“ Als Wächterin des unterirdischen Flusses, der an diesem Ort vom Diesseits ins Jenseits strömt, konnte die weiße Nixe Leben schenken oder nehmen. Aber Pia, Nike und Dafne waren so aufgeregt: „Sieh, sie ist so schön, du darfst sie nicht mit unseren Blumen geschmückt ins Reich der Toten schicken“, riefen die kleinen Nixen wie aus einer Stimme. „Gütiger Himmel“, raunte Freya. „Gut, dass die Kräuter geschnitten und gebündelt sind, sonst hätte euer Aufschrei ihnen all ihre Heilkraft genommen“, schimpfte die hohe Frau. Da es aber so gar keinen Grund gab, in dieser Festnacht ein so schönes Mädchen im Sumpf stecken zu lassen, zog Freya es aus dem Morast, wusch es in dem glasklaren Wasser des Fließes und legte es sanft am Ufer ab. Immer noch hielt das ohnmächtige Mädchen den prächtigen Strauß fest umklammert. Und wie es da so lag, schön wie ein Sommermorgen, steckte ihm Freya eine schützende Seerose ins Haar.

Als das Mädchen erwachte, sah es, wie die Wasserfrauen tanzten oder lachend Kräuter wuschen. Aber als jene bemerkten, dass das Mädchen ihnen zusah, erschraken sie, denn augenblicklich wuchs ihm ein Fischleib. Freya hatte den alten Zauber ihres Vaters vollkommen vergessen: Wenn ein Mädchen den Ball der Wasserfrauen beobachtet, wird es selbst zur Nixe. Gerade war die Verwandlung geschehen, da ritt auf einem Wellenross der alte Seegott heran. Der zottige Zausel mit dickem Wanst holte sich die neue Nixe.

Wochen und Monate vergingen. Schauerwetter peitschte das Land, da konnten die Regentropfennixen reisen. Eines Nachts gelangten sie an das Haus eben jenes Jünglings, der noch immer nach dem Mädchen suchte. Sie trommelten auf seine Fensterscheibe eine Melodie und malten aus Klangfarben einen See. Der Jüngling schreckte auf, hatte er nur geträumt oder sah er seine Liebste als schöne Nixe, die ein alter Seegott begehrte. Als endlich die nächste Johannisnacht anbrach, lief der junge Mann zum Großen Döllnsee und lauschte dem Wellenspiel. Irgendwo klatschte etwas auf das Wasser, ein Flossenschlag? Und richtig, im Mondlicht schwamm eine helle Gestalt auf ihn zu. Da sprang der Jüngling in das schwarze Nass und erhaschte die Nixe. Die war so schön, dass er fast das Atmen vergaß, aber dann küsste er das Mädchen. Indem verloren sie sich in einem Strudel, der dem Fischmädchen die Flosse abzog. Als das Paar auftauchte, erleuchteten hunderte große und kleine Wasserfrauen mit ihren weißen Leibern den See. Wie ein Geleitzug brachten sie die Zwei sicher zum nächtlichen Ufer, während der Seegott aus den Tiefen des Wassers machtlos grollte.

(Aus meinem Buch „Schattengeschichten aus dem Wanderland“ – Schorfheidemärchen, erschienen 2010 im Schibri-Verlag ).

Neu erschienen: 2018 bei der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk in Schwedt an der Oder als Märchensammlung (30 Texte) unter dem Titel „Die Gabe der Nebelfee“

 

Die Wunderbuche

Ein Märchen für die Woche ist eins meiner Schorfheidemärchen. Das muss ein paar Tage reichen, ich ersaufe gerade in Arbeit…

Die Wunderbuche:

Croll. Zeichnung von Petra Elsner
Croll. Zeichnung von Petra Elsner

Der kleine Druide, den der verfehlte Liebesschrei eines Einhorns ins Wanderland holte, war ein besonders emsiger. Schon im März schwebte er mit den goldenen Wolken der Haselnusspollen durch den Heidewald. Er liebte diesen Hauch von Glamour. Croll war kein heiliger Druide, sondern ein seltsamer Waldschrat, der mit den Bäumen sprach. Gern versteckte er sich hinter einer Blättermaske, denn Croll war nicht besonders gesellig. Selbst die wispernden Stimmen der Baumfeen störten ihn. Was jene aber nicht daran hinderte, über seine viel zu großen Ohren zu lästern, in die Croll, wenn es ihm zu viel wurde, demonstrativ kleine Früchte als Schalldämpfer steckte. Ansonsten aber lebten die Tiere und Gespinste einträchtig beieinander zwischen den tiefen Senken und den welligen Sandern.

Croll wohnte in der mächtigsten Buche im Wanderland. Wo sie stand, entfalteten sich im April Blütenteppiche aus unzähligen Buschwindröschen. Aber mit dem frischen Austrieb des Blätterdachs begann die Dämmerzeit unter den Buchen. In diesem Schattenlicht wuchsen die Träume und segelten die Fledermäuse.

Crolls Buche war älter als die üblichen Hundertjährigen. Sie thronte schon gut 300 Jahre auf einer Düne östlich des kleinen Pinnowsees. Ihr Stamm sah aus, als wäre er aus einem verschlungenen Baumbündel gen Himmel gewachsen. Über 30 Meter hoch wand sich ihr silbriges Rindenkleid, umweht vom glasigen Blattschleier. Dort oben, in den Wipfeln, erntete Croll immer im Mai rehbraune Knospen. Wozu er sie benutzte, blieb sein Geheimnis.

Und es war nicht alles, was er behütete, denn Croll war eben auch der Wächter der größten Buche der Schorfheide*. Am liebsten lauschte er ihrem Geflüster nachts, denn dann raunte ihm der mächtige Urwaldriese seine Weisheiten zu: Welche Bäume Kraft spenden und welche Kraft rauben. Die alte Buche war gewissermaßen Crolls Meister, durch sie wurde er zum einzigen Kräuterkoch, der jene magische Essenz, die allen guten Zauberwassern innewohnt, inszenieren konnte. Und weil dem so war, kamen alle Naturwesen mit dem ersten Frühlingslicht zu ihm.

Doch dieses Jahr war alles anders. Der Nebel hing fest zwischen den Stämmen und das rostrote Laub rollte sich auf dem kalten Waldboden. Die Frühlingswinde, die den Frost verwehen sollten, wollten einfach nicht kommen. Längst war es Mai und immer noch wuchs die Dürre in der Buche. Überall knackte es in der Rinde, als wollte sie reißen. Jeder weitere eisige Tag ließ den Baum Stück um Stück sterben. Es musste etwas geschehen.

Croll durchforstete all seine Kräuterhöhlen. Irgendwo hatte er diese Notration deponiert. Als er das Pulverdöschen schließlich fand, hockte er ratlos auf einem Ast und grübelte: Die magische Essenz wird es dieses Jahr nicht mehr geben, aber er könnte mit diesem kleinen Rest seinen Baum erretten. Dann aber blieben alle Waldgeister ohne Zauber. Was sollte er nur tun? Wieder platzte die Baumhaut seiner Buche etwas weiter auf. Und es war Croll, als hörte er seine Freundin vor Schmerz stöhnen. Da gab es kein Fragen mehr. Croll sprang auf, entzündete ein Feuer und kochte darüber ein schwarzes Mus, dem er zu guter Letzt das Pulver beigab. Mit dieser Masse bestrich er hauchdünn seinen Baum. Das dauerte mehrere Tage und Nächte, aber unter jedem Pinselstrich hörte Croll junges Leben atmen und das machte ihn sehr froh.

Ende Mai ging endlich der Frost und die Waldgeister kamen zu dem Druiden in der Buche, um sich etwas von jener Substanz zu holen. Croll zog die Zipfel seiner leeren Taschen aus den Hosen: „Die Ernte ist erfroren, ihr könnt erst nächstes Jahr wieder kommen.“ All die kleinen Zauberwesen standen steif und stumm. Wie sollten sie nun das Wanderland erwecken? Da reckte sich und ächzte plötzlich Crolls Buche. Aus ihrer Rinde perlten schillernde Lebenstropfen, die in die grünen Flakons der kleinen Feen und Kobolde schlüpften und wo sie auf den Boden fielen, erblühte augenblicklich das Land zwischen den zwei schnellen Flüssen. (pe)

(* Silkebuche ist der reale Name dieses Baumes)

(Aus meinem Buch „Schattengeschichten aus dem Wanderland“ – Schorfheidemärchen, erschienen 2010 im Schibri-Verlag ).

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Nachtblau

Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

Der Regen pladderte auf dem Fensterblech ein Rondo. Doch diese Wetterpoesie ließ keine Leichtigkeit wachsen, sie nervte nur noch. Der Sommer war einfach zu grau, zu kalt, zu einsam. Leonie fröstelte. In der Pfanne brutzelten Bratkartoffeln, sie hatte Hunger wie im Winter. Der Duft aus der Pfanne legte eine Gedankenspur in eine Zeit, als die Sommer noch Leichtigkeit waren oder schienen. Damals unterm weiten uckermärkischen Himmel – sonnabendnachts:
Schwerer Rosenduft hing in den Gartenterrassen am See. Die Rockband hatte eingepackt, denn die übliche Lokalschlacht hatte sie schnell übertönt, und sie wollte nicht in die Keilerei hineingezogen werden. Es brauchte nie viel, um die Hitzköpfe der Dörfer in Position zu bringen. Jeder gegen jeden und jede Sonnabendnacht. Die Mädchen huschten in eine sichere Distanz und sorgten sich um ihren Favoriten. Chancenlos schrie der Wirt: „Raus, schlagt Euch draußen!“
Da flogen schon die ersten Stühle, Holz und Scheiben barsten. Die Minuten dehnten sich. Niemand hätte später genau sagen können, wie lange die Prügelei dauerte. Nur der Dorfpolizist, der allein im Schatten seiner Amtsbarracke, die gleich gegenüber dem Rosengarten stand, wartete, hatte ein sicheres Gespür dafür, wann er nach dem großen Finale, die angeschlagenen Raufbolde gefahrlos trennen konnte. Dann schrieb er die Namen und die Schäden auf, stieg wieder auf sein Fahrrad und fuhr nach Hause. Er wurde hier nicht mehr gebraucht.
Es war die Zeit, als man meist gefahrlos nachts von den ländlichen Tanzböden auf Waldwegen heim lief oder radelte. Die Zeit roch nach Bier, Club-Cola-Wodka, Rummel und schlechtem Deo.
Nichts konnte Leonie damals davon abhalten, ihre Lust in süßer Sorglosigkeit auszuleben, bis sie abermals in einer schwülen Sommernacht auf einer Bank am gleichen See schlaflos auf die Morgenfrische wartete. Ihr Leib beulte sich und pochte. Wenn die Fischer nach ihren Reusen sehen, wird sie heimgehen, in der Hoffnung auf Schlaf in der Kühle des Morgens. Aber noch war es nicht so weit. Himmel und See ergossen sich noch in ein tiefes Nachtblau, das kaum einen Horizont kannte.
Irgendwo tapste und hechelt etwas. Leonie zog die Schultern gerade nach hinten und späte nach dem Geräusch. Es kam schnell näher und dann lief er auf sie zu. Ein großer Schäferhund, der sich vor sie setzte und herzzerreißend jaulte.
„Lass das, Bero, du weckst noch alle Hühner auf!“, flogen die Worte dem Hund hinterher. Ein Mann tauchte aus dem Dunkelblau, nicht alt, nicht jung, in schwarzen Lederhosen und grünem Parker. Er rauchte Zigarre und brummte: „Sitzen Sie ganz alleine hier rum?“
„Sehen Sie doch oder?“ antwortete Leonie kühl.
„Ist aber nicht gut, allein in der Nacht mit dem gefülltem Bauch. Gibt es keinen Beschützer?“
„Gibt es nicht und wird auch nicht gebraucht.“
„Aha“, brummte der Mann, zog an seiner Zigarre und paffte Kringel in die Luft. „Es ist sauschwül, keiner kann schlafen, nicht mal der Hund.“ Er hockte sich zu Leonie auf die Bank und tippte ihr sacht auf den Bauch und sprach gutmütig: „1972 wird ein guter Jahrgang.“
Sie lächelte verklemmt.
„Und, wie wird das Alleinstehend so werden?“, fragte der Mann und kraulte dabei seinen Hund.
Leonie zog die Schultern hoch: „Mein Vater hat mir vorgerechnet, dass man mit 385 Mark Jungfacharbeiterlohn nicht klarkommt. Das merke ich gerade.“
„Und, wenn er das herausgefunden hat, unterstützt er Sie?“
„Leonie schwieg.
„Echt nicht?“, raunte der Mann.
„Er meinte nur, für solche wie mich, haben sie den Abtreibungsparagrafen gemacht, und wenn ich das nicht schnalle, dann solle ich mich auch allein kümmern“, erzählte sie tonlos.
„Aha“, brummte der Mann wieder und schwieg in das Morgengrauen.
Die Fischer zogen auf ihren Booten vorbei und Leonie streckte sich: „Ich geh dann mal.“
Der Mann nuschelte: „Wird ja auch Zeit. Ich bring Sie noch durch den Rosengarten.“
Der Hund sprang ihren gemächlichen Schritten voran, plötzlich stand und scharrte er. Als die Zwei bei ihm waren, sahen sie ein silbernes Fünfmarkstück. Und während der Mann sich bückte, es aufhob und es in Leonies Hand legte, scharrte Bero erneut und wieder brachte er ein Silberstück hervor und noch eines, bis zur Straße waren es neun. Leonie traute ihren Augen kaum, als der Mann sprach: „Reicht das für die nächsten Tage?“
Die Frau war dem Mann mit dem Hund nie wieder begegnet, aber sie wusste seither: Das Glück muss einem unterwegs begegnen und nicht erst am Ende des Tunnels.
Petra Elsner

Mit dieser Geschichte möchte ich nochmals auf meine Lesung am 6. März, 15 Uhr, im Jagdschloss Groß Schönebeck (Schorfheide) aufmerksam machen. Ich lese dort aus meinem Buch „Vom Duft der warmen Zeit“

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