Kuppen im Wind

Die zwei Hügel im Wind mit dem Ausblick in eine endlose Weite war das Sehnsuchtsbild aus kindlichen Träumen. Jetzt stand Fine auf einem der beiden, dem rechten und schloss das alte Haus auf. Sie war seltsam ergriffen, froh und traurig zugleich. Hinter dieser knarrenden Holztür wohnten vor kurzem noch Selma und Willi. Das kinderlose Paar hatte ihr das alte Gemäuer, halb Stall, halb Wohnhaus überraschend vererbt. Seit zwei Jahrzehnten war Fine nicht mehr hier gewesen, nun schloss sie eine Pforte auf, hinter der sie den Duft der Kindheit erwartete – Sommerglut und Apfelscheiben. Aber nein, als sie eintrat, schlug ihr ein stickiger Geruch entgegen. Der Raum geduckt und düster. War er wirklich so klein, damals, als ihr Selma hier immer die Willkommenswürstchen anrichtete. Dazu gab es Kartoffelmus mit brauner Butter und Blattsalat. Die Welt schrumpft mit dem Erwachsenwerden, dachte die Frau, bevor sie hektisch alle Fenster aufriss und wieder ins Freie floh. Da stand sie nun und schaute. In ihrem Rücken lag talwärts der kleine Damerower Auenwald und vor ihr der wunderbare Dammsee. Der Pfad durch den Wiesenhang dorthin war zugewachsen. Und im Schwesterhaus, auf der anderen Kuppe? Kein Leben. Die alte Lore Sommer war auch als sie noch lebte unsichtbar. Gestorben ist sie im gleichen Winter wie Selma und Willi, letztes Jahr. Seither standen die Kuppen verlassen im Wind.  Fine sah sich vollkommen allein, und so wollte sie es auch für eine unbestimmte Zeit. Sie ging zurück zu ihrem Transporter, öffnete die Hecktür und wuchtete mit einem Schrei den neuen  Benzinrasenmäher auf den Boden. Schnauf, das war schwer. Sie warf das Teil an, griff sich noch ein Handtuch, hängte es sich um den Hals, dann knatterte sie, alles stehen- und liegen lassend, einfach los. Mit dem Rasenmäher den Hang hinunter. Fine lächelte über diese kluge Idee, sich einen Pfad zum See zu bahnen. Während der Mäher jaulte und schepperte, dachte sie an Paul, der mit seinem Rasenmäher Laufpfade durch den Wald schnitt, zwei Meter breite, wegen der Zecken. Er hatte eine Heidenangst vor den Mistviechern, trug sogar Zeckenbänder um Hand- und Fußgelenke, wie man sie Hunden oder Katzen anlegt. Diese frisierten Waldwege würde Fine nie wieder betreten, dass stand fest und auch seinen Irrgarten aus  Phobien und Panikattacken nicht. Gelähmtes Leben – nie wieder, dachte sie.
Endlich hatte Fine den Weg in der Senke erreicht. Der Rasenmäher verstummte. Die Frau drehte sich um und grinste ihr Werk an: Schnurgerade lief der Pfad hinauf bis zu Kuppe. Sie schob den Mäher ins Dickicht der wilden Sommerwiese und spazierte weiter zum See. Kein Mensch weit und breit. Es war Montag, und die Schulferien hatten noch nicht begonnen. Fine hängte die verschwitzten Klamotten in einen Busch an der Badestelle und sprang juchzend in das klare Wasser. Sie schwamm und schwamm, lange, als wollte sie mit jedem Zug und Stoß ihr Leben reinigen. Die Last abspülen. Das kühle Nass und die tanzenden Sonnenfunken darauf  fühlten sich nach Glück an. Fine prustete, drehte sich in die Rückenlage und trieb mit geschlossenen Augen bewegungslos durch die stille Mittagsstunde.
Nicht nachdenken, nichts denken, suggerierte sie sich währenddessen. Aber das gelang ihr nicht und sie dachte: Frauen denken immer. Wenn sie nicht denken, träumen oder schlafen sie, ansonsten denken sie pausenlos: an den Liebsten, die Kinder, den nächsten Arbeitsschritt, den letzten Film, die nächste Woche, die Urlaubsvorbereitungen, den Frühjahrsputz, die Freundinnen, den Einkauf, die Spinnwebe im Bad, eine Verabredung … einfach immer und vor allem an das, was sie nicht geschafft hatten zu erledigen. Männer behaupten, befragt, an was sie gerade denken würden: „An nichts.“  Fine hat lange gebraucht, dass zu glauben. „Na, gut, dann denken sie eben seltener als ich“, sagte sie sich halblaut, klatschte trotzig mit der Hand aufs Wasser und schwamm zügig zurück an Land.
Als es an diesem Julitag dämmerte, hatte sie die alte, schwarze Küche beräumt und die Wände abgewaschen. Morgen würde sie den Raum streichen, und nach ihm den nächsten und den übernächsten. Jetzt baute sie sich ihr kleines Iglo-Zelt auf. Als sie endlich davor saß und in das letzte Brötchen von der Tankstelle reinbiss, lag die Blaue Stunde über den zwei Kuppen. Fine nahm einen kräftigen Schluck Rotwein und genoss den stillen Moment. Irgendetwas schepperte heftig dort drüben in dem anderen Kuppenhaus. Sie schaute hinüber, aber es bewegte sich nichts und es gab auch kein weiteres Geräusch mehr. Vielleicht eine streunende Katze, die dort Unterschlupf suchte, dachte sie sich und kroch schließlich todmüde auf die Luftmatratze im Zelt.

Eine Auto-Hupe weckte Fine aufdringlich. Benommen zog sie den Reißverschluss ihres Nachtquartiers auf und lugte raus. Die Frau aus dem Versorgerauto winke und schrie: „Brauchen Sie was?“
Fine nickte, griff Hemd und Shorts und stand wenige Sekunden später vor dem breiten Transporter.
„Unten, auf Gutshof haben sie mir verraten, hier oben wohne wieder eine. Ich komme immer dienstags.“, ratterte die blonde Frau mit der Hochfrisur und musterte die neue Kundin. Fine dankte: „Toll, dass Sie nachfragen.“, dann spähte sie in den Wagen und entdecke wirklich alles, was sie gerade brauchte: Brot, Brötchen, frische Wurst, Speck, Zucker, Butter, Mehl, ein paar Dosen, Gemüse, sogar Zigaretten. „Für mückenreiche Abende, eine Schachtel pro Woche, mehr rauche ich nicht mehr. Übrigens, ich bin die Fine Hellwig, war in den Kinderferien immer bei den beiden Alten in Pflege.“
„Und“, fragte die Blonde: „dienstags für immer oder nur in den Sommermonaten?“
„Für immer“, antwortete Fine und fing sich dafür einen freundlichen Blick ein, bevor die Frau mit dem Essen auf Rädern wendete und verschwand.
Gegen neun Uhr begann die Sonne zu brennen.  Fine erinnerte sich, dort in dem Schuppen waren früher die Gartenmöbel und auch ein Sonnenschirm untergebracht. Aber der Schuppen steckte in hüfthohem Gestrüpp. Die Frau warf kurzentschlossen wieder den Rasenmäher an und bahnte sich den nächsten Weg. Der Riegel an der Brettertür saß fest. Verrostet. Beim Ziehen und Zerren brach das Eisen aus dem morschen Holz. Fine fluchte: „Schitt!“ Aber die Tür war nun offen und wirklich, im Dämmerlicht entdeckte sie die alten Klappstühle aus Gusseisen und Holz und in der Ecke lehnte der bunte Sonnenschirm. Den hatten zwar die Motten gefunden, aber fürs Erste konnte sich die Neusiedlerin einen geschützten Pausenplatz einrichten. An der Schuppentür hingen eine grasgrüne Latzhose aus feinem Kort und eine Strohkappe mit rot-weiß-karierter Schleife. Wer die wohl trug. Selma war viel zu korpulent für diese fröhliche Klamotte. Gut zum Arbeiten, dachte Fine, schüttelte die Spinnen aus der Hose und stieg hinein. Sie passte. Perfekt, fand die Frau, genau richtig für den etwas nachlässigeren Dorf-Look. Nach einer Tasse Kaffee und zwei Butterbrötchen machte sich Fine ans Werk: Fenster aushebeln, Wände weißen, in deren Trockenphase die Fensterflügel schleifen, eben schaffen, was zu schaffen war an einem heißen Sommertag. Sie schwitzte, schnaufte und sang: Nicht schön, aber laut. Irgendwie aber fühlte sie sich beobachtet. Vom Schwesterhaus aus. War da wer an der Gardine? Sie schien sich hin und wieder zu bewegen oder war es nur ein Luftzug durch zerbrochenes Fensterglas? Ein bisschen mulmig war ihr schon, vielleicht sang sie deshalb so laut.
Als der Abend kam lief Fine wieder den Hang hinab, schwimmen und sich spüren. Gegenüber, am Nordufer, begann schon Mecklenburg-Vorpommern, hier war sie am nördlichsten Punkt der Brandenburger Uckermark. Sie wird all ihr Können hertragen, dann wird es auch gut gehen. „Bestimmt“, sprach sie sich Mut zu. Ein Angler winkte der Badenden vom Schilfgürtel zu, sie winkte zurück und kehrte um.

Im Briefkasten lag eine Kornblume. Fine stutzte, wer hatte die hier abgelegt? Sie spähte hinüber und der Spalt in der Gardine schloss sich indem augenblicklich, als fürchte jemand, entdeckt zu werden. Dort war wer, ganz gewiss. Fine wollte sich nicht fürchten und diesen schönen Tag mit Angst besetzen lassen. Kommt nicht infrage. Sie zog eine schützende Jacke über, griff sich das alte Luftgewehr von Onkel Willi und schlich im weiten Bogen geduckt durch die Wiesen, hinüber zur anderen Hügelkuppe. Wer oder was würde sie dort erwarten? Ganz gleich, die Schrotladung würde sie schützen: Sie kam an der Rückseite des Hauses an. Alles mutete wie ausgestorben, aber vor der Tür lagen ein paar frische Zigarettenkippen, die noch keinen Regen erlebt hatten. Jemand war hier. Fine linste vorsichtig durchs Fenster und sah erstaunt bis auf das Fenster auf der anderen Hausseite und davor hockte eine Gestalt. Ein Mann? Alt oder jung? Nicht auszumachen. Der Raum hatte nichts Wohnliches. Er war schlicht leer geräumt. Drinnen stand nur ein Stuhl, auf dem die Gestalt hockte und starrte. Zu ihr hinüber. Unverschämt, was der sich erlaubt? Fine war sauer, richtete sich stockgerade und fasste indem Mut, in das Haus zu schreien: „Was soll das? Hast du nichts Besseres zu tun, als mich zu belauern?“
Die Gestalt am Fenster zuckte zusammen und verkroch sich rasch in einem nicht einsehbaren Winkel. Fine sprang zur Hintertür, lief durch den Stall und ein paar Stufen hinauf zur Tür, die zur Küche führen musste. Sie wusste das, denn dieser Bau war der Zwilling zu ihrem. Kein Zweifel, sie griff nach der Klinke, riss die Tür auf und sah in zwei starre, tiefbraune Augen. Ein Finsterling, nicht alt, nicht jung – scheu und erschrocken.
„Ich wollte Ihnen nichts tun, Sie nur begrüßen, weil wir doch nun Nachbarn sind.“, stammelte er verlegen.
Er sah so durchsichtig und verlassen aus, dass es Fine barmte, aber sie dachte sich, schon wieder einer, der eher in die Klapse gehört. Scherbenkinder der Nachwendezeit – ein junger Alter, Mitte, Ende Fünfzig vielleicht.  Aber wie er da so stand, mit verlorenem Blick aus einem zugewachsenen Bartgesicht, senkte Fine das Luftgewehr und sagte nur: „Tach, ich bin Fine von gegenüber.“
Und er entgegnete mit einem ungelenken Diener: „Sehr erfreut, ich bin der Herr Sommer auch im Winter. War Buchhändler. Bin der Neffe von Lore.“
Sie lächelte: „Auch geerbt?“
Herr Sommer nickte.
„Und, für immer oder nur im Sommer hier?“
„Für immer. – Vielleicht“,  schob er etwas verzögert hinterher.
„Aha. Ich muss dann mal wieder, Sie haben ja sicher auch genug zu tun.“
Fine ließ den Blick schweifen, und er erklärte schnell: „Die Möbel kommen heute, ich ziehe auch eben erst ein.“
Fine nickte und lief eilig hinüber auf ihre Kuppe.

Gegen Mittag tuckerte wirklich ein kleiner Umzugslaster hinauf auf Erik Sommers Kuppe, aber Fine hatte kein Auge dafür, sie kämpfte mit einer klemmenden Dachluke und fluchte: „In meinem nächsten Leben, komm ich als Mann auf die Welt, bärenstärk und unwiderstehlich!“ Unter größter Kraftanstrengung hatte sie es endlich geschafft, die Luke zu öffnen. Nun saß sie auf dem Tritt für den Schornsteinfeger und schaute hinunter zum Dammsee. 
Auf dem Gewässer  waren unzählige Graugänse, Höckerschwäne, Blässrallen und Stockenten zu beobachten. Rechterhand wanderte ihr Blick über ein schier endloses Panorama einer sanft geschwungenen Offenlandschaft. Reich strukturiert von Hecken, Baumreihen, Söllen und Randstreifen – sichere Brutplätze im Vogelparadies unter dem großen, weiten Himmel.
Fines Augen lachten, sie konnte sich einfach nicht satt sehen an dieser landschaftlichen Pracht. Aber nun musterte sie das alte Reetdach. Oh, je, da ist vor dem Winter noch einiges auszubessern, dachte sie. Gott sei Dank, hatten Willi und Selma immer Schilfbunde unterm Dach gelagert. Für den Fall der Fälle, ein Sturm zerpflückt das Dach oder eben für Ausbesserungen.  Diese Vorsorge kam jetzt gut, denn die Preise für Reet waren inzwischen sündhaft angestiegen. Fine musste gut haushalten, wenn sie über die Winter- und Frühjahrsmonate kommen wollte, ohne irgendeinen Job annehmen zu müssen. Bis dahin wollte sie ihre kleine Touristenattraktion im Naturpark Uckermärkische Seen stehen haben: Eine Teestube, die zugleich Miniaturkunst ausstellt. Im alten Stall würde das sein.
Der war zugleich groß genug, hier Konzerte und Lesungen zu geben. Fürstenwerder ist nicht weit, und wenn es sich erst einmal herumgesprochen hat, dass hier ein interessantes Quartier zu finden ist, dann würden die Leute auch Wege auf sich nehmen, wusste die Frau. Es könnte klappen. Und schließlich gibt es ja noch die vielen Radler und Wanderer, die gerne den Dammsee umrunden und hier bei einem Glas Tee eine Pause einlegen könnten.
Vom alten Gut fuhr ein Jeep mit einer Staubfahne den Hang hinauf und hielt vor dem Haus. Ein Mann stieg flink aus und sah sich um: „Ist hier jemand?“
„Hier oben“, antwortete Fine auf dem Dach.
„Hallo, ich hab gehört, Sie haben Arbeit für mich? Zieren Sie sich nicht, ich kann alles, auch Reetdächer dichten. Gerne täglich zwei, drei Stunden bis September, dann geht’s wieder auf Montage.“
„Ja, fein, wollen Sie sich den Stall einmal ansehen? Da muss einfach erst einmal alles raus. Was brauchbar oder einfach schön ist, sollte gesäubert werden. Geht das, Herr?“
„Och, Entschuldigung, mein Name ist Schiller. Aber Sie können mich einfach Ben rufen. Sagen alle so.“ Der Mann wirkte klar und offen, einfach gestrickt, Fine sah sofort, dass eine handwerkliche Perle in ihr Projekt gesprungen war.
„Ja, und das Dach mache ich gleich“, setzte Ben nach und war schon nach oben unterwegs.

Es regnete schon den zweiten Augusttag. Fine hockte vor dem gewaltigen Bauernschrank und sortierte Selmas Sachen. Leinenhemden und Kleiderröcke, vieles zu schön zum Ausrangieren. Und diese Samtjacke, sie zog sie über und betrachtete sich im großen Standspiegel. Als sie sich umdrehte, um nach einem grünen Tuch zu greifen, starrte sie ein nasses Gesicht durch die Fensterscheiben an. Fine erschrak und schrie: „Mensch, Sommer, spinnst du?“ Sie riss entsetzt das Fenster auf und brüllte noch lauter: „Was gaffst du so krank?“
„Ich bin krank“, stöhnte Herr Sommer leichenbass, und sackte kaum später in sich zusammen.
„Mensch, Sommer, mach doch nicht so was!“ Fine rannte aus dem Haus zu dem Kauernden.
Sommer fieberte und stöhnte: „Ich hab mir den Fuß verletzt und wahrscheinlich nun eine Infektion drin.“
Fine zerrte den Mann in die Küche, warf ihm eine warme Decke um und telefonierte mit dem Rettungsdienst: „Ja, die Kuppen am Dammsee, mein Nachbar hat wahrscheinlich eine Sepsis, kommen sie schnell.“
Eine Viertelstunde später war Herr Sommer mit einem Krankentransporter verschwunden und Fine hatte versprochen, ihm ein paar Sachen nach Prenzlau nachzubringen. Sie eilte in einem Regencape auf den anderen Hang. Als die Frau in das Haus eintrat, erstarrte sie vor Schreck: Herr Sommer hatte nicht renoviert und auch nicht ausgepackt. Auf der uralten Kochmaschine standen ein Teekessel und eine kleine Eisenpfanne, davor ein Stuhl mit Blick zum Fenster und ein kleiner Tisch. Darauf ein Glas, ein Essteller und ein Besteck. In den anderen Räumen türmten sich Umzugskisten, ein schmaler Gang führte zu einem zerwühlten Schlafsofa. Sommers Nachtlager. Fine runzelte die Stirn und murmelte: „Herr Sommer ist offenbar noch nicht angekommen. Wie, verdammt, soll ich hier Wäsche und Handtücher finden? Aber sieh mal an, Herr Sommer ist ein ordentlicher. Alle Kisten sind beschriftet.“ Sie schaltete sich mehr Licht an und las, was auf den Kisten stand: Zuerst die Raumangabe – Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Bad, Arbeitszimmer, darunter minutiöse Inhaltsangaben. Aha, damit komme ich klar, dachte sie. Fine suchte, fand und packte schließlich Herrn Sommers Krankenhaustasche und brachte sie nach Prenzlau.
„Geben Sie mir Ihre Nummer, ich rufe Sie an, wenn der Mann wieder ansprechbar ist.“, meinte leise die Wachschwester auf der Intensivstation. „Offenbar, hat er ja sonst niemanden.“

„Hm, Herr Sommer ist also allein, da wäre ich ja gar nicht drauf gekommen“, blubberte Fine auf der Rückfahrt und schlug immer wieder mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Sie ärgerte sich über sich selbst. Hätte sie nicht bemerken müssen, dass mit dem Mann etwas nicht in Ordnung war? Hat sie ja, aber sie hatte keine Lust auf Psycho und nur ihre Renovierung im Kopf. Dabei war wohl die Kornblume im Kasten nur so eine Art schüchternes Gesellschaftsangebot.
Als Ben anderntags Fine suchte, fand er nur einen Zettel: „Bin auf der anderen Kuppe.“ Er staunte nicht schlecht, als er die Frau dort beim Malern antraf. „Was wird das?“
„Herr Sommer ist schwer krank. Ich will ihm wenigstens die Küche und die kleine Kammer nebenan zum Schlafen herrichten, den Rest muss er dann später selbst anpacken.“
„Das ist aber nobel“, fand Ben, „da spendiere ich dem kranken Herrn Sommer mal zwei Tage, wenn‘s recht ist.“
„Sehr recht“, erwiderte Fine und drückte ihm die Walze in die Hand, während sie nun Fenster und Türen strich.
Es waren gut zwei Wochen ins Land gegangen, als ein Krankentransport Herrn Sommer zur Mittagsstunde nach Hause brachte. Fine winkte ihm von weitem zu, sie sah, wie der Mann zögerte, die Hausschwelle zu übertreten. Als wenn er sich fürchtet, dachte Fine und machte sich auf den Weg zu ihm. Sie fand ihn stocksteif mit Tränen in den Augen vor: „Herr Sommer, um Himmels Willen, ich hoffe, ich habe Sie nicht verletzt? Wollte doch nur behilflich sein, weil Sie doch nicht konnten und jetzt gewiss immer noch zu schwach für körperliche Arbeit sind.“
Sommers Kinn zitterte und seine Lippen bebten, er stammelte voller Rührung: „Nein, nein, es ist wundervoll. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Wie kann ich das nur wieder gutmachen?“
„Müssen Sie nicht, fangen Sie einfach an zu leben, dann wird alles gut, glauben Sie mir.“
Sommer nickte. Fine hatte ihm ein paar frische Vorräte mitgebracht und lud ihn zum Grillen am Abend ein. Es würden die letzten milden Abende des Jahres sein.
Herr Sommer kam in der Dämmerung. Ben hatte gerade die Kammscheiben auf den Grillrost über dem offenen Feuer gelegt und Fine sortierte den Essplatz. Umwölkt, wie gewöhnlich, stand Sommer in der Landschaft, nur etwas war anders, er hatte ein Buch in der Hand: „Wenn Sie mögen, lese ich Ihnen eine Geschichte vor, ja?“
Ben und Fine waren überrascht: „Aber ja, das ist doch eine tolle Beigabe zu unserem Nachtmahl“, fand sie.
Herr Sommer setzte sich ans Feuer und begann. Er las und seine Stimme spielte dazu bald wie ein ganzes Orchester. Die unsichtbare Wolke über seinem Haupt war verschwunden. Herr Sommer leuchtete voller Lust und Energie. Seine Zuhörer hingen ihm an seinen sinnlichen Lippen, die eine verstrickte Liebgeschichte erzählten, die Geschichte einer einzigen Nacht. Der Vorleser nahm sie mit dorthin und ließ sie die Zeit vergessen, erst das brenzlige Röstfleisch holte die Drei ins Jetzt zurück. Sie saßen beieinander  und freuten sich. Das Feuer knisterte und Fine sagte in das stille Dunkel: „Na, mit so einem Vorleser in der Nachbarschaft wird der Winter nicht lang.“           
© Text & Zeichnungen: Petra Elsner

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Aus „Der Duft der warmen Zeit“, erschienen in der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk, bestellbar hier:

Nik und die kauzigen Eulen

Aus meinem Fundus:
Ein Eulenmärchen für Eulenfans
 
Die Nacht war schwarz und warf einen grusligen Laut in die Stille. Nik, die Maus, duckte sich, sein Herz klopfte rasend schnell. Nein, diesmal würde er die Angst besiegen, denn die Neugier war inzwischen größer, und so schlich der junge Nager durchs Revier. Auf einer Lichtung sah er im Mondschein einen stattlichen Vogel. Und weil dessen Abbild unzählige Waldtafeln zierte, wusste die Maus sogleich, wer dieser Nachtvogel war und sprach ihn vorsichtig an: „Hallo, Herr Uhu, ich wüsste gern, warum du so schauerlich die Nacht anrufst.“
Der Uhu drehte seinen Kopf beinahe im Kreis herum, bevor sein Blick die Maus traf. „Ach“, seufzte der Eulerich und schaukelte dazu bedächtig sein Haupt: „Der Legende nach, waren wir Eulenmänner vor langer, langer Zeit vortreffliche Sänger. Keiner der anderen Waldvögel konnte uns jemals bei einem Sängerwettstreit das Wasser reichen. Aber das sollte sich jäh ändern. Eines Abends wollte die Eulenfrau Cecilie zur Chorprobe ausfliegen und bat ihren Mann, das Nest und das kostbare Gelege zu hüten. Er versprach es. Doch bald schon wurde es ihm zu langweilig, und so entschied er sich, einen Gesangsschüler zu besuchen. Kaum hatte der Eulenvater das Nest verlassen, fand ein Kuckuck die wohnliche Kinderstube und legte sein eigenes Ei dazu. Am nächsten Morgen entdeckte die Eulenfrau das fremde Ei und brach einen Streit vom Zaune. In ihrer Rage warf sie den Mann einfach aus dem Nest. Traurig wanderte er fortan durch die Welt und suchte nach jenem Missetäter, der sein bitteres Unglück verursacht hatte. Und weil die Geschichte aus Amerika stammt, sprach der Eulenherr naturgemäß englisch. In seiner Verzweiflung fragte er zu guter Letzt nur noch „Who, who-hu-hu-hu … ?“ (Wer?). Und darüber hat er schließlich seinen schönen Gesang vergessen.“
Nik lauschte mit gespitzten Ohren den Worten des alten Uhus, der sich nun räusperte: „Rührselige Geschichte nicht wahr? In Wirklichkeit rufe ich nur meine Eulenfreunde zu einem nächtlichen Plausch, aber die Einladung gilt nicht für Mäuse, also scher’ dich weiter.“ …
Am liebsten wäre die Maus noch zum Plausch der alten Eulenmänner geblieben, um ein bisschen Weisheit zu erben, denn sie fand, weise sein einfach schick. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Beherzt setzte der Mäusejüngling seine Nachtpartie fort. Unweit begegnete ihm eine junge Schleiereule. „Hey!“, grüßte die Maus betont locker, während sich der Vogel nur majestätisch aufplusterte. Der zeigte nicht gern, dass er sich gerade sehr wunderte ­ eine Maus, die sich in seine Nähe traute? Eulen sind keine Kuscheltiere, sondern Jäger in der Nacht. Das wusste auch die Maus. Da es aber Weisheit nicht im Laden zu kaufen gab, musste man sich zur Quelle, also zu den Eulen selbst, vorwagen, dachte die Maus und sprach nun bedeutungsschwer: „Im Reich der Wirklichkeit gelten Eulen als Symbol für Schutz und Weisheit, und deshalb wollte ich …“ Doch schon unterbrach sie ein hämisches Lachen der Eule: „Ja-haha, und im Reich der Fantasie sind wir die Boten der Hexen und Magier, aber niemals für Mäuse. Die haben wir nur zum Fressen gern.“ Indem er das sprach, rückte der Eulenvogel bedrohlich näher, und das Mäuschen schlotterte nun: „Du wirst mir doch nicht ernsthaft ans Fell wollen, während ich die Weisheit der Eulen huldige?!“
Die halbstarke Eule raunte nur cool: „Aber sicher, Alter! Was interessiert mich dein Nachtgeflüster? Ich bin ein König der Nacht, habe Macht, was brauch’ ich Weisheit? Ich weiß nur, wenn das Futter zu viel quasselt, verdirbt es den Appetit.“
Die Maus sah, wie der Greifvogel die Flügel hob, allerhöchste Zeit, die Flucht zu ergreifen. Im sicheren Unterholz verschnaufte die enttäuschte Maus. Weisheit ist eben keine Jugendgabe, die muss man anderswo suchen …
Ach, die Maus wäre zu gern weise wie Eulen. In Gedanken versunken, schlenderte sie inzwischen weiter. Bei einem alten Landhaus hockten ein Perlkäuzchen und ein Fischuhu bedächtig beieinander. Kerzenschein flackerte durch das Fenster und warf die Kontur zweier seltsamer Gestalten in die Nacht. Die flüsterten, als heckten sie einen brisanten Beutefang aus. Um zu verstehen, was da getuschelt wird, musste die Maus dichter an die zwei Vögel heran. Im Schutz eines Blätterdomes belauschte die Maus die Eulen:
„Es ist doch ein Kreuz“, seufzte der Fischuhu, „aber es ist so ­ wir gelten immer noch als lichtscheues Gesindel. Dieser Ruf hängt uns Eulen nun schon Jahrhunderte an. Dabei hofierte man uns im antiken Griechenland als die ultimativen Weisheitsvögel. Wer dichtete uns nur den schmachvollen ‘Unglücksboten’ an?“ Der Fischuhu zauderte und rückte näher an seine kleine Gefährtin. „Was wundert dich das?“ fragte sie ihn erstaunt mit kugelrunden Augen. „Wir sind lautlose Nachtjäger. Und die Furcht der meisten Lebewesen vor der dunklen Seite des Tages ist eine uralte Angst. Die dichtet so sondersame Geschichten. Am schlimmsten war es im Mittelalter. Da nannte man uns mit Hexen im Bunde und erklärte Eulen als Teufelstiere, die mit allerlei Zauberwerk ausgestattet waren.“
„Stimmt“, pflichtete der Fischuhu ihr bei, und erzählte weiter: „Weißt du eigentlich, dass die Menschen meine Achtmal-Ur-Oma zum Schutz von Haus und Hof gegen Feuer und Blitzschlag an ein Scheunentor genagelt haben?“ „Nein, furchtbar! Was Aberglaube so anrichtet!“ ­ entrüstete sich das schmächtige Käuzchen und plusterte sich dabei so auf, als würde es gleich platzen.
Die Maus im Unterholz gruselte sich. Als die Nacht die Eulen urplötzlich verschluckte, so geräuschlos war ihr Abflug, dachte sie sich: Ja, es ist ihr Nachtleben, das sie verdächtig macht. Aber warum gilt das nur für Eulen? Ich bin doch auch ein Wesen der Nacht! Kaum gedacht, wehte ein Mark und Bein durchdringender Schrei über die Wipfel des schwarzgrünen Waldes und erschreckte die Maus. Unwillkürlich duckte sie sich, nur einen Moment lang, dann nahm sie Reißaus …
 
Längst hatte den jungen Mäuserich ein mulmiges Gefühl beschlichen. Sein Lauf wirkte unsicher als wankte die Erde unter ihm. Die Schauergeschichten der Eulen saßen ihm im Nacken, und er hatte den Rat seiner Großmutter vergessen: „Suche dir eine Eulenfeder, stecke sie dir an, und du wirst die Angst vor den Schatten der Dunkelheit verlieren.“
An die Feder hatte die Maus nicht gedacht. Was also gegen die Beklommenheit tun? Das Fell des Mäuschens flimmerte, als ihm endlich der Baum der fröhlichen Gefühle in den Sinn kam. In der Morgendämmerung erreichte Nik den säuerlich schnuppernden Ort und naschte sogleich gegorene Früchte. Zu viele auf einmal. Zwar wich augenblicklich die Furcht aus seinen Gliedern, doch nun torkelte der Winzling ziellos und großmäulig krakeelend über das weiche Moos. Aus den Nestern und Höhlen des Waldes riefen allenthalben die Bewohner: „Gib’ Ruhe, du Trunkenbold!“ Doch der Mäuserich trällerte unbeirrt: „Ich wandre ja so gerne durchs finstre Waldrevier, hoch über mir die Ster-er-ne, was will die Eule mir? Den Hexenvogel jag’ ich fort, ohn’ Bang’, ganz heldenhaft …“
Im Erwachen fand sich das Mäuschen auf einer kahlen Astgabel wieder. Sein Kopf dröhnte, und es traute seinen Augen nicht: Neben ihm hockte eine prächtige Waldohreule. Die blinzelte ihm freundlich zu: „Keine Sorge, ich tue dir nichts. Ich habe dich nur in einem jämmerlichen Zustand auf einer Wegkreuzung gefunden und konnte dich einfach nicht so liegen lassen. Außerdem bin ich gerade auf Diät, du hast also nichts zu befürchten.
Der Mäuserich rappelte sich und betrachtete den flauschigen Vogel: „Bist du ein Hexenfreund?“, fragte er schließlich. „Du meine Güte“, schüttelte sich die Eule und spitzte die Federohren, „du bist doch eine moderne, aufgeklärte Maus! Glaubst du etwa noch an Hexen?“
„Nicht wirklich“, antwortete kleinlaut die Maus. „Das wäre ja auch eigenartig“, entgegnete milde die Eule und sprach nun eilig: „Ich muss zu meinen Jungen.“ Die Maus konnte gerade noch vortragen: „Schenkst du mir zum Abschied eine Feder?“ Die Eule schmunzelte: „Ah, damit du besser durch die Nacht kommst? Nicht abergläubisch, ha!“ Sie zupfte sich eine Feder aus, schenkte sie der Maus und schwebte davon …
Nachtwind tanzte in den schwarzen Wipfeln des Waldes. Noch piepste die Maus ganz leise eine feierliche Ode an den Mond, als dicht bei ihr zwei Schneeeulen landeten. Niks Stimme verstummte sofort, denn ihm war wohl bekannt, wenn diese Flieger im Revier aufkreuzen, herrschte Dürre in der arktischen Speisekammer. Nur dann zogen sie ‘gen Süden. Aber ansehen musste sich das Mäuschen die königlichen Geschöpfe doch. Und weil jene weit gereist waren, dachte es sich, diese Exemplare seien besonders gescheit. Im sicheren Versteck wartete die Maus, bis die Schneeeulen ihre Jagdflüge beendet hatten. Als die zwei endlich satt in der Zeit dösten, wagte es eine Begegnung: „Guten Abend, ihr Vögel von Welt. Wie war eure Reise?“ Ein wenig herablassend schauten sie schon auf die Maus und entgegneten doch: „Wir haben eine Botschaft für die Tiere des Waldes ­ die Gletscher schmelzen.“ Die Maus zupfte sich nachdenklich am Ohr und fragte: „Ja, gut, aber was bedeutet das?“ Die Eulen hoben ihre mächtigen Schwingen: „Nichts Gutes, nur was genau, das wissen wir auch nicht.“
Erstaunt meinte die Maus: „Ich denke, Eulen sind so super schlau.“
Da heulten Eulen laut auf: „Märchen, Legenden! Eulen sind nicht weise. Nur weil wir tagsüber unsere Augen vor dem Licht schützen, schauen wir mit zerfurchter Mimik ins Land. Unser Antlitz ähnelt dann einem Greisengesicht. Und weil bei den Menschen die Alten über Jahrtausende das Wissen der Sippe hüteten, hat man uns mit jenen verglichen. Seither gelten Eulen als klug und weise.“
Was für eine Offenbarung! Missmutig knautschte die Maus: „Da riskiere ich mein Fell, um von den Eulen Weisheit zu erben, und dann ist da nichts als ein Faltenwurf zu entdecken.“
„Na, na“, raunte eine der Weißen, „nun sei nicht enttäuscht, Lebensschläue findet sich überall, und unter den Alten jeder Art gibt es auch Weise. Oder hast du etwa nichts unterwegs gelernt?“ „Doch“, schluchzte die Maus. „Siehst du!“, ermunterte ihn die Schneeeule: „Wer seine Furcht vor der Stärke der anderen überwindet, ist auf einem guten Weg, selbst klug zu werden. Also stell’ weiter deine Fragen an die Welt und alte Eulen. Wir müssen jetzt die Gletscherkunde zum Nächsten tragen.“ …
Eine kleine Weile bedachte sich die Maus. Weisheit ist also nicht einfach erbbar. Wirklich schade. Aber sie scheint allein in den alten Lebewesen zu wohnen. Wie der Mäuserich so seine Annahme respektvoll benickte, fand er augenblicklich, dass das Älterwerden doch auch etwas Gutes mit sich bringen muss. Bisher erschien ihm das wenig erstrebenswert, denn auf den Prachtpfaden des Waldes tummelten sich nur die fitten, die coolen und die schönen Wesen und gaben sich dabei als Nabel der Welt. Die schwachen oder faltigen Tiere sah man nur am Rande, in den wind-schlüpfrigen Quartieren. Und dort hüteten sie das Wissen der Waldwelt? In den dürren Winkeln, wohin sich die Jungen kaum verirrten? Die Maus grübelte im Gras. Das muss man doch ändern, nur wie? Irgendein Waldkauz holte mit seinem „Kuwitt“-Ruf die Maus aus ihren Gedanken. Das klang wie „Komm’ mit!“, und viele glaubten noch, dass dieser Ruf geradewegs ins Reich der Toten lockte. Aber die Maus, die mit den Eulen sprach, fürchtete nur noch deren Futtersuche. Denn wenn sie satt waren, konnte selbst eine Maus von ihnen viel erfahren und alle üble Nachrede löste sich in Dunst auf.
Im Morgengrauen tapste ein mutiges Mäuschen durchs Waldgeviert. Müde schaute es sich nach einem Schlafplatz um. Es war eben jene Stunde, in der sich die Nacht hob und die Eulen ihre Jagdzeit beendeten. Auf einem alten knorrigen Baum sangen zwei Sperlingskäuzchen leise ihre „Hü-Hü“-Weise. Sie klang für die Maus wie ein weiches, melodisches Schlummerlied. Dort streckte sie die Glieder nieder und warft den allerkleinsten Eulen der Welt einen fröhlichen Gruß hinüber. Morgen, würde sie weiter suchen, doch ahnte sie jetzt schon ­ das Glück blüht gern im Verborgenen …
Der Mond stand schon hoch, als den Mäuserich etwas an der Nase kitzelte und er erwachte. Was da krabbelte, war die Feder der Waldohreule und sogleich fiel ihm ein, dass er ja heute zum Waldrand wollte. Ein weiter Weg. Lange lief er über holprige Pfade quer durch das Dickicht, bis sich der Wald endlich lichtete und den Blick über ein großes Feld und einen weiten Nachthimmel darüber freigab. Dort pausierte er und genoss das laue Lüftchen. Über der Maus knackte es plötzlich: „Was verschlägt dich denn in diese windgebeutelte Gegend, Junior?“ Der Eintreffende sah hinauf zu einem kahlen Baum und entdeckte eine alte Eule. „Oh, Eulchen, die Neugier“, erwiderte ehrlich der Mauspelz.
„Interessant. Und was ist es, was dich umtreibt?“, wollte der zauselige Vogel wissen. „Nun, ich wüsste gern, wie man weise wird. Muss man erst alt werden, um diese Gabe zu erlangen?“ „Nicht unbedingt“, antwortete bedächtig die Eule. „Es kommt darauf an, wie man lebt.“
„Wie meinst du das“, fragte die Maus weiter und kauerte sich dazu ins trockene Grasbett. „Eigentlich beginnt der Weg zur Weisheit mit der Neugier, und die, Junior, die piekt dich ja schon“, frohlockte die Eule. „Aber es ist schon so, man muss reifen, damit aus dem Erlernten Gewissheit und schließlich Weisheit wird.“
„Hm“, druckste die Maus: „Aber wie kommt es, dass die alten Waldwesen, die ja wohl die größte Reife besitzen, derart an den Rand gedrängt leben?“ Die Eule blinzelte betroffen: „Ach, das ist schon lange so und begann mit der Erfindung der Schrift. Seit die Wesen ihr Wissen nicht mehr nur mündlich weitergeben, glaubt man, den Rat der Alten nicht mehr wirklich zu brauchen. Und damit schwand ihr Ansehen und ihr Einfluss.“
Die betagte Eule sank mit diesen Worten in sich zusammen und seufzte nur noch ein sinnierendes „Huhuhu.“ Der Mäuserich spürte dabei einen Kloß in der Kehle und glaubte, dass es jetzt besser sei, die schlaue, alte Eulendame nicht weiter zu befragen. Leise schlich er davon, aber er wird wiederkommen …
Das Mäuschen hatte einen guten Schlafplatz in einem hohlen Stamm gefunden. Plötzlich drängten sich Stimmen in seinen Halbschlaf. Nik lugte aus dem Loch, aber er konnte nur einen Bartkauz entdecken, der, offenbar mit einer anderen Eule, die Nachricht der Schneeeulen besprach: „Wenn die Gletscher schmelzen, wird es wohl überall wärmer. Und wenn es wärmer wird, wandern womöglich die Tiere des Südens in unseren Wald. Dann wird es eng hier. Ja“, unkte die andere Eule weiter, „und vielleicht auch die des Nordens. Die Eisbären. Auwei! Dann wird es gefährlich hier!“ „Quatsch!“, ärgerte sich der Bartkauz über diesen Unsinn, „die kämen nur, wenn es kälter werden würde.“ „Aber wenn es nirgendwo mehr kalt ist?“, fragte die andere Eule. „Du solltest gelegentlich den Buschfunk hören“, riet ihr der strenge Kauz. „Der alte Uhu hält dort immer gute Vorträge über die Wettertendenzen.“ „Hat er ‘was über die Gletscher gesagt?“ „Ja.“ „Und was?“ „Dass sie schmelzen.“ „Nicht mehr?“ „Doch. Einerseits seien die Menschen mit ihrer Verschwendungssucht daran schuld. Andererseits sei das Klima – erdgeschichtlich gesehen – noch nie so konstant gewesen wie in den letzten 1000 Jahren.“ „Und?“, trat die andere Eule von einem Fuß auf den anderen. „Was bedeutet das?“
„Dass das Wetter stabil ist, aber sich verändert – langsam. Du weißt doch, in der Natur ist alles auf Kampf angelegt. Jetzt holt sich das Wasser gerade das Land zurück …“
Die Maus grübelte im hohlen Stamm: Wasser und Land kämpfen miteinander? Das hatte die Maus noch nie bedacht. „Und was kann man tun“, fragte weiter die andere Eule. „Es akzeptieren“, murrte der Bartkauz. Dann herrschte bedeutungsschwere Stille.
Die Maus wunderte der Gedankenschluss des Kauzes nicht. Nur im Märchen könnte sie jetzt loslaufen, um die Gletscher zu bitten, nicht zu tauen und das Wasser, nicht das Land zu fluten. Und die Menschen? Bemerken sie nicht die Bedrohung? Und könnten sie sie abwenden? Die Eulen müssten ihnen ein Warnzeichen geben, dachte sich der Mäuserich und wollte mit dem Uhu darüber sprechen …
Die Maus hatte indes den Uhu überredet, alle Tiere des Waldes zusammenzurufen. Denn der Uhu hatte sich erinnert, dass jede Eulensippe seit jeher ein kleines Symbol bewahrte, das mit anderen zusammen eine magische Formel ergeben würde. Es galt nun zu erfahren, ob auch andere Tiere solche Symbole besitzen, und wie sie ihren Zauber entfalten.
An jenem Abend trafen sich alle Tiere des Waldes. Zuerst kamen paarweise Füchse, Hasen, Rehe und Wildschweine mit ihren Kindern auf der Lichtung an. Ihnen folgten die halbstarken Tiere, deren Ankunft wie ein Auftritt von Filmstars anmutete. Zuletzt flogen und tippelten die alten Tiere herbei und platzierten sich in der letzten Reihe. Nun standen sie alle unter dem Mondlicht und hörten, was der Uhu von den schmelzenden Gletschern zu erzählen hatte. Am Ende sprach er eindringlich: „Wir müssen den Menschen ein Achtungszeichen setzen, denn nur sie können das Unheil noch abwenden. Dazu brauchen wir alle magischen Zeichen, die euch eure Ahnen mitgegeben haben.“ Der Uhu zückte unter seinem Flügel ein kleines metallenes Symbol hervor: „Seht her, ich meine solche oder ähnliche. Wer so etwas besitzt, lege es zu meinem.“
In der Runde der Tiere schaute eines zum anderen. In den vorderen Reihen kannte keines ein solches Zeichen. Doch von den hinteren Plätzen drängte nun von jeder Eulenart eine sehr, sehr alte Gestalt in den Tierkreis. Staunende Blicke begleiten sie. Nacheinander legen die zauseligen Wesen je ein Symbol auf den Waldboden und benannte es: „Dieses steht für Raum und Zeit“, krächzte die erste Eule. Die Zweite brachte ein Feuerzeichen. Erd-, Luft- und Wasserzeichen folgten. Dazu gesellten sich ein Kraft- und ein Harmoniesymbol. Und wie sie nun aneinandergereiht lagen, trat ein uralter Kauz hervor und sprach: „Durch Raum und Zeit fahre Kraft und Harmonie in die Elemente.“ Auf einmal hielt er ein gleißendes Licht in den Federspitzen und rief: „Kommt nun alle, nehmt dieses Licht und bestrahlt damit alle Schutzschilder, damit den Menschen beim Betrachten ein Licht aufgehe.“ Gesagt, getan. Als jedes Tier ein Licht vor sich hielt, zogen sie in alle Himmelsrichtungen und übergossen in einer einzigen Nacht sämtliche Schutzzeichen des Waldes …
Alles war vollbracht. Doch ein wohliges Gefühl aus Stolz und Freude ließen Nik nicht zur Ruhe kommen. Kein Wunder, schließlich hatte er mit all den anderen Tieren erlebt, dass die Eulen doch ein Geheimnis bewahrten. Lange, endlos lange durch die Zeit. Dabei hatten sie sich ihm gegenüber doch so viel Mühe gegeben, allen Zauberglauben über die Eulen zu zerstreuen. Was ist nun wirklich wahr?
Als die Abenddämmerung in den Wald fiel, beobachtete die Maus einen Menschen, der gerade seinen Wohlstandsmüll ankarrte. Plötzlich hielt dieser inne, kratzte sich verlegen das schüttere Haar und schob sodann seine Fuhre zurück ins nahe Dorf. Irgendetwas gab ihm lautlos dieses Zeichen. Die Maus wusste natürlich, dass es das lichtgetränkte Eulenschild am Wegesrand war, dass jene denkwürdige Umkehr auslöste. Erleichtert, weil der Eulenzauber wirkte, tänzelte der kleine Nager in Feierlaune über das Astwerk einer mächtigen Eiche. Sein Juchzen lockte einen kindlichen Waldkauz aus seiner Höhle: „Was feierst du?“ Kaum steckte der Nesthocker sein Köpfchen aus dem Baumloch, schwebte eine Eulentante zur Nachtwache herbei. Nik grüßte und fragte unumwunden: „Eulchen, kannst du mir etwas erklären?“
„Nur zu“, antwortet es warmherzig. „Nächtelang war ich unterwegs, um von den Eulen Weisheit zu erben. Dabei erfuhr ich, dass alle Eulenlegenden nur ängstliches Gespinst seien. Und nun hat gestern die Eulenfamilie einen mächtigen Zauber inszeniert. Was soll ich nun glauben?“
Die Eulentante flüsterte plötzlich. „Mäuschen, nicht die Eulen. Wir sind nur die Hüter des Naturzaubers. Die Zeichen haben wir vor hunderten von Jahren von den Elementargeistern bekommen. Keine Eule kann ein Symbol allein benutzen. Und nur in allerhöchster Not, also wenn es um das Überleben des Waldes und seiner Bewohner geht, dürfen diese Urgeister um Hilfe angerufen werden. Denn der Wald wird mit ihrem Zauber zu einem heiligen Forst und einem magischen Ort der Besinnung.“ Die Eule wisperte die letzten Worte sehr, sehr leise, damit kein Unbefugter in das Wunder des Waldes eingeweiht wird. Und Nik wusste indem – der Rest ist Schweigen …
© Petra Elsner
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Der Grasflüsterer

Der Grasflüsterer legte eins seiner mächtigen Segelohren auf den winterdürren Boden. Er hörte nichts, gar nichts. Das Ostergras wollte einfach nicht wachsen. Dabei hatte er Ambrosius ganz fest zugesagt, er würde dieses Jahr echtes BIO-Ostergras liefern. Keine gefärbte Holzwolle, kein Bambusgras und schon gar nicht irgendwelchen giftgrünen Plastikmüll. „Es ist einfach zu kalt!“, brummte der Grasflüsterer vor sich hin. Im Winter mild, im Frühjahr lausekalt. Die Kahlfröste hielten die Landschaft grau, was die Osterfest-Designer zu immer schrilleren Kreationen animierte. Ambrosius, der echte Osterhase, hatte über die Zeit eine tückische Farb- und Synthetik-Allergie entwickelt, die ihn stets im Ostergeschäft mit geschwollenen Augen und Niesanfällen plagte und schwächte. Deshalb hatte er den Grasflüsterer um einen Rat ersucht. Denn Balduin, der Grasspezialist, wusste ganz genau, wie der Boden klingt, wenn die Graswurzeln wachsen. Er hatte gewissermaßen akustische Sensoren, die dem unterirdischen Leben nachspüren konnten. Dieses Frühlingserwachen ist eine leise zauberhafte Symphonie der Erdkörnchen. Kaum vernehmbar.

Doch die Wurzeln schwiegen im Kälteschock. Eisiger Ostwind fegte über Balduins struppig grau-braune Wiesen. Der Mann erhob sich und holte erst einmal einen leichten Federbesen herbei, um Luft in die verdorrte Grasnarbe zu bringen. Aber das Wetter blieb knochentrocken und der Wind hob gleich im Erwachen des Tages sie letzten Tautropfen auf. Balduin brachte sein Stethoskop herbei und horchte nun noch tiefer in den Boden, doch er hörte nur das Schnarchen der Grasfrösche, die nicht wie üblich schon im Februar erwacht waren.
Ein schlechtes Zeichen. Und dann röchelte noch ein durstiges Stöhnen in Balduins schönes Segelohr. Er flüsterte: „Verstehe, hier reicht nicht einmal ein langer Regen. Ich hole euch ein heilsames Weihwasser herbei.“ Balduin hatte das selbst noch nie herstellen müssen, aber er erinnerte sich an eine Zeremonie, die sein Großvater in einem schlimmen Dürrejahr vornahm. Der war auch schon als Grasflüsterer für die Osterhasenzunft tätig. Er hatte sein gesamtes Wissen feinsäuberlich in grasgrünen Heften notiert.

Balduin ging nach Haus, stieg auf den Speicher und holte sich all die Notate in seine Werkstatt. Er hatte Mühe die Schreibschnörkel zu entziffern, aber nach und nach kam er mit dieser Handschrift zurecht und vertiefte sich in die alte Graskunde. Er las und las und nickte immer wieder in sich hinein. Er kannte all das, was er las. Erst als er das Heft Nummer 7 aufschlug, war er überrascht. Es enthielt Gras-Rituale, die alle möglichen Wachstumsprobleme vorstellte und mit welchen Flüstersprüchen sie zu lösen waren. Endlich fand er den Absatz: „Wenn das Ostergras nicht rechtzeitig wächst.“ Da stand: „Gehe schweigsam zum Bach und schöpfe klares Wasser in der ersten Morgenstunde. Trage es nach Hause und bespreche es in einem dunklen Raum mit den Worten: Du sollst die Graswurzeln erwecken. Dann gehe zu den Wiesen und beträufele sie mit diesem heilenden Wasser. Hernach kniee hin und flüstere dem Gras diesen Wachstumsspruch zu. Er ist geheim, niemand darf ihn hören.“
Balduin suchte den Spruch, aber da war nur eine Lücke in der Zeile. Ah, Geheimschrift, dachte er bei sich und trat hinaus in die Märzsonne. Als das Licht die leere Zeile traf, erschien der verborgene Spruch. Der Grasflüsterer lächelte und ging am nächsten Morgen seinem Vorhaben nach: Er schöpfte schweigsam klares Bachwasser, tätigte das alte Ritual, beträufelte seine Wiesen und kniete sich am Ende auf die Winterbrache. Hinter vorgehaltenen Händen flüsterte er den Großvaterspruch in die Erde. Niemand konnte ihn hören, nur die Graswurzeln. Kaum später vernahm Balduin ein Rascheln und Knistern aus der Tiefe des Bodens. Ein Landregen fiel und zwei Tage später begann das Ostergras ganz wundervoll zu sprießen. Am Gründonnerstag war es soweit. Der Grasflüsterer konnte der Hasenzunft frisches Ostergras liefern. Echt BIO und Ambrosius vollbrachte vier Tage später sein alljährliches Frühlingswunder völlig niesfrei und mit klarem Blick.

Text/Zeichnungen: Petra Elsner

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Der Herr Dezember und der Zeitzauberer

Der fabelhafte Herr Mermel zaubert Schnee.

Eine Weihnachtsgeschichte

Der Herr Dezember hatte dem Zauberer versprochen, pünktlich zu sein, aber er war nicht gekommen. Er sollte ein bisschen Schneegestöber für den 1. Advent mitbringen, doch offensichtlich war daraus nichts geworden. Wo er nur steckte? Hatte er sich im Kalender verirrt, irgendwo zwischen den Zahlen und Zeiträumen? Oder war er umwölkt versunken in einem Herbsttief? Über dem Weihnachtsmarkt verschwand eine späte Herbstsonne vom Abendhimmel und die Kinder schwitzten unter ihren dicken Mützen, denn er, der fabelhafte Herr Mermel hatte ihnen Schnee und Kälte versprochen. Und nun? Natürlich war der Zauberer Mermel auf alle Eventualitäten vorbereitet. Er griff in seiner Manteltasche nach dem großen lila Fächer und dem winzigen Päckchen Papierflocken. Unsichtbar für die vielen Kinderaugen nahm er sich eine Hand voll Flocken und ließ sie nun langsam zwischen den Fingern herabrieseln. Mit der anderen Hand fächerte er den Flocken Luft zu und augenblicklich sah es so aus, als würde er einen kleinen Schneesturm herbeizaubern. „Oh!“ und „Ah!“ rauntes es um den Schneezauberer. Der unerwartete visuelle Effekt rettete ihm seinen Abgang. Den aber hatte sich der fabelhafte Herr Mermel ganz anders vorgestellt. Er war mit seinen Flocken von der großen Weihnachtsmarktbühne gesprungen und tauchte mit hängenden Schultern in der Menge ab. Dabei dachte er eben noch, gerade hier, wo die Menschen sich auf das hohe Fest einstimmen, könnte er etwas über die geheimnisvollen Phänomene der Weihnachtszeit erzählen. Er wollte ihnen diesen sonderbaren Raum erklären, in dem die glücklichste Zeit wohnen kann, wenn man sie hineinlässt. Vielleicht hätte er dem Publikum auch noch verraten können, weshalb die Zeit darin mal schneller und mal langsamer voranschritt. Denn er wusste: Zeit ist das größte Geheimnis und Glück überhaupt. Aber zu der rechten Zeit gehört auch das richtige Wetter. Wo nur war der Herr Dezember mit seinem versprochenen Schnee abgeblieben?

Der goldene Wächter des Kalenders stoppte den Lauf der Zeit. Natürlich durfte er das gar nicht, aber er hatte einen Pakt mit der Gier geschlossen. Er lachte dazu hämisch und stampfte seinen mächtigen Spieß fest in den Kalenderboden. Auf der Lanzenspitze stecke eine Schneekugel, die den geschrumpften Herrn Dezember gefangen hielt. Seit sieben Jahren schnippte der Kalenderwächter den Schneewinter aus der Jahreszeit und ließ damit den Herr Sommer übermächtig werden. Der gefiel ihm viel besser, denn im Sommer gab es nicht diese besinnliche Zeit, in der sich die Herzmenschen einander zuwandten und das hektische Treiben aus ihren Festtagen verdrängten. Dieses Menscheln um das große Geheimnis der Dezemberzeit nervte den Wächter. Er glaubte die Macht zu besitzen, diese festliche Stille gegen das Motto „Zeit ist Geld“ austauschen zu können und schob es nun mit voller Wucht den Menschen in die Nacken.

Der fabelhafte Herr Mermel ahnte Schlimmes. Er eilte in seine Werkstatt und zauberte sich einen Gehilfen, einen Zeitengel, den er aussandte, den Herrn Dezember zu suchen. Der Zeitengel durchstöberte sorgsam jeden Winkel des Kalendariums. Dabei war ihm aufgefallen, dass auch der Herbst zu schrumpfen begann. Bald gelangte er an die Lanze des Wächters und sah was geschehen war. 
Der fabelhafte Herr Mermel hatte eine Idee: Er zauberte tausende Zeitengel mit Bauchläden voller Wunderzeittüten. Auf jedem Marktplatz der Welt standen sie am Heiligen Abend und verschenkten Wunderzeittüten mit Schneekugeln darin. Noch in dieser Nacht schüttelten unzählige Kinderhände einen Wintersturm herbei, der den Kalenderboden ins Wanken brachte. Die Macht des gierigen Wächters verwehte, denn er konnte gegen das Wünschen und Träumen nicht ankommen. Ein alter Zeitmeister erschien, riss die Lanze aus der Kalenderzeit und verjagte schließlich den haltlosen Wächter aus dem Amt. Der Herr Dezember kam frei, er streckte sich zu voller Größe und seine Wunderzeit begann.© Petra Elsner

 

 

 

Märchenzeit

Die Stallweihnacht

Das Feuer im Kamin knackte und tanzte, aber im Stall war es noch kalt.  Marie fröstelte, während sie ein weißes Tuch über den großen Esstisch warf. Den ganzen Sommer über hatte sie mit ihren Freunden den alten Stall entrümpelt, gekärchert, die Fenster abgebrannt, geschliffen,  gefirnisst und schöne alte Dinge aus der Scheune zum dekorativen Leben erweckt, um in diesem urigen Ambiente die Weihnacht zu feiern. Fern vom Lack der Stadt und ihrem Getöse. Gemeinsam wollten sie den Baum schmücken, doch Marie war allein. Es schneite seit Tagen und der Hof im Ausbau lag abgeschnitten in der ländlichen Weite. Max war auf der Autobahn in eine Karambolage geraten, und die Freunde Sophie und Johannes saßen mit ihren Zwillingen im Züricher Flughafen fest. „Hier geht nichts mehr“, simste Sophie. Doch von irgendeinem Hoffnungsfunken angetrieben, bereitete Marie das Fest vor. Neunerlei Speisen würde es geben, so wie es Großmutter immer zur Heiligen Nacht auftischte.  Im Mai hatte Marie ihren Katen geerbt und wollte ihn als stilles Sommerquartier nutzen. Im Dorf fand das keiner so richtig gut. Nur der Ortsvorsteher sprach aus, was alle dachten: „Wieder ein Haus mehr ohne Augen im Winter.“ Doch dann kam alles ganz anders.

Marie stützte ihren Rücken mit den Händen, um von ihm kurz die Last ihres Leibes zu nehmen. Dazu flüsterte sie: „Alles wird gut, du wirst im Grünen leben.“  Es dämmerte draußen. Während die Frau das Kerzenlicht in den Stalllaternen anzündete, brach die Musik im Radio jäh ab. „Auch das noch!“, fluchte Marie. Der Strom war weg. Ein Blick aus dem Fenster verriet, dort hinten, wo das Dorf lag, herrschte auch Finsternis, sie brauchte also keine Sicherung zu suchen. Marie hockte sich in den Schein des Feuers und wartete beklommen. Eine Stunde vielleicht. Da tuckerte plötzlich schweres Motorengeräusch heran. „Hallo, jemand Zuhause? Ich bringe den Baum“, polterte es an der Tür. Marie erkannte die Stimme von Förster Paul und öffnete die Haustür. „Hallo kleine Frau, weil der Mann den Baum nicht geholt hat, dachte ich, es ist was passiert und wollte einfach nachsehen. Ist alles in Ordnung?“ „Ja schon, bis auf Schnee, Stau und flüchtigen Strom!“ Marie lächelte, als sie sah, dass der Mann mit dem Schneepflug gekommen war: „Oh, toll, da wird mein Max vielleicht doch noch heute durchkommen.“ „Jedenfalls das letzte Stück ist frei“, brummte Paul in seinen verschneiten Bart. Wohin soll denn das Prachtexemplar“, kam er wieder zur Sache, und Marie deutete hinunter zum alten Stall. „Och, das ist ja romantisch hier! Wo ist denn der Baumständer, ich setze ihn gleich ein.“ Und das tat er dann auch. Marie reichte Paul einen heißen Pott Kaffee und seufzte, „was für eine schöne Tanne! Nur werde ich sie wohl ganz alleine bestaunen.“ Paul räusperte sich und druckste: „Ich muss dann mal wieder.“

Zwei Stunden weiter hatte Marie den Baum festlich geschmückt. Der Strom fehlte immer noch, als es abermals an der Haustür klopfte. Es waren drei Männer in Overalls, die frierend von einem Bein auf das andere traten. „Frohe Weihnachten! Entschuldigen Sie, Frau, wir sind mit dem Werkstattwagen im Schnee steckengeblieben“, sprach der Älteste. „Können wir uns bei Ihnen ein wenig aufwärmen?“ Marie war die Situation nicht geheuer, aber sie sah in den Augen der schlotternden Gestalten keine Arglist. Es war ihr nicht recht, aber sie sagte: „Dann kommen Sie schon herein.“
Sie hatte begonnen auf dem Kaminofen ihr Festmahl zu bereiten, dabei erklärte sie den ungebetenen Gästen: „Dieses Essen symbolisiert Lebenswünsche. Hier, die Bratwurst und das Sauerkraut bewirken Herzhaftes und geben Kraft. Die roten Rüben stehen für Freude. Brot und Salz bringen Segen ins Haus und gute Gäste. Schweinebraten mit Klößen bedeuten Wohlstand und viele Taler. Kartoffelsalat steht für Fleiß und Sparsamkeit, die Linsen für Kleingeld, der Sellerie für Fruchtbarkeit. Nüsse schenken ein langes Leben und die Milch die Schönheit.“  Die Männer am Tisch strahlten, aßen genüsslich und erzählten sich die Weihnachtsbräuche ihrer Familien. Dann legte sich die Stille im Stall wie Tau auf die Seelen der Menschen darin. Max staunte nicht schlecht, als er im Morgengrauen drei schlafende Männer im Heu entdeckte: „Kaspar, Melchior und Balthasar“, witzelte er.  „Nein, Karsten, Mike und Bodo, nicht die Heiligen drei Könige, und das Kindchen ist, Gott sei Dank, auch nicht gekommen“, erwiderte der Ältere und rieb sich dabei die Nacht aus den Augen.  Als Marie erwachte, waren die Blaumänner längst aufgebrochen. Max hatte ihren Werkstattwagen mit dem Trecker aus der Schneewehe gezogen, so konnten sie endlich aufbrechen. Im Briefkasten steckte ein schmuddeliges Kuvert. „Danke!“ stand auf einem Zettel, und dabei lag ein kleines Goldstück, etwas Myrrhe und Weihrauch.                                         

Text & Zeichnungen: Petra Elsner, die Geschichte befindet sich in meinem Weihnachtsbuch “Von der Stille des Winters”.

 

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Weiße Weihnacht mit Ariella

 

Der Mond schien zu lächeln, als er aus seinem Nachtblau Ariellas Tanz zusah. Unter den wallenden Röcken der Nebelfee versank die Schorfheide mit ihren kleinen Buschdörfern wie in einer milchigen Wolke. Es würde zwar keine Schneeweihnacht werden, aber eine weiße. Weiß waren auch Ariellas ständigen Begleiter: Der schnelle Hirsch Vitus und Nele, die hellwache Schleiereule. Vollkommen unsichtbar reisten Hirsch und Eule mit der Fee, und so hatten weder die Jäger noch die Waldarbeiter die wundersamen Albinos jemals gesehen.
Jonas, der junge Designer, raste mit seinem kleinen Auto die Landstraße entlang und fluchte. Er war viel zu spät dran, längst hätte diese merkwürdige Robe dort hinten auf dem Rücksitz geliefert sein müssen. Doch erst auf den letzten Drücker überließ ihm der Großvater diesen geheimnisvollen Auftrag. Den alten Schneidermeister hatte eine heftige Erkältung erwischt, die nicht enden wollte. Jonas entwarf gerade eine neue Strandmode für die nächste Saison, da raubte ihm die unerwünschte Näharbeit an der altmodischen Klamotte wertvolle Zeit. Wer bestellt denn heute noch mitten im Winter einen Mantel? Einen roten Kapuzenmantel – wer trägt denn so etwas? Und diese Lieferadresse: „Abzulegen am Heiligen Abend, um 16 Uhr, auf den Stufen zum Postamt in Himmelpfort.“ Sehr eigenartig. Der eilige Fahrer wischte wirsch an seiner Frontscheibe herum, als könnte er so eine Nebelbank lichten, doch stattdessen krachte es plötzlich dumpf, das Auto scherte aus und donnerte jenseits der Piste in einen Wassergraben und dampfte.
„Bin ich tot?“, fragte Jonas, denn er sah in ein weißes, fließendes Gesicht. Ariella schüttelte ihren Kopf: „Offenbar nicht.“ Der junge Mann versuchte sich aus seiner misslichen Lage zu befreien: „Dann muss ich ganz schnell – au, au, au …!“, doch er spürte seine Blessuren, und das Auto saß fest. Als die Nebelfee einmal um den Wagen geweht war und ihm schließlich Vitus und Nele vorstellte, dachte Jonas bei sich, das ist auf gar keinen Fall die Wirklichkeit. Aber so schlecht gefiel ihm diese Traumzeit nicht, zumal Ariella befand, sie könnten ja auch auf dem Hirsch nach Himmelpfort reiten, um das rote Gewand noch rechtzeitig abzugeben. Schließlich wäre es ja der Mantel für die Hauptperson des Abends. Der Hirsch galoppierte wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil über die Nebelschwaden hinweg und holte indem die Zeit ein, die Jonas irgendwo verloren hatte. Vor dem alten Posthaus angekommen, sprang Ariella mit dem roten Bündel vom Rücken des Hirsches, und genau hier stoppte die Handlung in Jonas Erinnerung.  
Als er wieder zu sich kam, befand er sich auf einer Unfallstation. „Ah, da ist er ja wieder“, hörte er eine Stimme sagen und sich: „Wie komme ich denn hierher?“ „Keine Ahnung“, meinte die Krankenschwester. „Sie lagen vor der Tür. Eine weiße Eule hockte auf ihrem Bauch und schrie uns herbei. Jonas rieb sich die Augen: „Eine weiße Eule?“ „Hm, und es sah so aus, als würde Sie eine tanzende Wolke wärmen wollen.“ „Eine Nebelwolke?“ „Ja, und ein vollkommen weißer Hirsch sprang davon. Merkwürdig, nicht wahr? Aber es ist ja die wunderreiche Weihnacht, wieso soll darin nicht eine weiße Eule den Notarzt rufen? Ach ja, und dann war da noch ein alter Mann an der Rezeption, der ausrichten ließ, der Mantel passe ausgezeichnet, und er würde sich in ein paar Jahren, wenn dieser verschlissen sei, bei Ihnen melden.“

Text & Zeichnung: Petra Elsner, die Geschichte befindet sich in meinem Weihnachtsbuch „Von der Stille des Winters“.

 

Von der Stille des Winters

Erster Geschenktipp zum Fest: Mein Weihnachsgeschichtenbuch. Dazu diese Lesekostprobe – gelegt in die Zeit:

Von der Stille im Zeitenwind

Am Morgen des 24. Dezember fegte ein weißer Flitterwind durch die Straßenfluchten der Städte und über das Kopfsteinpflaster der Dörfer. In ihm segelte Fro, der Herrscher aller Winde. Raunend verkündete er das Ende der gehetzten Zeit. Erschöpft ächzten alle Uhren im Land und standen sogleich still. Manch einer rann noch ein Schweißtropfen vom Deckelglas. Doch dieser Tropfen-Ton war der letzte, den die Uhr von sich gab. Dann stand sie, die Zeit. Lilli erwachte irgendwann am späten Tag mit einem Schrecken. Es war still, unglaublich still. Das ganze Jahr war sie uferlos von einem Termin zum nächsten gehechelt. Ihre Liebe war ihr darüber abhandengekommen. Das hatte sie kaum gespürt, so sehr war sie in Eile. Aber es war nicht nur die angespannte Arbeit, die sie so umtrieb, es waren auch die vielen Rufer in der Zeit. Das Übermaß an Ereignissen und Möglichkeiten. Unterwegs konnte Lilli einfach nicht mehr zwischen Wichtigem und Dringlichem unterscheiden. Alles schien ihr mehr und mehr dringlich und wichtig. Und in der Hatz danach, all das Dringlich-Wichtige sogleich zu erledigen, vergaß sie ihr eigenes Leben. Sie hörte nicht einmal den Schmerz tief in ihrem Herzen.

Die seltsame Stille sprang die Frau bleiern an. Alles im Raum schien sie ermattet und verwelkt anzuschauen – und das war es auch. Nein, sie würde heute nicht den Staub von Wochen aus dem Zimmer fegen, und sie musste auch nirgendwo mehr hin. Lilli wollte nur schlafen und niemanden sehen. Sie streckte sich auf dem Laken, um sich sodann wieder in die Kissen zu rollen, als sich ein winziges Rascheln rührte. Wo? Dort drüben zwischen ihren Entwürfen für die große Weihnachtsrevue. Sollte etwa doch noch eine Maus im Spätherbst unbemerkt bei ihr eingezogen sein und sich jetzt von ihren verworfenen Ideen ernähren? Lilli zog die Bettdecke über sich, und dachte – „Bitte nicht“. Sie lauschte. Nein, ein Knistern und Knabbern war das nicht. Es klang eher so, als wollte jemand aus einem Seitenstapel krabbeln. Lilli linste hinüber zu ihrem Zeichenplatz. Richtig, zwischen den obersten Blättern schob sich eine rote Mütze platt heraus. Befreit schüttelte sich die kleine flächige Gestalt zur 3D-Form und grinste. Dann rief sie zwischen die Seiten: „Hey, die Luft ist rein, ihr könnt kommen!“ Lilli traute ihren Augen kaum, da purzelten ihre kleinen Weihnachtszeitwichtel lebendig in ihre kahle Wohnzimmerwelt. Sie schloss die Augen, mit dem Gedanken – ein Traum. „Hallo Lilli! Aufwachen!“, rief ein dünnes Stimmchen ihr ins Ohr. Die junge Frau blinzelte, und stellte dann verdutzt die Pupillen scharf: Eines der fingergroßen Wichtel stand auf ihrer Bettdecke, hielt ihr eine brennende Wunderkerze vor die Nase und sprach: „Lilli, es ist Weihnachten, wir schenken dir etwas von deiner verlorenen Zeit. Du musst sie dir nur im Geiste zurücksehnen.“ Sprach es, und verschwand.

Während Lilli sich umsah, wo denn die Wichtel abgeblieben waren, klingelte das Telefon. Es war Leo, den sie sagen hörte: „Hallo Lilli. Es ist so ein schöner Spätsommerabend, lass Deine Entwürfe liegen und uns essen gehen.“ Die Frau schaute ungläubig aus dem Fenster, wirklich, dort draußen lockte nicht der Winter, sondern die Farben des Sommers. Augenblicklich verstand Lilli, der Mann dort am Telefon war in diesem Moment wichtiger als alles Andere, denn sie wusste ja inzwischen, dass er sonst nie wieder anrufen würde. So kam es, dass Lilli in diese Sommernacht sprang und ihre Liebe zu Leo aufwärmte. Am nächsten Morgen erwachten die zwei in Lillis warmen Zimmer. Auf dem Fensterbrett lag Schnee. Die Standuhr tickte feierlich. Der Raum schimmerte wohlig, und ein Feiertagsfrühstück war angerichtet. Lilli sah nur noch, wie eines ihrer Weihnachtszeitwichtel schnaufend zwischen den Zeichenblättern entschwand.

©
Petra Elsner

 

 

 

Diese  Weihnachtsgeschichte  findet sich in meinem Buch  “Von der Stille des Winters”. Erhältlich ist es hier.

Die Credits zum Buch:
Petra Elsner, „Von der Stille des Winters“, Hardcover, 92 Seiten, 2. stark erweiterte Auflage (des Dezemberlesebuches), zahlreiche Illustrationen von Petra Elsner, ISBN: 978-3-943487-79-4, Preis: 20 Euro, erschienen in der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk (einst in Angermünde, jetzt in Schwedt)

 

 

Kia, die einsame Eule

Heute mal was ganz anderes: Eine Vorlesegeschichte für
die kleinsten Menschenkinder:

Die weiße Eule Kia liebte den Sommer mit seinem Duft nach frischem Heu und den kräftigen Farben der Sommerblumen. Doch selbst in der lauschigsten Zeit des Jahres war die kleine, weiße Eule immer etwas schwermütig.
Kia hockte in der Dämmerung auf ihrem Eulenbaum am Dorfanger und seufzte selbstvergessen: „Hüh, hüh, ich bin allein. Ach, hüh, hüh.“ Kia klagte und klagte, bis die Blaue Stunde vor der Dunkelheit kam, dann verstummte sie und die Nachbarn konnten endlich einschlafen. Doch am nächsten Abend wehten Kias Klagelaute wieder über die Dächer und so verging die Zeit.
Im Dorf machten sich die Menschen Gedanken, wie sie dem Eulchen Gesellschaft beschaffen könnten. Aber in der gesamten Nachbarschaft war keine alleinstehende Eule bekannt. Da fuhr der Förster Klaus in die nächste große Stadt und sprach mit dem Zoodirektor, ob er nicht eine Eule zu verschenken hätte. Der Direktor führte den Förster Klaus in die Krankenstation. Dort hockten zwei Eulennestlinge in einem Käfig. Der Zoodirektor sagte schließlich: „Könnte eure Dorfeule nicht eine Pflegemama für die zwei kleinen Waldohreulen sein?“ Förster Klaus kratzte sich nachdenklich das Haupt unter seinem grünen Hut: „Doch, vielleicht, ja, das könnte gelingen. Unsere Eule ist derart einsam, dass sie sich bestimmt sofort um die Jungen kümmern würde.“
Noch am selben Abend setzte der Förster die Nestlinge in einem Körbchen unter den großen Lindenbaum, in dem Kia wohnte. Die Kleinen fiepten ganz aufgeregt. Als die Nacht kam, blieb Kias Kummerklage aus. Auch die Rufe der Jungen verstummten sehr bald. Nur der Förster Klaus hockte noch still auf einer Bank am Anger und wartete. Auf einmal schwebte Kia lautlos vom Baum und besah sich die schlafenden Jungvögel. Dann griff sie nach dem Ersten und flog mit ihm hinauf zu ihrer Höhle, kaum später holte sie den Zweiten. Klaus lächelte und ging beruhigt zu Bett.
Die ganze Nacht flog die weiße Eule, um Futter für ihre Pfleglinge zu beschaffen. Dazu sang sie leise: „Kiwitt, kiwitt, wir sind zu dritt, was für ein Glück!“

© Petra Elsner

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Himmelsschwingen

Einst schwebte unter dem Himmel über einem winzigen Eiland ein prächtiger Vogel. Der war so schön, dass bei seinem Anblick die Menschen glaubten, er sei ein Gesandter direkt aus dem Paradies. Niemals ruhten seine schillernden Schwingen. Bei Tag nicht und auch nicht bei Nacht. Es war, als würde er zu keiner Zeit den Boden berühren. Kein Sturm drückte das Schwebewesen zu Boden, keine Sonnenglut ermattete es. Und so galt der kreisende Vogel den Insulanern bald als der Wächter des Glücks.

Seit der Ankunft des Vogels schaute vom weißen Strand jenes Eilands ein Sänger sehnsüchtig zum Himmel und sag‘ dem Vogel jeden Tag eine Hymne. Er träumte davon, mit ihm frei durch die Lüfte zu fliegen. Es war des Sängers einzige Vorstellung vom Glück. Doch weil es ihm so unerreichbar schien, wurde er darüber von Tag zu Tag trauriger. Nur wenn der Vogel scheinbar im Wind Prunkfedern verlor, sammelte sie der Sänger auf, steckte sie sich in Haar und Kleider und lächelte dabei einen Moment lang versonnen. Darüber vergingen die Jahre.

Inzwischen trug der Sänger ein Kleid aus brillanten Federn und auf seinem Kopf einen Federfächer. Längst nannten ihn die Inselbewohner „den Paradiesvogel vom Strand“, aber meinten damit, er wäre ein schriller Kauz. Doch wenn der Mann sang, war es den Zuhörern als würden sie auf seiner Melodie aufsteigen in höhere Sphären. Dieses gute Gefühl trugen sie später froh mit sich nach Haus, doch der Sänger blieb traurig und einsam am Strand zurück.

Eines nachts weinte der Mann darüber so herzzerreißend, dass es den Vogel hoch über ihm schauderte. Schließlich schoss er hinab aus den Wolken und hockte sich zu dem jammernden Mann, der seine allerbesten Federn trug. Der Vogel fragte besorgt: „Was klagst du, mein Freund?“ Der Schluchzer hielt inne und staunte. Noch nie hatte er den prächtigen Vogel so nahe gesehen. Er rieb sich die Augen, weil er meinte, es würden sich eben Himmel und Erde berühren. Ein aufwühlendes Gefühl durchströmte den Sänger, der nun dem Vogel gestand: „Ich bin so traurig, weil ich nicht wie du frei ´gen Himmel fliegen kann.“ Der wundersam leuchtende Vogel schüttelte ungehalten sein weises Haupt: „Aber deine Gesänge. Habe ich dir nicht zum Dank für deine himmlischen Hymnen jeden Tag eine meiner Schmuckfedern geschenkt? Sieh zu welch‘ einem prunkvollen Gewand du darüber gekommen bist! Und die Menschen hören es doch auch, dass deine Stimme so schön ist wie Flug des Paradiesvogels selbst. Deine einfältige Trauer hat dir offenbar die Sinne betäubt. Also wisse: In den Himmel führen viele Wege.“
Mit diesen Worten erhob der Vogel sich wieder in die Lüfte, und der Mann am Strand dachte noch lange über die seltsame Begegnung nach.

Anderen Tags lief der Sänger mit wachen Augen landeinwärts und sag dazu seine schönsten Lieder. Da sein Blick nicht wie sonst in den Wolken haftete, sah er plötzlich die Freude, die sein Gesang auslöste. Diese Freude steckte ihn an und inspirierte ihn zu immer neuen Melodien. Bald war der Sänger mit der paradiesischen Stimme weit über das Eiland hinaus bekannt. Und manchmal wuchs aus der Freude der Menschen so ein mächtiger ein Jubel, der den Sänger wahrlich in den Himmel hob. Dorthin gibt es eben viele Wege.

© Petra Elsner, 2007

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Der Bierbauch

Alle guten Dinge sind DREI – der vorerst letzte Mini-Bier-Krimi:

Der Bierbauch
Eduard Kaminke liebte alle kraftvollen Biere dieser Welt. Sie sind gewissermaßen sein Grundnahrungsmittel. Mit den Jahren schob er schon eine echte Kugel vor sich her. Eine Bauchkugel, die bedrohlich weiterwuchs. Denn es ist einfach so: Wer viel Bier trinkt, will mit der Zeit immer mehr davon. Nun war aber Eduard Kaminke von Beruf Schornsteinfeger, also für saubere Schlote und das Glück zuständig. Eines Tages aber passte er nicht mehr durch die Dachluke des Hauses von Friedbert Seelig. Schlimmer noch, er steckte bei dem Versuch des Rückzugs pfropfen-fest. Der alleinstehende Herr Seelig war in den wohlverdienten Jahresurlaub gefahren und hatte ihm den Hausschlüssel unter der Fußmatte hinterlassen. Niemand würde ihm helfen können. Kaminke hechelte unter seiner Platznot, sollte er nun seinen schönen Bierbauch abschwitzen, bevor er seiner Zwangslage entkommen könnte. Es wurde Nacht, sein Magen knurrte erbärmlich, aber der Bauch war keinen Zentimeter geschrumpft. Im Gegenteil, ihm schien, er wäre in dieser Pressung angeschwollen. Wo war nur sein Schornsteinfegerglück geblieben? Er versuchte irgendwie baumelnd, hängend zu schlafen, als unten auf der Straße ein Krakele losbrach. Zwei Männer stritten sich hart, hassbeladen und laut. Plötzlich schepperte offenbar ein Bierkasten auf den Boden und ein Mordsgeschrei erfüllte die schwarze Nacht. „Du Zechpreller! Du Verschwender! Du Schnorrer! Du Hohlkörper! Dass war meine Kiste! Hohl‘ eine Neue – jetzt gleich und sofort!“ Die Stimmen überschlugen sich trunken und der andere Zecher grölte zurück: „Messer weg, du Geizhals! Das ist kein Spaß mehr!“

Wurde dort unten gerade einer abgestochen? Angstschweiß ran dem eingeklemmten Schornsteinfeger über die Haut. Und wie er da so nass und erschrocken in der Luke hing, flutschte er plötzlich aus der unsäglichen Umklammerung. Zitternd stand er nun auf der Straße. Hatte er einen Mord erlebt? Na, gesehen hatte er eigentlich nichts, nur gehört. Es wechselte die Straßenseite zu dem vagen Ort des Geschehens. Es war kein Blut und keine Leiche in Sicht, aber jede Menge Flaschenglas und eine Bierlache, die wirklich herb-schön roch. Also offenbar war es ein Flaschenmord, sinnierte der Mann und dachte, ein Jammer! Kaminke schlenderte in seine gemütliche Stammkneipe, um sich von dem Schreck zu erholen. Als er hochrot das erste schöne Bierchen zischen ließ, kam der Wirt völlig aufgelöst aus dem Hinterhof und rief entsetzt in die Runde: „Mein ganzes Bier ist geklaut worden! Etliche Kisten und das Freitagsfass sind längs leer gezapft! Männer – heute gibst nichts mehr.“ Und Eduard Kaminkes schöner Bierbauch bekam in dieser Nacht die unerwartete Chance ein wenig zu schrumpfen.

© Petra ElsnerZum ersten Mini-Krimi hier klicken.

Zum zweiten Mini-Krimi hier.

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