Neujahrsmärchen

Der Blog war, ich weiß nicht warum, stundenlang nicht erreichbar. Eben habe ich deshalb die Geschichte auf meinem alten Blog bei wordpress.com eingepflegt. Und siehe da, plötzlich kann „www.schorfheidewald.de“ wieder geladen werden … Herrje, er hat mein Fluchen gehört…

Diese Geschichte stammt schon aus dem Jahre 2009. Es ist mein einziges Neujahrsmärchen. Wer es also schon kennt, überblättere es einfach, aber mich selbst hat es während meiner letzten Lesung in 2016 so ins Kichern gebracht, dass ich diese Heiterkeit einfach mal weiter geben möchte. Gesundes neues Jahr !

Die kleine Hexe Proxi.
Zeichnung: Petra Elsner

 

Der wilde Ritt

Ein Neujahrsmärchen von Petra Elsner

Die kleine Winterhexe Proxi rutschte vom Besen. Sie hatte eindeutig zu viel von dem Jagdwasser getrunken, welches der bunten Gesellschaft schon seit sechs Tagen gereicht wurde. Proxi jammerte. „Oh, mein Kopf, mein, Kopf, mein Kopf! Was für einen miesen Fusel sie wieder gebraut haben. Ohohoho…“ Sie schwankte. „Wie nur soll ich durch diese schmale Pforte kommen? Die wilde Jagd wird ohne mich stattfinden, welch eine Schande!“ Proxi klatsche sich die Wangen munter, da schlug schon die Uhr Mitternacht und das Geisterreich öffnete knarrend seine Pforte. Ein Schimmelreiter rief die Wintergeister zum großen Neujahrssturm herbei. Die brausten von allen Seiten heran. Nun stand das große Gefolge und wartete auf des Schimmelreiters ersten Ton. Die Rösser schnaubten noch in den gezogenen Zügeln, bis endlich absolute Stille herrschte. Jetzt stimmte der Herr der Schatten und der Stürme einen magischen Gesang an, einen ohne jeden Zorn und Kummer: „Es sei milde Güte den Erdenwesen gegeben, und keine Sorge möge über sie kommen …“ Proxi wunderte sich: „Welch’ einzigartige Inszenierung! Diesen Text kenne ich überhaupt noch nicht!“ Die kleine Hexe zerrte sich auf den Besen, denn um nichts in den Welten wollte sie bei dieser schönen Verkündung für das neue Jahr  fehlen. Sie schüttelte den Rausch aus ihren Haarspitzen, als das berittene Heer der Geisterweisen, begleitet von Raben und schwarzen Hunden, den Nachthimmel im Diesseits stürmte. Mit ihm war auch Holla, die einen weißem Flockenwirbel verstiebte. Der Himmel klang, und ein Lichtschweif sauste darüber. Nur Proxi hielt nicht mit. Sie schlingerte desolat, torkelte irgendwie luftkrank und stürzte schließlich ab. Ihr Besen landete in einem züngelnden Neujahrsfeuer und sie daneben.

„Hohi, welch’ stürmischer Auftritt!“ raunte der Förster Klaus. Er hatte mit seinen Gesellen gerade die alte Waldstraße vom Windbruch befreit. Nun wärmten sie sich am Feuer und hießen still das neue Jahr willkommen. „Nicht alles Gute kommt von oben, Hexlein! Was treibt dich durch diese Nacht?“ „Die wilde Jagd, hick!“ Die Männer legten Holz nach und das Feuer loderte heller. Klaus schnupperte: „ Wohl zu tief ins Glas geguckt?“ „Hick, leider“,  säuselte Proxi, „nun verpasse ich doch wirklich den Rest der schönen Verkündung für das neue Jahr. Habt ihr den wundervollen Gesang gehört?“

„Nein, nur das Geheul des großen Sturmes. Sieh, selbst biegsame Haselnussbäume hat er entwurzelt.“ „Es wird eben ein großartiges Jahr werden, dafür braucht es Platz“, meinte Proxi. „Und eine betrunkenes Hexlein in der ersten Stunde“, raunte die Runde.

„Nein, nein, ich gehöre nicht in das Programm, ich bin nur ein Zufall“, stammelte Proxi. „Ein guter oder ein schlechter“, wollte Klaus wissen, „wohl nur ein geschwätziger“, murmelte er leise weiter und band dazu einen Besen aus Haselnusszweigen.

Die kleine gefallene Hexe schlürfte ernüchternd heißen Kaffee, als ihr der Förster den Besen reichte: „So, damit müsstest du davon kommen!“ Sie musterte das Gebinde: „Er versteht sich gut aufs Besenbinden, hat er auch einen Zauber? Nein? Dann wird er einen bekommen.“ Sie pustete das Teil an, dass es sich drehte und sodann durch die Pisten der Landschaft fegte. Kein entwurzelter Baum blockierte nun noch einen Ort. Proxi lächelte über die verwunderten Gesichter am Feuer: „Nun ist euch etwas Zeit zum Feiern zugefallen, genießt sie!“ Dann brauste die kleine Hexe auf einem einfachen Haselnusszweig davon.

 

Neu auf dem Buchmarkt
Das Buchcover „Von der Stille des Winters“

Diese Geschichte ist enthalten in: Petra Elsner, „Von der Stille des Winters“, Hardcover, 92 Seiten, 2. stark erweiterte Auflage (des Dezemberlesebuches), mit zahlreichen Illustrationen von Petra Elsner, ISBN: 978-3-943487-79-4, Preis: 19,99 Euro, erschienen in der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk Angermünde im November 2016.

Spende? Gerne!
Hat Ihnen diese Geschichte gefallen? Vielleicht möchten Sie mich und mein Schaffen mit einem kleinen Obolus unterstützen? Sie können das ganz klassisch mit einem Betrag Ihrer/Eurer Wahl per Überweisung tun. Die Daten dafür finden sich im Impressum. Dankeschön!

Singendes Eis

Die kleine Nixe Adelina hat sich beim sommerlichen „Inselleuchten“ in Marienwerder in die schöne Szenerie verliebt und ist nach dem Festival einfach im Finowkanal geblieben.
Zeichnung: Petra Elsner

Singendes Eis

Mit Dröhnen und Brausen herrschte in einer späten Herbstnacht Viadrus von der Oder durch die Kanäle in Richtung Westen. Der alte Flussgott suchte ärgerlich nach seiner Lieblingsnixe. Adelina war der Einladung zu den Weihnachtschorproben einfach nicht gefolgt. Nun fehlte ihre glockenhafte Stimme den anderen Klangfarben. Vor Monaten war die junge Nixe mit ihren Schwestern zu einem Sommerfest aufgebrochen. Die leuchtende Insel war so verführerisch, dass Adelina sich nicht lösen konnte und sich im Schilf versteckte. Im Morgengrauen kehrten die Nixen ohne die Schwester in den Oderstrom zurück. Viadrus tobte einen kleinen Sturm lang. So wie es alle Väter tun, wenn die herangewachsenen Töchter in die Welt ziehen wollen. Adelina war von dem romantischen Lichterspiel der Inselmenschen so berührt, dass sie sich entschied, fortan diese Wasser zu bewohnen. Bald schon erzählten sich die Menschen am Ufer wundersame Geschichten, von einer feinen Stimme im Finowkanal. Bei Mondschein stiege nachts eine Frau mit langem, weißem Haar an Land, um im fahlen Licht zu tanzen. Diesem Munkeln folgte Viadrus, doch so sehr er auch suchte, Adelina fand er nicht. Sie hielt sich vor ihm bei der Schleuse am Wasserkreuz verborgen.

Inzwischen zog der Winter ins Land. Eisig wie seit Jahren nicht mehr. Der Kanal war dick zugefroren, doch etwas war anders: Das Eis sang. Der Schleusenwärter Kai hörte es ganz deutlich. In der Sommerzeit steuerte er die Technik im Fluss und auch die beweglichen Brücken. Jetzt im Winter pflegte er die Anlage. Ein einsames Geschäft. Deshalb sang der Mann meist leise vor sich hin. Immer öfter summte er mit dem Klang des Eises. Und auch die sonntäglichen Schlittschuhläufer auf dem Kanal gerieten auf ihren blanken Kufen  leicht ins tänzeln.

Am Morgen des 24. Dezembers zog der Schleusenwärter forsch seine Schlittschuhe an, denn er hatte auf dem Eis etwas blinken gesehen. Was das wohl war? Als er herankam, steckte dort ein Spiegel. Ein mit Perlen verziertes Oval. Kai bückte sich, um danach zu greifen. Doch so sehr er auch daran rüttelte, der Spiegel löste sich nicht. Plötzlich scherbelte das Eis begleitet von einem gewaltigen Knirschen. Der Schleusenwärter fuhr erschrocken zurück: Durch die Eisdecke schoss Adelina hervor: „Willst du mit mir singen?“ Kai war unfähig zu antworten. Er starrte auf die schöne grüne-blau-violette Gestalt. „Bist du die wundervolle Stimme im Fluss?“, fragte Kai und Adelina nickte. „Dann komm‘ heute Abend an Land.“ Der junge Mann war aufgeregt und hatte es jetzt sehr eilig. Gegen 16 Uhr war es stockdunkel. Überall in den Fenstern leuchteten die Kerzenlichter und die Menschen begannen zu feiern. Adelina war traurig, noch nie war sie Weihnachten allein. Ob sie vielleicht doch zu den Odernixen zurückkehren sollte? Sie wippte unentschlossen auf einer Eisscholle und summte leise: „Stille Nacht, heilige Nacht“. Auf einmal tönten aus dem Dunkel viele, volle Stimmen „Alles schläft. Einsam wacht! …“ Die Nixe schluchzte gerührt und schlidderte lachend ans Ufer. Jeden, der am Kanal singen konnte, hatte der Schleusenwärter herbeigerufen. Nun sagen sie gemeinsam das alte Weihnachtslied und noch viele andere mehr. Als der letzte Ton verklungen war, dankten die Menschen der kleinen Nixe dafür, dass sie hergezogen war und so das Leben am stillen Finowkanal noch romantischer wurde.

Neu auf dem Buchmarkt
Das Buchcover „Von der Stille des Winters“

„Singendes Eis“ ist enthalten in: Petra Elsner, „Von der Stille des Winters“, Hardcover, 92 Seiten, 2. stark erweiterte Auflage (des Dezemberlesebuches), mit zahlreichen Illustrationen von Petra Elsner, ISBN: 978-3-943487-79-4, Preis: 19,99 Euro, erschienen in der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk Angermünde  (jetzt in Schwedt) im November 2016. Hier erhältlich.

Spende? Gerne!
Hat Ihnen diese Geschichte gefallen? Vielleicht möchten Sie mich und mein Schaffen mit einem kleinen Obolus unterstützen? Sie können das ganz klassisch mit einem Betrag Ihrer/Eurer Wahl per Überweisung tun. Die Daten dafür finden sich im Impressum. Dankeschön!

Zum Nikolaustag: Der Schuhputzer

Der neue Nikolaus . Zeichnung: Petra Elsner
Niko, der Schuhputzer.
Zeichnung: Petra Elsner

Eine Nikolausgeschichte von Petra Elsner

Niko liebt Schuhe, besonders die knallroten, die bei den Frauen als Glücksschuhe gelten. Er ist gerade auf leisen Sohlen mit seinem Schuhputzkasten unterwegs, um sich vor der großen Oper – wie jeden Abend – in Position zu bringen. Ein guter Standort, denn wer will schon mit schmutzigen Schuhen ein so erhabenes Haus betreten? Besonders bei Schmuddelwetter kommt der echte Opernfreund nicht an Niko vorbei, zumal keiner einen derart wunderbaren Glanz auf das Leder zaubern kann wie der junge Mann, den es aus der türkischen Stadt Patara hierher verschlagen hat. Einen seltsamen Wanderstab führt er immer bei sich. Das uralte Stück ist das Einzige, was ihm von seiner Familie geblieben war. Weil aber Niko ein ehrlicher und immer gut gelaunter Schuhputzer ist, kommt er überall gut an und so nicht in Not. Jetzt schneit es nasse Flocken in der Stadt an der Spree, und Niko lächelt dazu: Schuhputzerwetter.

Kurz vor der Oper quietschen plötzlich Autoreifen sehr laut. Aus einer schwarzen Limousine springen vier Männer, öffnen den Kofferraum, hieven eine Truhe empor, schleppen sie auf den vereisten Gehweg und schieben sie mit einem mächtigen Drive auf Niko zu. Während die Truhe noch schlittert, springen die Vier zurück in den mysteriösen Wagen, einer setzt noch einen Esel auf die Straße, dann rasen sie davon. In dieser Stadt, in der an jeder zweiten Ecke ein Spielfilm gedreht wird, nimmt nicht wirklich jemand Notiz von der Aktion. Man ist eilig unterwegs und hat kein Auge für merkwürdige Inszenierungen. Nur der Schuhputzer steht wie angewurzelt und liest das Schild an der Truhe „Für Niko“. Der Esel ist inzwischen der Truhe gefolgt, nun zupft er an Nikos Ärmel, als wenn er sagen will: „Mach sie endlich auf!“ Das tut er dann auch und glaubt dabei seinen Augen nicht. Aus dem rot gefütterten Innern funkeln ihm Gold, Silber und Edelsteine entgegen. Niko schließt blitzschnell und sehr erschrocken die seltsame Fracht. Die kann ihm einfach nicht gehören. Aber hat er nicht am Rande eine Schriftenrolle gesehen? Nur einen Spalt öffnet er wiederholt die Truhe, fingert nach dem Papier und findet darin diese Nachricht: „Es ist der Rest, den Dein Urahne nicht unter die Leute gebracht hat. Gehe, und walte Deines Amtes!“ Welches Amtes?

Ein Bettler stört Nikos Gedanken: „Haste mal ein paar Cent?“ Der Schuhputzer greift wie selbstverständlich in die Truhe und reicht der ärmlichen Gestalt ein paar Goldstücke. „Oh, danke, großer Nikolaus, für diese opulente Gabe“, spricht der Bettler. „Wie kommst du denn darauf? Ich der Nikolaus?“, fragt Niko. „Na, du trägst seinen Bischofstab und machst den Armen erlesene Geschenke! Heute ist der 6. Dezember, du musst es einfach sein. Verstell’ dich nicht, ich habe dich erkannt.“ Niko ist nicht nur deshalb irritiert. Aber gut, wenn er heute einen sehr speziellen Tagesjob übernehmen soll, warum nicht? Den Inhalt der Truhe wird er schon rasch unter die Leute bringen. Der junge Mann lädt den wertvollen Kasten auf den Esel und tippelt durch die Stadt. Mit vollen Händen verschenkt er Gold, Silber und Edelsteine, doch so sehr er sich bemüht, die Truhe leert sich nicht, ihr Inhalt scheint nachzuwachsen. Als der Tag sich neigt, hat Niko begriffen: Er ist jetzt der neue Nikolaus, und nächstes Jahr, zur selben Zeit, wird er wieder mit der Truhe losstiefeln und die Menschen beschenken. Eine wirklich herzliche Aufgabe, aber all die anderen Tage will er weiter nur der Schuhputzer mit dem seltsamen Wanderstab sein.

Neu auf dem Buchmarkt
Das Buchcover „Von der Stille des Winters“

Diese  Lesekostprobe steckt als Adventsgeschichte in meinem Buch „Von der Stille des Winters“.

Erhältlich ist das Buch über diese Koordinaten:

Petra Elsner, „Von der Stille des Winters“, Hardcover, 92 Seiten, 2. stark erweiterte Auflage (des Dezemberlesebuches), zahlreiche Illustrationen von Petra Elsner, ISBN: 978-3-943487-79-4, Preis: 20 Euro, erschienen in der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk

Spende? Gerne!
Hat Ihnen diese Geschichte gefallen? Vielleicht möchten Sie mich und mein Schaffen mit einem kleinen Obolus unterstützen? Sie können das ganz klassisch mit einem Betrag Ihrer/Eurer Wahl per Überweisung tun. Die Daten dafür finden sich im Impressum. Dankeschön!

Das Schorfheidemärchen „Die Geistereichen“

Morgen lese ich wieder einmal aus „Schattengeschichten aus dem Wanderland – Schorfheidemärchen“ in der AWO von Finow.  Ich habe dafür meine Illus zu den Geschichten ausgedruckt und laminiert. So können die Blätter während der Lesung von Hand zu Hand gehen.  Hier eine Leseprobe:

Die Geistereichen Zeichnung: Petra Elsner
Die Geistereichen
Zeichnung: Petra Elsner

Die Geistereichen:

In einer Vollmondnacht erwachten plötzlich die Blitzgetroffenen zu neuem Leben. Sie scharrten mit ihren losen Wurzeln und schauten einander staunend an: der brüchige Galgen, der schwere Mooshammer und die bucklige Riesennase. Dort, wo die Drei standen, an einem Kreuzpunkt über Wasseradern, wuchsen sie seit über 600 Jahren zu mächtigen Bäumen heran, die allerdings wie Blitzableiter wirkten. Unzählige Male durchzuckten ihre Stämme feurige Schläge, bis sie, gespalten und geköpft, leblos in den Himmel stachen. Ihr morsches Holz zog mit der Zeit ein Moosgewand an, und aus ihren Aststümpfen grinsten Geisterfratzen.

In jener Oktobernacht betrat ein Einhorn schnaufend die Lichtung. Sein Atem dampfte, und es tänzelte nervös auf der Stelle. Seit sieben Jahren kam der weiße Hengst stets in der ersten kalten Herbstnacht an diesen Ort, um nach einer Stute zu rufen, doch nie wurde er bisher erhört. Statt einer schönen Gefährtin holte sein sehnsüchtiger Schrei immer etwas Seltsames ins wirkliche Leben zurück: eine vergessene Blume, einen weisen Druiden, ein Elfenkäuzchen. Dieses Mal weckte er die toten Eichen.

Zu ihrer Verwunderung konnten sich die Blitzgetroffenen bewegen, und da sie nur diese Lichtung kannten, schlürften sie einfach knarrend und sehr neugierig durch den Schorfheidewald. Nein, das Schreiten waren sie wirklich nicht gewohnt. Sie schaukelten und stolperten bedrohlich durch Hochwald und Schonungen. Die Stümpfe der Blitzgetroffenen fegten Nester aus den Büschen, ihre Wurzelfüße durchkämmten den Boden und ließen eine wüste Schneise hinter sich zurück. Schauerlich raunten sie in die Finsternis: „Zur Seite, hier kommen wir, die Geister-Eichen!“

Mit dem Morgengrauen war der Spuk vorbei. Dort, wo die schwarz-grünen Ungetüme das erste Licht traf, rührten sie sich nicht mehr von der Stelle und jene, die dem Schauspiel ängstlich beiwohnten, atmeten erleichtert auf.

Doch nur für ein Weilchen, denn zur nächsten Mitternacht erwachten die Eichen wieder, und polterten abermals ziellos durch den Wald. Seit dieser Nacht fürchteten sich die Geschöpfe des Waldes vor dem brüchigen Galgen, dem schweren Mooshammer und der buckligen Riesennase.

Das Einhorn drückte ein schlechtes Gewissen und zeigte sich niemandem, denn es fühlte sich für das Treiben der Geister-Eichen verantwortlich. Was, wenn der Hengst heute Nacht wiederholt den Mond anrufen würde? Noch niemals hatte er seinen Liebesschrei zweimal im Jahr  ausgestoßen. Der Vollmond war längs zum Ei geschmolzen und somit der Zauber der ersten Frostnacht gewiss erloschen. Aber was könnte schon geschehen? Der Hengst hoffte, irgendwie den Zauber auszutauschen.

Zur Mitternacht betrat er scheu die helle Lichtung. Aus der Ferne hörte er das Poltern der Eichen. Das Einhorn stieg auf seine Hinterhufe und röhrte mit der ganzen Kraft seines Leibes ´gen Nachthimmel, flehend, aber nichts geschah. Oder doch? Nein, sein Echo sprang nur noch von Baumwipfel zu Baumwipfel. Er schnaubte und tänzelte, um schließlich ein drittes Mal zu einem Schrei anzuheben. Der war so steinerweichend, dass alles um ihn herum zu weinen begann. Tausende von Tropfen tränkten wie Tau Landschaft und Boden, und da riss plötzlich die Finsternis auf, und eine weiße Stute betrat den magischen Kreis. Gleißendes Licht umschmeichelte die gehörnten Rösser, die sodann auf nimmer Wiedersehen im Glück verschwanden. Als die Dunkelheit an den Ort zurückfand, standen der brüchige Galgen, der schwere Mooshammer und die bucklige Riesennase wieder still und steif an ihren alten Plätzen, so als wäre nie etwas geschehen.

Petra Elsner
Spende? Gerne!
Hat Ihnen diese Geschichte gefallen? Vielleicht möchten Sie mich und mein Schaffen mit einem kleinen Obolus unterstützen? Sie können das ganz klassisch mit einem Betrag Ihrer/Eurer Wahl per Überweisung tun. Die Daten dafür finden sich im Impressum. Dankeschön!

Der Hasenräuber – ein Schorfheidemärchen

Schorfheidemärchen
Der Hasenräuber
Zeichnung: Petra Elsner

Feiner Nieselregen fiel auf den Nachtschatten, der durch den Wiesenhain am Koppelberg huschte. Aus dem Dorfkrug bei den Eichen drangen die trunkenen Stimmen des Heideläufers und seiner gedungenen Jagdknechte. Derbe Gesellen, die aufpassten, dass keiner unerlaubt den Wald betrat oder gar wilderte. Heute würden sie ihm nicht folgen, trotzdem schlich Gustav auf leisen Sohlen und mit lauschenden Ohren. Die Kröten quakten in den Hügeln und die milde Nacht atmete raschelnde Geräusche. Gustav kannte die nächtlichen Täuschungen, dennoch schien es ihm, sein Herz klopfte noch lauter. Tief hängende Zweige formten gespenstische Gestalten und Gesichter, ob vielleicht doch ein Jagdknecht auf der Lauer lag? Seine Augen bohrten Löcher in das Dunkel, als endlich die Wolkendecke aufriss, und der Mond sein Licht auf einen Hirsch auf der Waldweide warf.

Der geduckte Mann staunte das erhabene Tier an. Nein, er würde es nicht wagen, ihm nachzustellen. Diese Jagd gehörte dem Fürsten mit seiner Steinschlagflinte. Gustav war kein hemmungsloser Wilderer, der auch vor Menschenmord nicht zurückschreckte. Er suchte keine Trophäen, sondern legte Schlingen, um damit ab und zu einen Hasen zu fangen. Das empfand der Landmann als gerecht, waren es doch die Tiere dieses Waldes, die letzten Sommer seine Feldfrüchte fraßen, weshalb die Not auf seinen Hof kroch. Doch wen sie beim Wildern erwischten – gleich ob Hirsch oder Hase, den quälten die Häscher gar fürchterlich. Gustav  musste also unentdeckt bleiben.

Dort vorne, in dem Dunkelbusch, hatte er gestern seine Schlinge ausgelegt, aber was war das? Ein Knacken wie von einem Schritt. Gustav duckte sich tiefer und wartete. Ein Zündholz flammte auf und beschien ein fahles Gesicht. Nein, das war kein menschliches Antlitz. Gustav traute seinen Augen kaum, ein grauer Nachtelf zündete sich eine Pfeife an, schmauchte und blickte plötzlich zielgenau zu ihm. „Komm her, du Hasenräuber, du hast Beute.“ Sprach er und verschwand.

Dem Mann war es nicht wohl. Er starrte um sich herum, sah aber nichts als die Schwärze der Nacht. So ging er einen Schritt auf den Busch zu, als neben ihm wieder die Pfeife erglimmte und das Elfgesicht schmunzelte. „Schenkst du mir Deinen Hasen?“

Gustav stand unschlüssig, seine Knie schlotterten, während die Graugestalt wieder vollständig aufgetaucht war. „Ich schenke dir auch dieses wundersame Pfeifchen“, setzte der Elf nach.

Gustav schüttelte seinen Kopf: „Meinst du der Tabak macht satt wie mein Hase?“

„Was heißt hier ‚mein Hase’?“ zische der Elf. „Also gut, wir teilen uns den Fang, ich weiß, wie Hunger schmerzt“, murmelte Gustav, zerlegte den Hasen und gab die Hälfte dem Grauelf. Der dankte, legte die Pfeife samt einem Tabakbeutel in die Hand des Hasenfängers, zündete sich eine andere Pfeife an und damit verschluckte ihn der Wald. Gustav stand und wunderte sich, dann packte er sein Zeug zusammen und wollte gerade aufbrechen, als es abermals ganz in der Nähe knackte. Aber diesmal erkannte Gustav den Heideläufer mit seinen Knechten. Sie kamen von allen Seiten auf ihn zu. Einer knallte mit der Peitsche, der nächste zückte einen Dolch, der dritte durchstocherte mit einer Lanze die Luft. Gustav war starr vor Schreck, so hatten die Fänger ein leichtes Spiel. Übermächtig schlugen sie auf den harmlosen Wilderer ein. Als der nicht mehr zuckte, luden sie ihn auf eine Karre, machten ein Feuer und brieten sich den halben Hasen. Gustav stöhnte leise, Blut lief ihm von den Schläfen und sein Rücken schmerzte ganz fürchterlich. Er fingerte in seinen Hosentaschen nach einem Tuch und ertastete dabei die warme Pfeife. Sie glimmte offenbar noch. Sollte er es versuchten? Warum nicht. Er zog an ihr und sah im flackernden Licht, wie er sich langsam auflöste. Schmerzgekrümmt kroch der Mann ungesehen vom Karren in die schützende Dunkelheit und ward von seinen Häschern nie mehr gesehen. Immer wenn aus Gustavs Haus ein feiner Hasenbratenduft aufstieg, stürmten sie seinen Hof, dort aber fanden sie stets nur einen Schwaden von einer Tabakpfeife vor.

(Aus meinem Buch „Schattengeschichten aus dem Wanderland“ – Schorfheidemärchen, erschienen 2010 im Schibri-Verlag ).

Neu erschienen: 2018 bei der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk in Schwedt an der Oder als Märchensammlung (30 Texte) unter dem Titel „Die Gabe der Nebelfee“

Spende? Gerne!
Hat Ihnen diese Geschichte gefallen? Vielleicht möchten Sie mich und mein Schaffen mit einem kleinen Obolus unterstützen? Sie können das ganz klassisch mit einem Betrag Ihrer/Eurer Wahl per Überweisung tun. Die Daten dafür finden sich im Impressum. Dankeschön!

Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (8 und Ende der Auszüge)

Am Schwarzwassersee. Zeichnung: Petra Elsner
Am Schwarzwassersee.
Zeichnung: Petra Elsner

… Um Wallo ebbten die Wellen seines Auftauchens ab und brachen sich am Steinwall zur Burg. Ein Getürm und Gestapel aus Holzkisten, verbeulten Töpfen, sperrigen Metallgittern, Kanistern, Pappkartons, Fässern und großen Blechbüchsen war der Baustoff zu dem Kanal-Palazzo. Auf einem Plateau, das an den Steinwall zum Schwarzwassersee grenzte, verharrten die emsigen Festvorbereitungen und das letzte Training für den bedeutsamen Wettkampf jäh.

Ein Fremder von ungetümer Gestalt, eine nicht gekannte Bedrohung war im Raum, die alle Rattenburgbewohner einen Moment lang blockierte.

Wallo spürte die Angst, die aus den unzähligen Augenpaaren auf ihn fiel, und erwartete ungeduldig Nacks Ankunft.

Irgendwie musste er inzwischen die Situation entspannen. „Ähm“, räusperte er sich und planschte verlegen mit seinen Armstrahlen auf das schwarze Wasser.

„Ähm, ich bin von Nack zu eurem Wettkampf eingeladen.“

In den stumm fragenden Blicken entdeckte er Zweifel. „Doch, es ist so. Nack wird gleich hier sein. Ähm, ich bin Wallo, die Seele eines Baumes.“

„Das ist Wallo, ein obdachloser Stadtdrache! Mein Frühstückskumpel. Er ist ein toller Typ, und ich dachte, den müsst ihr unbedingt kennen lernen“, prustete und überpfiff es laut seine Worte. Es war Nack, der eben eintraf. Zu Wallo zischelte er leise: „Erzähl hier nicht deine Seelenstory. Dies ist ein seelenloser Ort, da kriegst du mit deiner offenherzigen Ehrlichkeit nur Ärger. Halt dich zurück und achte auf mich. Noch sitzt ihnen der Schreck in den Knochen. Aber sie sind viele und dadurch mächtig. Wenn du ihnen Schwäche zeigst, machen sie dich fertig. Hier zählen nur Sieger etwas.“

Wallo fühlte sich nicht wohl in seiner schlammig gewordenen Haut, die ihn an der Luft in eine neue Form trocknete. Es war eine wundersame Entdeckung, die Wallo an sich selbst machte. Wurde seine Krustenhaut feucht, trocknete er daraufhin zu jenem neuen Gebilde, das er gerade abgab. Jetzt hatte er etwas von Nessy oder einer monströsen Seeschlange mit Schiebermütze. Wallo war halt mit langem Hals aus dem Abwasser gefahren und hatte sich eine Zeit lang sehr erstaunt umgesehen, indem trocknete der Dreck auf seiner Lichthaut ihn in dieser Pose, die selbst Nack beeindruckte. Ganz sicher war sich der Ratterich nicht mehr, ob Wallo so harmlos war, wie er vorgab. Doch sonnte er sich lieber in der starken Bekanntschaft, als irgendwelche Fragen aufkommen zu lassen.

Sie hievten sich aus dem Schwarzwasser und Nack schüttelte wie gewohnt die Nässe aus dem Fell. Als Wallo das sah, tat er es ihm gleich, woraufhin sein Leib in Zacken spritzte und so erstarrte. Nun glich Wallo wahrhaftig einem Drachen, und die Ratten bildeten scheu dem Gast und Nack eine Gasse zur Arena.

Formenwandler. Zeichnung: Petra Elsner
Formenwandler.
Zeichnung: Petra Elsner

Der Burgherr thronte selbstherrlich in einer riesigen Plastik-Schellmuschel, die das Rattenvolk nach einem Werbefeldzug der Menschen erobert hatte. Alle Schätze der Schwarzwasserburg hingen an ihr. Alte Uhren, Goldreife, edle Felle, Perlenketten schimmerten neben Glasmurmeln prachtvoll im Fackellicht. Um Raffel, den Burgherren, stand eindrucksvoll eine Leibgarde finsterster Kung-Fu-Ratten. Sie musterten jede Bewegung der Ankömmlinge.

Raffel war in dem Jahr seiner Herrschaft fett und bequem geworden und fürchtete diesen entscheidenden Tag. Seine Macht würde nur noch Stunden dauern. Das hätte er gerne verhindert, doch für den Wettkampf war er nicht in Form. Als Wallo und Nack vor ihn traten, sah er augenblicklich eine Chance, den Favoriten Nack aus dem Bewerberfeld zu tilgen. Und so ergriff der Noch-Mächtige die Gelegenheit: „Nack, du hast die Gesetze der Schwarzwasserburg gebrochen“, knarrte es böse und hinterlistig aus Raffel. „Keinem Fremden ist ohne meine Erlaubnis der Weg zum Rattenreich zu offenbaren. Du bist, um dir selbst einen Wettkampfvorteil zu verschaffen, zum Verräter geworden. Du hast die Gesetze der Gemeinschaft gebrochen. Ich bin dein Richter. Du, Nack, bist des Todes und auch dein Bodyguard-Drache.“

Raffel erhob sich gewichtig, streifte sein goldenes Gewand glatt und deutete mit allgewaltiger Geste und kreischender Stimme seiner Kung-Fu-Garde: „Ergreift ihn, den Verräter! Den Fremden auch, und tötet beide! Sie bringen Unheil über unseren geheimen Ort!“

Wallo riss die Stielaugen auf. Auch Nack hatte so etwas nicht erwartet. Sein blau-gelber Fellstreifen sträubte sich. Es stimmte schon, dass er mit seinem ungewöhnlichen Gast Eindruck schinden wollte. Vielleicht wünschte er sich sogar insgeheim, dass Wallos respektvolle Größe ihn selbst gewichtiger erscheinen ließ, aber Nack hatte es nicht nötig, einen unfairen Kampf zu führen.

Die Leibratten in schwarzer Ninja-Kluft schlossen um Wallo und Nack einen engen Kreis. Wallo schaute mit einem Was-Nun? auf Nack, der bereits mit festem Blick, die Pfotenkanten im Anschlag, den ersten Angreifer fixierte. Nacks Pfiff gellte durch das Gewölbe. Sein Hieb traf. Mit gekonntem Sprung schnellte sein Fuß gegen den nächsten Angriff und wurde zur Ramme. Blitzschnell setzte Nack einen nach dem anderen außer Gefecht. Wallo staunte noch, da wurde auch er attackiert.

Als Grüngeist musste er sich nie wehren, als Drache ging es ihm an den Kragen. Keine Frage, er musste sich verteidigen, aber wie? Er hatte Nacks Kunst der fliegenden Bewegungen genau beobachtet und wusste, wenn er richtig zugesehen hatte, konnte er sie haargenau nachahmen. Wallo lernte immer einfach über das Sehen, wenn er das wollte. Was er von sich nicht wusste: Seine Hiebe würden wie Donnerschläge sein und sein Schrei wie das Grollen des Gottes Thor.

Doch zuerst traten Wallo zwei Thai-Boxer-Ratten herausfordernd gegenüber. Ihre Kampfart sah und spürte Wallo das erste Mal. Furchtlos trommelten jene mit Fäusten, Ellenbogen, Beinen und Füßen auf den scheinbar festgewachsenen Drachen ein. Aber der sah genau hin. Schon bald wich Wallo geschmeidig und gewandt wie eine Katze den Attacken aus und erwies sich als Vater der Faust.

Die beiden Kontrahenten torkelten und checkten ihn jetzt argwöhnisch mit gebührlichem Abstand. Indem griffen zwei Ninja-Kämpfer Wallo von hinten an. Daraufhin sprang dem bedrängten Wallo Nack bei und räumte die ungleiche Kampfszene ab: Ein pfeilschneller Beinhebel, ein gekonnter Wurf, und der erste Gegner kippte und knallte rücklings auf den Steinboden. Nack wirbelte mit einem Mordssatz durch die Luft und stellte den zweiten Ninja-Ratterich.

Wallo speicherte: „Oha, so geht das“, und nahm sich nun einen der wieder näher kommenden Thai-Boxer mit Nacks Technik vor. Haargenau so und erfolgreich. Allerdings fand sich der Angreifer nicht auf, sondern in den Boden gedrückt wieder. Und noch etwas sah ein klein wenig anders aus. Der einbeinige Beinhaken. Der irritierte seine Gegner nicht schlecht. Es war eine artistische Glanzleistung, die Wallo da mühelos vorführte. Die ging so: Wallo federte in die Vertikale, stützte sich auf seinen linken Armschweif, enterte mit seinem Beinschweifhaken den Thai-Boxer und kippte ihn mit einer solchen Wucht, dass die Steine nachgaben.

Nack schickte Wallo einen anerkennenden Blick hinüber und der Rattenstamm raste. Die Raffel-Anhänger vor Wut und die Sportbewunderer vor Begeisterung.

Noch einmal stampfte nun ein massiger Sumo-Ringer-Ratterich vor Wallo und provozierte: „Nur zu, ich lass’ dich auch die erste Runde gewinnen! Aber dann …!“ Doch dann betäubte bereits Wallos dröhnender Hai-Schrei den Rattenkoloss. Der wälzte sich jammernd am Boden und hielt sich die schmerzenden Ohren.

Die Leibgarde war besiegt. Raffel hatte sich mit ein paar Perlenketten davongestohlen, und in der Arena toste Beifall für die Gewinner. Noch nie hatte man bei einem Wettkampf derart brillante Kämpfe zu sehen bekommen. Wallo und Nack verbeugten sich vor dem jubelnden Rattenvolk, als plötzlich schlanke Rattenkämpfer in weißen Karateanzügen den Platz betraten. Das Klatschen hielt inne.

Abermals stieg die Spannung. Doch was war das? Jeder Kämpfer trat einzeln hervor und demonstrierte ein Schaustück. Der eine halbierte mit bloßer Pfotenkante einen Stapel Gehwegplatten, der nächste köpfte ebenfalls mit leerer Pfote einen Weinballon, der folgende ließ einen Bretterstapel brechen. Danach traten sie in eine Reihe und verbeugten sich vor Nack und Wallo. Der Kampf war hinübergeglitten in ein Schauturnier, bei dem die Akteure den schon feststehenden Siegern lediglich die Ehre erwiesen. Das Kräftestechen um die Burgmacht war somit entschieden und das Krönungsfest konnte beginnen.

Die Massen applaudierten immer noch, als feierlich Bogenschützen in leuchtend blauen Kimonos einen weiten Kreis um den verlassenen Muschelthron bildeten. Jeder hatte einen brennenden Pfeil im gespannten Bogen. Auf das Zeichen des Rattenältesten hin schossen sie hoch in die Kuppel des Gewölbes und entzündeten einen prächtigen Kronleuchter. Die Massen johlten und schossen wild Leuchtkugeln auf den Rängen ab. Dann tanzten hundert zarte Rocker-Ratten-Ladys einen exotischen Rock-Raggae-Hiphop-Mix. Die geschmeidige Ballerina unter ihnen führte die Rattenkrone vor. Am Ende des Tanzes kniete sie vor Nack und reichte ihm das Zeichen der Macht.

Nack schritt zum Thron, hängte das glanzvolle Teil gelassen an die Muschel und forderte lässig zu Speis und Trank auf. Das Fest nahm seinen Lauf. Stunden waren vergangen. Immerzu schwang zwischen den Tanzeinlagen betont pompöse Musik durch die Arena, die das Volk zu „Glückliche Herrschaft“-Rufen animierte.

Wallo fand das widerlich, es schüttelte ihn geradezu. Eben noch hätten dieselben Untertanen Nacks und seinen Tod beklatscht, wenn es dazu gekommen wäre. Wallo fühlte abgrundtiefes Entsetzen, und er war von den vielen Eindrücken erschöpft, während Nack die kultvolle Szene genoss. Ja, er spreizte sich wie ein Pfau, dieser frisch gekrönte Burgherr. Wallo saß still neben ihm. Und Zorn grummelte dem Drachen durch den Magen. Ja, alles war noch einmal gut ausgegangen. Doch Nack hatte ihn für seine Zwecke benutzt. Er hatte ihn unvorbereitet in Gefahr gebracht. Das tut man nicht mit einem Freund, bohrte es in Wallo, als Nack ihm auf die Schulter klopfte:

„Na, du Kampfdrache! Das war ein starkes Stück, was? Aber was hockst du wie ein Trauerkloß herum? Gefällt dir mein Fest nicht?“

„Nicht sehr“, antwortete Wallo tonlos. „Außerdem ist es jetzt für mich Zeit, ich werde wieder nach oben in die Stadt gehen.“

„Du willst mich verlassen? Ich wollte dich zum Chef meiner Leibgarde machen. Du kannst doch jetzt nicht so einfach gehen! Du kennst den geheimen Weg zu unserem Reich“, pfiff Nack zuletzt drohend auf ihn ein.

„Das hättest du dir früher überlegen sollen. Du wolltest mir lediglich zeigen, wo du wohnst. Das Ganze hätte auch böse ausgehen können, und du hast mich vorher kein bisschen gewarnt. Ich habe dir einfach zu schnell vertraut, und du hast das ausgenutzt. Das sagt mir, ich muss mich vor dir in Acht nehmen. Leider. Ich bin nicht verfügbar für dich, Burgherr Nack. Lebe wohl, ich breche in dieser Minute auf.“ Wallo erhob sich schlapp und zog zum Abschied vor Nack die Schiebermütze.

Aber Nack sprang auf und verstellte dem Drachen den Weg. Wallos abgeklärte Verachtung machte ihm zu schaffen, wenngleich er ihn herrisch anknirschte: „Ja, du hast Recht, aber deswegen musst du doch nicht gehen. ICH habe aus dir einen Drachen gemacht. Du bist mir etwas schuldig! Bleib und hilf mir, mein Reich zu verteidigen.“

Der Enttäuschte Wallo. Zeichnung: Petra Elsner
Der Enttäuschte Wallo.
Zeichnung: Petra Elsner

„Nichts bin ich dir schuldig, und ich bin nicht einer deiner Untertanen, Nack. Aber ich bin auch nicht dein Feind. Nur brauche ich sicheren Abstand zu dir. Wer weiß, was du sonst wieder ausheckst. Dein Reich, da kannst du sicher sein, verrate ich nicht. Versteh doch, ich fühle mich von dir benutzt. Das gefällt mir gar nicht. Deswegen will jetzt allein sein. Geh mir aus dem Weg und mach keinen Zoff mehr.“

Nack wurde nun schnell einsichtig. Er zwickte sich eines seiner Barthaarglöckchen ab und knipste es Wallo wie einen Orden an das zerschlissene Hemd. „Für deine Hilfe, Wallo. Und wenn du mal in Schwierigkeiten bist, läute mit dem Glöckchen in irgendein Gullyloch, ich werde dich hören und kommen.“

Wallo dankte unbeeindruckt und schlurf-hüpfte schwerfällig in das Schwarzwasser und tauchte ab …“

Hier enden meine Auszüge aus „Wallos seltsame Reise“. Vielleicht haben sie Euch berührt und Ihr wollt wissen, wie die Geschichte weiter geht. Dann kauft Euch bitte des Buch. Ein Klick auf das Buchcover in der rechten Spalte und Ihr seid bei einem Händler, der neue und gebrauchte Exemplare vorhält. Ihr werdet noch Flrirr, das Selberseelchen und Boha, die Höhlenbesitzerin kennenlernen und auch,  was Ken auf seiner Suche nach seinem Freund erlebt.

Petra Elsner

Spende? Gerne!
Hat Ihnen diese Geschichte gefallen? Vielleicht möchten Sie mich und mein Schaffen mit einem kleinen Obolus unterstützen? Sie können das ganz klassisch mit einem Betrag Ihrer/Eurer Wahl per Überweisung tun. Die Daten dafür finden sich im Impressum. Dankeschön!

Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (7)

Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

… Wallo graulte sich. Es war ein unwirklicher Ort, an den Nack ihn brachte. Ihr Weg führte durch einen Gullydeckel unter die Stadt. Dorthin, wo seit hundert Jahren ein Gewirr aus Rohren und ummauerten Gräben alle Abwässer leitet. Ein fahles Dämmerlicht fiel nur noch auf die beiden, die weiter, immer weiter durch giftgelbe, grün schäumende und blutrot brodelnde Rinnsale und Bäche platschten und wateten. Die Gewölbe waren flach wie Kerker, und Wallo kam nur krumm wie eine Bogenlampe voran. Dabei hielt er sich die tief hängende Gurkennase zu. „Hier stinkt es ja abscheulich. Einfach widerlich!“

Nack zuckte gelassen mit den Schultern und seine Bartglöckchen klirrten dazu: „Man gewöhnt sich an alles. Ich bin eigentlich eine Dachratte, aber die Menschen haben mich vertrieben. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit den Wanderratten einzulassen und bei ihnen unterzutauchen.“

„Ist es noch weit?“, wollte Wallo wissen. Das Wasser stand ihm bis zum Hemdbauch. Und bei jedem Hüpfer, den er vorwärts sprang, spritzte das stinkende Nass. Wallo ekelte sich gar fürchterlich.

„Nein, weit ist es nicht mehr, aber das letzte Stück müssen wir schwimmen“, war Nacks unerfreuliche Auskunft.

„Das ist doch nicht dein Ernst?“, donnerte nun Wallo aufgebracht. „Hätte ich vorher gewusst, was mir für ein schauriges Erlebnis bevorsteht, wäre ich nie und nimmer mitgekommen. Dagegen war es ja in der Mülltonne regelrecht gemütlich. Ich hab genug von diesem Unort, ich drehe um!“

Wallo machte kehrt, und Nack pfiff ihm beleidigt hinterher: „Hab dich nicht so zimperlich, du wasserscheuer Drache! Anders gelangen wir nicht in die Rattenburg. Davor ist ein Teil der Kanalisation zusammengebrochen und alles ist überschwemmt. Aber du wirst sehen, es lohnt sich. Gerade heute ist ein großer Wettkampf in der Rattenburg. Da treten die stärksten und mutigsten Kämpfer gegeneinander an. Der Sieger wird auf ein Jahr der Burgherr. Und ich bin einer der Favoriten. Das willst du dir entgehen lassen? Du kannst doch schwimmen – oder?“ Nacks letzten Worten hallten laut in dem modrigen Gewölbe.

Wallo drehte sich um, kam langsam auf den Ratterich zu und blubberte kleinlaut: „Ich hatte noch keine Gelegenheit.“

Nack lachte abermals sein kaltes Lachen: „Ha, so ein Gigant und von nix ’ne Ahnung.

„Kannst du fliegen?“, gab Wallo nun ärgerlich zurück.

„Nein, aber ungeheuer gut klettern“, verbarg Nack jenes Unvermögen.

„Ertappt, du kannst auch nicht alles! Also gib nicht so an!“, raunte Wallo.

„Ein Punkt für dich“, zählte Nack gönnerhaft.

„Und wie kommen wir nun weiter? Ich könnte versuchen, das Gebiet zu überfliegen. Es ist ein bisschen flach, aber es wird schon gehen. Aber dort hinten ragt das Gemäuer bis ins Wasser, müssen wir da etwa ganz untertauchen? Was machen wir?“, fragte Wallo.

Nack kratzte sich und dachte einen Moment nach. „Ich glaube, jetzt hab ich’s. Du kannst hüpfen und wie eine Raupe bedächtig am Boden krauchen.“

„Also, du redest von mir, als wäre ich eine Schnecke“, entrüstete sich Wallo beleidigt. „Ich kann blitzschnell durch die Lüfte preschen oder mich flach und schnell vorwärts schlängeln. Langsam bin ich nur, wenn ich etwas suche oder nur vorsichtig bin.“

„Nun, dann haben wir kein Problem“, fand Nack. „Schlängeln ist gut. Was an Land taugt, geht auch im Wasser. Schön kräftig und gleichmäßig durchziehen, du wirst sehen, es funktioniert. Probier es erst einmal hier im Flachen“, riet Nack.

Wallo legte sich flach auf das faulige Wasser. Es stank derart, dass er seinen Kopf unweigerlich hoch erhoben hielt wie eine Königskobra, und dann schlängelte er sehr schnell los: „Hohohohoho, es klappt, ich schwimme! Hihihihihoho. Und wie schnell. Guck mal! Hohohoho!“, freute sich Wallo und bremste rückwärts kommend so scharf, dass er eine kleine Bugwelle auslöste, die Nack mit dem Brecher ein Stück stromabwärts riss.

Nack pfiff dabei zombiehaft: „So ein Riesenschwachkopf, so ein Esel von Drache, so ein … Als er zurück war, hatte sich sein Zorn gelegt. „Du bist mir vielleicht einer. Erst kannst du was gar nicht und dann so gut, dass man das Grausen kriegt. Wenn wir jetzt losschwimmen, achte auf deine Bugwelle, okay?“

„Okay“, gab Wallo stolz zurück. Dennoch zog es Nack vor, hinter Wallo zu bleiben. Er wollte nicht abermals das keimige Wasser schlucken. Die ätzende Lorke war selbst für seinen Rattenmagen höchst unverträglich.

Alles ging gut bis zu der Tauchstelle. Als sich Wallo endlich überwunden hatte, den Kopf unterzutauchen, sah er, was sich darin tummelte. Schwimmkäfer, so groß wie Pantoffeln, allerlei Fadengewürm und Egel, so dick wie Autoreifen, tänzelten über den glitschigen Grund. An Wallos Bauch saßen inzwischen zwei kleine davon fest, saugten an seiner Krustenhaut und wuchsen dabei unglaublich rasch zu gewaltigen Ballons. Sie taten Wallo nicht weh, aber sie kitzelten ihn dabei so sehr, dass er pfeilschnell tauchte und weit vor Nack mit einem genervten Neiheiheihein-ohoh-Kitzelschrei aus einer großen Kloake auftauchte.

Der Schwarzwassersee war der Mittelpunkt der Rattenburg. Augenblicklich waren auf Wallo tausende von erschrockenen Rattenaugen gerichtet. Feindselig und bedrohlich starrten sie auf den ungewöhnlichen Eindringling…

Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (6)

Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

… Die Stadt lärmte schon ihr morgendliches Getöse, als sich quietschend der Containerdeckel lüftete. Wallo streifte eine Sekunde warmes Sonnenlicht, dann, was für ein schauerliches Erwachen, ergoss sich eine  grässliche Müll-Ladung über den Grüngeist, daraufhin schloss sich der Deckel wieder krachend.

„Mein Gott, was ist das Ekliges?“, schrie Wallo entsetzt in seiner düsteren Schlafstelle. Die Sache roch schlecht, klebte, und überhaupt, Wallo plagten mächtige Kopfschmerzen an diesem Morgen. Er hatte sich noch nicht den Matsch vom Leib gewischt, da ergoss sich die nächste Portion über ihn.

Gerade rieb sich der Grüngeist die Stielaugen, als es über ihm kurz knackte und etwas scharf pfiff: „Was machst du in meinem Frühstück.“

Der Erwachende.
Der Erwachende.

Wallo stutzte. Einen Spalt weit stand jetzt der Deckel auf. Im Gegenlicht erblickte Wallo eine merkwürdige Gestalt, die sehr wütend vor sich hin zischte und pfiff. „So weit kommt es noch, dass mir, Nack, dem Fürchterlichen, jemand das Frühstück klaut. Ungeheuerlich! Warte,  dir zeig ich’s. Mir frisst keiner ungestraft was weg!“

Ehe Wallo etwas sagen konnte, sprang die Gestalt ins Halbdunkel und ging mit gefletschten Zähnen auf ihn los. Aber der rasende Nack riss nur Löcher in Wallos Hemd. Sein Körper jedoch schien unverletzbar.

Wallo griff mit seinen Ärmelstrahlen den Angreifer und hielt den wutschnaubenden Nack ausgestreckt von sich:

„Gib Ruhe! Ich will deine Leckerbissen nicht!“

Nack.
Nack.

Nack zappelte wild: „Du kannst mir viel erzählen! So wie du aussiehst, frisst du alles, was du kriegen kannst. Was bist du eigentlich für einer?“

„Ich bin ein obdachloser Baumgeist.“

„Ein waaas?“

„Ja, ich bin ein grüner Lichtschweif und war bis gestern die Seele eine Baumes“, antwortete Wallo ruhig. „Kann ich dich jetzt loslassen, ohne dass du weiter verrückt spielst?“

Nack lachte ein kaltes, höhnisches Lachen: „Hah, ich spinne nicht halb so viel wie ein anderer in dieser Blechbüchse. Aber okay, lass mich runter.“

„Du kannst ganz beruhigt sein, ich tu dir nichts“, versicherte Wallo dem kleinen, haarigen Kerl.

Der pfiff überheblich mit rollenden Augen:

„Baumgeist, oha, oho, grüner Lichtschweif, ha! Was ich sehe, ist ein schmieriges Ungetüm in abgerissenem Hemd. Von wegen grün und licht. Du bist nicht ganz dicht in deinem Drachenkopf, was?“

Während Nack das sagte, schaute Wallo beschämt an sich herab. Wirklich, von seinem Grünlicht war keine Spur mehr. Der Ruß, die klebrige Müllmasse saßen fest auf ihm, wie eine schrumplige, schmutzige Haut. Kein Wunder, dass Nack ihm nicht glaubte.

Nack stolzierte, die Arme auf seinem Rücken verschränkt, auf und ab. Griff sich einen für ihn lukullischen Apfelgriebs und nagte genüsslich an ihm, wobei er immer wieder lauernd zu Wallo aufsah. Doch sein Hunger war nunmehr größer als seine Furcht vor dem massigen Mülldrachen.

Aber auch Wallo bestaunte seinen Morgenschreck. Über seinem Fellkörper trug Nack einen schwarzen Lederoverall, der von einer dicken Metallkette gegürtet war. Auf dem Haupt thronten ein blauer und ein gelber Fellstreifen und an Nacks Barthaaren hingen winzige Goldglöckchen, die bei jedem Atemzug hektisch läuteten.

Wallos prüfender Blick störte Nack: „Was gaffst du so! Noch nie ’ne Hard-Rocker-Panky-Ratte beim Essen gesehen?“

„Nein“, antwortete Wallo.

„Komisch, dabei wimmelt es nur so von Rattengangs in diesem Viertel“, wunderte sich Nack. „Aber du? Nun mal ohne Flunkern: Wer bist du, und wo kommst du her?“ Nack setzte sich gespannt auf eine leere Bohnenbüchse, begann ausgiebig zu speisen.

Wallo seufzte tief: „Ich heiße Wallo und ich lüge nie. Ob du es nun glaubst oder nicht, das ändert gar nichts, ich bin wirklich die Seele eines alten Baumes. Der ist aber gestern Nacht abgebrannt, und ich wusste einfach nicht, wohin. Diese Mülltonne war das Einzige, was sich als Schlafplatz bot.“

Nack nickte cool: „Den Ärger kenn’ ich, wenn du erst einmal ohne Dach über dem Kopf bist, nimmt dich in einer großen Stadt so schnell keiner auf. Aber, eines bekomme ich nicht in auf die Reihe, wenn du eine Baumseele bist, wieso kann ich dich sehen, und warum bist du nicht im Seelenhimmel, wenn es deinen Baum nicht mehr gibt?“

Wallo kratzte sich nachdenklich am Gurkenkopf. „Wenn ich das nur selbst wüsste. Normalerweise sind wir, die Seelen von Lebewesen und den Dingen, überhaupt nicht sichtbar. Ich weiß nicht, wie es kam, dass es mit mir plötzlich anders war“, grummelte er. „Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, bin aber nicht drauf gekommen. Womöglich hat es nur etwas damit zu tun, dass Ken in mir war, der Baum schon tot, ich nichts Besseres zu tun hatte, als auf Kens Rufen hin zu erscheinen. Vielleicht waren die Schwingungen günstig, standen die Planeten gut, hatten sich besondere magnetische Felder gebildet oder sonst etwas. Keine Ahnung. Mir schwirrt alles im Kopf durcheinander. lass uns hinausgehen, ich brauche dringend frische Luft. Alles andere ist mir momentan egal. Kommst du mit?“

„Moment mal. Machen wir. Gleich, später“, nuschelte Nack mit einem Wurstzipfel zwischen den Zähnen.

„Erst muss ich mir noch ein paar Leckerbissen zusammensuchen, und du klärst mich inzwischen auf. Wer ist dieser Typ, ähm, Ken, ja?“

Wallo lehnte sich wehmütig zurück und erzählte Nack von seinem toten Walnussbaum, der Höhle und Ken.

Nack hatte gut zugehört. Jetzt stellte er lebenspraktisch wie er war fest:

„Gut, du warst eine Baumseele. Wenn schon, aber eine Baumseele ohne Baum macht keinen Sinn. Sag das einem da draußen, der legt sich doch glatt vor Lachen hin. Die Wesen glauben lieber dem Schein. Und für mich siehst du aus wie ein obdachloser Stadtdrache. Das mit der Seele war einmal, ab jetzt bist du Drache. Okay? Du wirst sehen, das gibt dir mehr Ansehen. Komm jetzt, ich zeige dir, wo ich wohne.

 

Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (5)

Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

… Wallo war die Nachtkühle nicht gewohnt. Er schlotterte ganz erbärmlich und klinkte alsbald sehr verzweifelt an den Haustüren auf seinem Weg. Doch alle waren verschlossen. Wallo seufzte vor sich hin: „Ojeoje. Was soll nur werden?“

In jedem der Hauseingänge standen blaue Plastiksäcke, über einen stolperte versehentlich der mutlose Geist. Er stürzte, und wickelte sich im Fallen zu einer Kugel auf. Dann saß er. Sein Ende wedelte noch, und sein Anfang stülpte sich aus dem rußschwarzen Rund und sah dann verdutzt auf. Der Plastiksack war beim Umfallen gerissen, aus ihm quollen Kleidungsstücke heraus. Wallo entrollte sich und schlängelte neugierig zurück. Er durchwühlte den Kleiderhaufen und fand ein großkariertes Hemd, das ihm passte, und eine Schiebermütze. Er schlüpfte in das Hemd, teilte von seinem Lichtschweif zwei Strahlen ab und schob sie in die Ärmel. Er sah jetzt beinahe wie ein Mensch aus, der ganz sicher auf einem Bein durch die Gegend springen konnte. Doch Wallo war es ziemlich egal, wie er ausschaute. Ihm war, als friere er nun nicht mehr ganz so sehr, nur das allein zählte.

Die Verwandlung beginnt.
Die Verwandlung beginnt.

Eine Straßenecke weiter kam Wallo auf eine breite Allee. In deren Mitte wuchsen mächtige Linden. Wallo war froh bei diesem Anblick. Vielleicht würde ihn eine der vielen Baumseelen aufnehmen, wenigsten für diese schreckliche Nacht.

Was Wallo nicht wusste, dass es keine gute Zeit war, um an diese für Menschen unsichtbaren Baumpforten zu klopfen. Ahnungslos pochte er leise an die erste Linde. Darin hörte er nur ein jammervolles Wimmern, niemand öffnete ihm. „Kann ich helfen?“, fragte Wallo warmherzig durch das Holz. Doch er erhielt keine Antwort.

An den zweiten Baum klopfte er schon etwas kräftiger. Durch ein Astloch fuhr eine hektische, violette Lindenseele, die ähnlich einem Zitteraal zappelte und Wallo schrill anfuhr: „Äh. Was willst du um diese Stunde? Hast du wenigstens eine Tüte mit?“

 

„Was für eine Tüte?“, fragte Wallo irritiert.

Die Lindenseele.
Die Lindenseele.

Die Zitterseele verdrehte genervt die Glubschaugen: „Na, eine Plastiktüte voll Smog. So eine Portion wundervollen Automief, es können Diesel- oder Benzingase sein. Kapiert? Ganz gleich was, um diese Stunde schnüffeln wir alles.“

„Wozu brauchst du die Tütengase?“, will Wallo erstaunt wissen.

„Na, du bist mir vielleicht eine Landbaumseele. Von nichts ’ne Ahnung! Du bist hier in der Schnüffelallee. Hier ist der Smog tagsüber so herrlich dick, dass man echt abheben kann. Aber nachts, da ist kein Stau, kaum wer unterwegs. Doch wenn keine Autos fahren, geht es uns hier wirklich scheußlich. Richtig mies sind wir dann alle drauf. Da klopft man nicht ohne ’ne mitgebrachte Tüte an, um sich an unserem Elend zu weiden. Hast du nicht doch was dabei?“

„Nein“, antwortete Wallo verlegen. „Und ich will mich an gar niemandem weiden, mir ist heute Nacht mein Baum abgebrannt. Da wollte ich fragen …?“

„Äh, ein Obdachloser. Mach, dass du weiterkommst, du Penner! Solche wie dich können wir hier nicht gebrauchen. Los, los, glotz nicht so blöd und verzieh dich!“, krächzte verächtlich die violette Schnüffelseele, zog ihren Birnenkopf zurück in den Baum und verschloss das Astloch mit einer knautschigen Bierbüchse.

Wallo stand völlig verdattert und verlassen in der Nacht. Obdachloser, Penner, schnüffelnde Baumseelen, all das kannte er nicht und wusste nicht recht damit umzugehen. Aber wenn das eine Schnüffelallee ist, dann brauchte er es hier wohl nicht weiter zu versuchen.

Er machte sich Hoffnung: Vielleicht finden sich ja in den weniger befahrenen Nebenstraßen noch gesunde, freundliche Baumseelen. Wallo zog erschöpft, doch unbeirrt weiter.

Es sollte eine sehr lange Nachtwanderung werden. In den meisten Straßenfluchten, in die er hineinsah, wohnten keine Bäume, oder sie waren noch so jung und zart, dass die Seelchen darin keinen Platz für einen ausgewachsenen Artgenossen gehabt hätten. Zwecklos, es trotzdem zu versuchen.

Wallo irrte schließlich ratlos umher. Keinen Sprung weit konnte er mehr hüpfen, er kroch nur noch flach über das Gehwegpflaster, als ein lautes Brummen die Stille zerriss. Ein Müllauto kurvte um die Ecke, bremste, dann tuckerte und ächzte es im Stehen. Zwei Männer sprangen vom Wagen und entleerten Abfallcontainer, die gegenüber an einer Häuserwand standen.

Als wieder Ruhe eingekehrt war, schlich Wallo aus der Dunkelheit hinüber, sprang in eines der klobigen Gefäße und zog den Deckel zu. Es störte ihn kein bisschen mehr, dass es darin gar fürchterlich stank. Der obdachlose Grüngeist war so erschöpft, dass er sofort einschlief. Morgen, morgen würde alles wieder in Ordnung kommen. Es ist die Hoffnung, die den bekümmerten Wesen einen friedlichen Schlaf schenkt …

Fortsetzung: Wallos seltsame Reise (4)

Wallo
Wallo

… Die Nacht zerrissen Sirenen und flackerndes Licht. Im Baum war es unglaublich heiß. Qualm kroch in die Höhle und stieg schließlich hinauf in den Stamm, wo Wallos Kopf auf einem Vorsprung, noch nicht ganz wach, ruhte. Seine lange Gurkennase schnupperte in alle Richtungen und im Nu schreckte Wallo auf. Was war das? Irgendwie wurde es ungemütlich. Der Grüngeist musste nachsehen, wo die Ursache lag.

Nach unten konnte er nicht. Bei dem Versuch stieg ihm beißender Rauch in die Nase und aus seinen Stielaugen tränten gelbe Bäche. Also umkehren und rasch hinauf zur blattlosen Baumkrone. Vorsichtig bahnte er sich einen Weg durch die sperrigen, trockenen Äste, bis er auf einem günstigen Ausguck angelangt war.

„Oje, ojeeeeeeehhh!“, rief Wallo entsetzt. Es war ein Aufschrei aus allerhöchster Not. Rings um Wallo brannte der ganze Park. Das Feuer züngelte schon heftig an seiner Baumbehausung. Das Holz knackte und spuckte Funken. Wallo blieb keine Zeit zum Überlegen, er musste blitzartig hinaus.

Die Feuerwehrleute hielten den Brand nur von den Straßen aus im Zaum, damit er nicht auf die Steinhäuser überspringe. Natürlich hatten sie Wallos Schrei gehört. Waren davon zusammengezuckt und spähten besorgt über das Parkgelände. Nein, sie sahen nichts mehr. Keinen Menschen, kein Tier. Aus der niedergebrannten Parklandschaft ragte nur noch der tote Walnussbaum hervor, den jetzt die Flammen vollends ergriffen. Der war ihnen kein Rettungsversuch wert. Wieso auch. Er lebte eh nicht mehr. Es wusste ja niemand, außer Ken, von dessen Bewohner. Noch einmal vernahmen die Feuerbändiger diesen Schrei, fast zeitgleich schoss ein grüner Lichtbogen in den klaren Nachthimmel und zischte über die Dächer davon. Die Leute meinten, es wäre eine vergessene Silvesterrakete gewesen und kümmerten sich nicht weiter um jene Erscheinung.

Atemlos saß Wallo rußbedeckt auf einem der unzähligen Dachgiebel. Was sollte nun werden? Wohin sollte er gehen? Wo sollte er ein neues Zuhause finden? Es war stockfinstere Nacht. Ken schlief unter einem dieser Dächer, aber Wallo wusste nicht, wo. Morgen, übermorgen und überübermorgen wird er zum verbrannten Park zurückkehren. So lange, bis er Ken dort antreffen würde. Jetzt aber brauchte er einen Schlafplatz für die Nacht. Er musste sich auf die Suche machen. Der Wind pfiff durch den Lichtgeist, dass er glaubte, in tausend Fetzen zu zerstieben. So rutschte der zerzottelte Wallo an einer Regenrinne hinunter auf die Straße und hüpfte von Laternen- zu Laternenlicht …