Moin, allerseits. Nach zwei dunklen, klitschnassen Tagen weckt mich heute ein hellgrauer Himmel. Durch meine Nacht sprangen wieder Menschen wie Blitzlichter und das Durcheinander trieb mich zeitig aus den Federn. Es ist die Kehrseite, wenn man in der Vergangenheit wühlt, um sie zu bergen, man schläft schlecht. Wer hier die wachsende Geschichte mitliest, fragt sich vielleicht, ob es meine Geschichte sei. Nein, die Hauptfiguren sind erfunden, sie sind auch zehn Jahre jünger als ich, aber sie nehmen natürlich mein Zeitenwissen in sich auf. Andere, die in kleinen Szenen auftauchen, sind hier und da auch reale Menschen, wie beispielsweise die Aufwindleute. Und manches darf in meiner Geschichte noch ein klein bisschen länger leben, was in Wahrheit gar nicht mehr existiert, wie das „Blaue Licht“. Es war einmal… Habt alle miteinander einen schönen Sonntag, ich mache heute auch mal Pause…
Kategorie: Morgenstunde – Blogkolumne
In der vierten Klausurwoche
Morgenstunde (774. Blog-Notat):
Endlich milder draußen. Neben der Schreiberei kann ich wieder täglich etwas im Garten arbeiten. Letzte Blätter aufnehmen und unter die Sträucher geben, als wasserspeichernde Drainage, hoffe ich. Später kommt Grünschnitt obendrauf und dann rüsselt wieder der Dachs… ☹. Alle bewusst angelegte Blätterteppiche durchstöbert er regelmäßig und zieht die Anhäufungen in die Breite. Ich versuche es zuzulassen…und greife zum Laubbesen 😊.
Hier der nächste Klausur-Schnipsel zu „Die verlorene Geschichte“:
… Er fuhr mit der S-Bahn nach Eichwalde, um dort Maja Hügel in ihrem Häuschen zu treffen. Sie hatte einen erneuten Aufstieg unters Stadtdach rigoros abgelehnt und lockte stattdessen mit einer scharfen Soljanka. Hinter Grünau durchzog die Bahn ein großes Waldgebiet, fünf Minuten lang nur schneegepuderte Kiefernstämme. Elias spürte im flackernden Licht das Zurücklassen der Stadt. Viel zu selten gönnte er sich eine Auszeit im Grünen. Stets und ständig hatte er einen Berg Arbeit vor sich, und keinen, der ihn in den Feierabend einlud. Mit diesem Lebensstil hatte er über die Jahre alle Freundinnen sehr schnell verschreckt, was ihn nicht mehr verwunderte. Seinen natürlichen Charme hatte der schlanke Mann darüber nicht verloren. Er war ein unverbesserlicher Workaholic und hatte mit den Jahren sein Interesse an Frauen verloren. Vor dem Bahnhof wartete Maja. „Es sind nur ein paar Schritte, dann bist du gleich wieder in Berlin.“ Elias hob fragend die Brauen. „Na, Eichwalde und Köpenick sind mit der Zeit zusammengewachsen. Was hier von der Waldstraße links liegt ist Brandenburg, und was rechts abgeht ist Berlin.“ Maja Hügel war nach ihrer Scheidung Anfang der 90er in das Häuschen der Mutter gezogen. Man könnte sagen, sie war dorthin geflohen. Denn seit ihre
beiden Künstlerleben mit der Wende wirtschaftlich eskalierten, schlug der Mann plötzlich zu. Sie wollte und konnte ihn nicht mehr durch die Zeit tragen. Unter dem mütterlichen Schutz gelang ihr ein Neuanfang, sogar ein Studium an der Hochschule der Künste absolvierte die bis dahin ungelernte Zeichnerin noch.
Elias sah sich in dem winzigen Häuschen mit Garten um. Hinter der gelb getünchten kuschligen Wohnküche mit Aufstieg zur Schlafmansarde öffnete sich der größte Raum hell und weit. Regale, ein Zeichenschrank und meterlange Arbeitsplatten vor der hausbreiten Fensterfront. Alles wirkte klar und aufgeräumt, aber das war es nicht. Die Blättertürme, die von uferloser Arbeit zeugten, kamen ihm irgendwie bekannt vor. Lächelnd fragte er Maja beiläufig „Hast du schon mal eine Geschichte verloren?“ „Eine? Hunderte,“ erwiderte sie und grinste. „Meinen wir das Gleiche?“ „Wer weiß das schon.“
Beim Essen erfuhr Maja, wie es beruflich mit ihm weiterging. Er hatte im Sommer 1989 gerade sein Journalistik-Studium abgeschlossen und eine Stelle in der „Jungen Welt“ bekommen. Doch schon 1990 wurden die Reihen ausgedünnt und ganze Redaktionen des Verlages geschlossen oder verkauft. Elias Kühn wurde entlassen, und somit wusste er, sein Studienabschluss würde bald nichts mehr wert sein. Also begann er zum Wintersemester Germanistik an der FU Berlin zu studieren und nebenher freiberuflich zu schreiben, und dabei war es geblieben. Und Frauen? Gab es – und auch wieder nicht.
Er sah sich Majas neue Entwürfe an, als sie aus der Küche heiter rief: „Roten oder Weißen?“ Aber da kam sie schon mit zwei Schoppen und ließ ihn wählen. Er also rot, sie weiß. Nun versank jeder in einem gemütlichen Ohrensessel, zwischen ihnen ein Teetischchen mit ziselierter Messingplatte, als sie fragte: „Was für eine Geschichte hast du denn verloren?“ „Wenn ich das wüsste,“ antwortete Elias, „es treibt mich seit Wochen um, je länger ich krame, kommen Geschichten zum Vorschein, von denen ich fast vergessen hatte, dass ich sie jemals geschrieben habe. Zu dicht ist die Zeit, sie überschreibt sich andauernd, verstehst du?“ Sie nickte nur stumm und trank. Er fingerte in seiner Innentasche und holte ein gefaltetes Blatt hervor. „Zum Beispiel sowas. Der Text ist aus dem Jahr 1992 und stammt aus einem Roman, den damals keiner haben wollte. Aber da sind Passagen wie diese drin, die mir die Erinnerung erwachen lässt. Sie nahm die Seite und las laut vor:
… Alles, was zweieinhalb Jahre im Osten Deutschlands in der Schwebe blieb, gleicht einem Trauma, das die Menschen mürbe machte. Die Tatsache, mehr Abstiegs- als Aufstiegschancen zu haben, bricht in diesem Frühjahr 1992 endgültig auf. Zum Jahreswechsel waren rund fünf Millionen Menschen ihre vertraute Arbeit oder Perspektive los. Die Statistiken schönen die Realität wenig geschickt. Man unterlässt es tunlichst, Umschüler, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Vorruheständler, Jugendliche ohne Lehrstelle, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose zusammenzuzählen. Aber die Verhältnisse explodieren. Wären die Deutschen nicht von Grund auf so ungeheuer fügsam, es reichte ein Zündholz und der Sozialknall wäre da. Stattdessen wächst in Ost und West der Hass aufeinander, und der Frust auf die Fremden, als “die alles verursachenden Sündenböcke“. Nichts daran ist neu. Auch die zugrundeliegenden Irrtümer nicht, und auch nicht die Sorglosigkeit der Mächtigen. Dennoch, junge Leute wittern klarer, was in der Luft liegt. Aber bei denen, die nicht über den Nebenmenschen nachdenken, muss das Unrecht erst in die eigene Familie oder den Freundeskreis einschlagen, bevor sie erwachen. Die Frage: Was kann man tun? beantworten die meisten Ostdeutschen erst aus der Rückenlage. Es ist eine dumpfe Wehr, eine ohnmächtige, auch feige, die unterschwellig, doch latent nur nach geordneten, gleichberechtigt-satt-deutsch-stolzen Verhältnissen ruft. Vergessen, was war, woher sie kamen, die Erinnerungen gelöscht, freiwillig oder dazu genötigt nach der Wende. Was bleibt ist eine Tabula-Rasa-Situation. Zurückgeworfen auf einen Null-Punkt, füllt sich bei vielen Ostdeutschen die innere Leere zu etwas braunem. Bei Jungen, auch Alten. Die etablierten Politiker geringschätzen diesen Trend noch als ein Jugendsyndrom. Aber die einst isolierten Rechten Lebenszellen haben sich jahrelang gegen die Intervention der Gesellschaft resistent gemacht. Jetzt assimilieren sie mit ihr, wo deren Werte angeschlagen sind. Wer kennt einen Arzt?
Die zersplitterten Jungen Linken in der Stadt sind depressiv. Ihre Vision ist zerpflückt und verdorben. Sie sind verlassene Rufer im Wind. Ausgegrenzt durch die Umkehr der Verhältnisse, Mut- und Fantasielosigkeit, wiewohl durch ihre eigene intolerante Arroganz. Ein Teil von jenen schlägt mit Rollkommandos gegen die Rechten Aktionen zurück. Das Ost-Volk hält verstört die Fenster geschlossen, und fast jeder Zweite steigt in ärmere Gefilde ab. Und so geht die Angst um…“
„Ui“, pustete Maja nach. „Es war einmal und ist wieder so. Nun, nicht ganz so, aber tendenziell. Der dunkle Osten, oder wie Bundespräsident Gauck mal meinte ‚Dunkeldeutschland‘. Mann, war ich darüber sauer.“ Sie kippte den Schoppen hinter, als wollte sie etwas wegspülen, und schenkte sich nach. Maja grummelte: „Warum reden eigentlich immer alle von dem Osten, als wäre er ein einheitliches Ganzes? Es gib nicht DEN Osten. Zu jeder Zeit gab es hier die verschiedensten Spielfelder und Nischen. Leben, die nichts verband, außer der Verortung. Deine Situationsschilderung dieser Zeit stimmt, aber was ist mit jedem Ersten gewesen? Wir saßen nur auf jenen Inseln im Osten, die mit der Einheit keiner mehr brauchte oder wollte. Es gab auch die anderen, die fast nahtlos weiterlebten und sich was schaffen konnten, die Handwerker, die Beamten, die meisten Lehrer, selbst die Berufssoldaten. Sie alle verstehen schon lange nicht mehr, weshalb wir noch jaulen.“ …
Klausur-Schnipsel
Morgenstunde ( 773. Blog-Notat)
Er hats wahr gemacht, der singende, spielende, spöttelnde Micha vom Wentowsee. Er kam gestern zum Abendbrot mit einer Kiste Wein. Und was für eine Kiste: 12 Flaschen! Ui, jede Menge „Klausur-Stoff“, der reicht ’ne Weile 😊. Mir wars fast peinlich, aber er meinte: „Versprochen, ist versprochen.“ In den drei Abendstunden hat jeder von seinen Zukunftsprojekten erzählt, davon stecken noch reichlich im Beutel, wenn auch vielleicht ein wenig mehr heimisch verortet. Will sagen, es sind zumeist Zu-Hause-Produktionen, denn wir schliddern in ein Alter, in dem die Jüngeren längst unsere Plätze eingenommen haben. Klar. Ja, es ist schade, aber der Lauf der Dinge und ich habe ja meinen Blog, über den ich immer publizieren kann, wenn er denn gefunden wird…
Hier das nächste Klausur-Stück zu „Die verlorene Geschichte“:
… Während er versuchte sich und die Wohnung aufzuräumen, dachte er an das absurde Theater auf der Spree, bei dem er ihr kurz begegnet war. Die Verlagsleitung ahnte wohl, dass nur wenige zu einem abendlichen Festakt kommen würden. 40 Jahre DDR – überall brodelte es und die Debatten in den Redaktionen wurden ruppig. Da entschieden die Genossen, die beiden Kinder- und Jugendverlage über die Mittagszeit zu einer Dampferfahrt zu laden. Kneipe ohne Fluchtweg. Die Stimmung war gereizt, denn natürlich fühlten sich die Mitarbeiter genötigt, und die Tatsache, dass besonders viel wertloses Anerkennungslametta verteilt wurde, machte die Aktion noch schriller. Die Leute fühlten sich verarscht und begannen diese seltsame Dampferfahrt für ihre Zwecke zu nutzen. Gewöhnlich hatten der Verlag Neues Leben und der Verlag Junge Welt nicht viel miteinander zu schaffen. Jetzt schmiedete man auf zwei Schiffsebenen Zukunftsprojekte, die manchem später weiterhalfen. In einer stillen Nische erzählte Maja Hügel von den Ideen des Neuen Forums, wissend, dass natürlich auch Spitzel unter den Kollegen waren. Diese Courage beeindruckte ihn. Gut 30 Jahre später sah er sie im „Blauen Licht“. Die kleine Bürgerrechtler-Runde kam von Werner Schulz‘ Beerdigung. Grau und geschrumpft, aber Elias erkannte Maja sofort, und so kam es zu dieser beruflichen Verabredung.
Er hatte lange keine Frau mehr zu Gast. Der Mann wuselte fahrig von einer Ecke in die nächste. Wo anfangen, wo aufhören? Rumpelig und staubig war es überall. Nur der dunkle Schreibtisch glänzte geputzt von seinen Pulloverärmeln. Dorthin stellte er nun seine Stehlampe und platziere zwei Gründerzeitstühle in deren Lichtkreis. Draußen dämmerte es, und somit versank der Rest der Wohnung gnädig in mattem Dunkel. Alles eine Frage der Beleuchtung, dachte er zufrieden, als es klingelte.
Maja Hügel hatte noch die Winterkälte in den roten Wangen und schnaufte schwer vom Treppensteigen: „Dass immer noch so viele Leute im vierten Stock ohne Fahrstuhl hausen müssen. Diese hohen Stufen laufe ich nur noch einmal runter und nie wieder rauf.“ Er nahm ihr den Mantel ab und sprach mit einem leicht beleidigten Tonfall: „Wäre aber schade. Kaffee oder Tee?“ „Kaffee. Danke.“ Elias Kühn wies ihr mit der Hand den Platz unter der Stehlampe zu und verschwand in der Küche. Während er die Kaffeemaschine zum Laufen brachte, ließ sich Maja auf einen der Stühle fallen und schnaufte immer noch. „So ein tägliches Treppentraining ersetzt jedes Fitnessstudio“, kommentierte er ihre Atemlosigkeit. Sie waren etwa gleichaltrig, aber er war fitter. Während des Kaffeetrinkens sammelte sie sich und hob ernst an: „Also, deine Episoden sind gut, doch so sarkastisch geschrieben, dass mir, ehrlich gesagt, beim Lesen das Lachen verging. Sie lassen mir keinen Spielraum, um dazu eine pointierte Kari zu erfinden.“ Maja machte eine winzige Sprechpause, in der er enttäuscht in seinen Kaffee starrte. Doch ihr „Aber“ richtete seinen Blick wieder auf, und er sah, wie sie in ihrer gewaltigen Tasche kramte und einen Skizzenblock hervorzog. „Was hältst du von symbolträchtigen Initialen, in denen die Deutungshoheit dem Leser überlassen wird? Ein Anstoß für eigene Gedanken, wenn du verstehst.“ Er blickte auf dieses verschnörkelte „D“, in dem etwas zusammenfloss, sich verknotete und wieder auseinanderdriftete. „Oh, das ist aber spannend! Es könnte einfach ein schmückendes Initial sein, aber auch als Symbol für Deutschland stehen, für den Wandel, das Zusammenkommen und Entfremden, für die ewige Veränderung…“ Er nickte zustimmend und strich mit den Fingern vorsichtig über die Zeichnung. „Und schön ist es obendrein, dein sinnreiches D.“ Jetzt lächelte sie. Maja hatte sich den Kopf zerbrochen. Die Episoden aus dreißig Lebensjahren in der DDR und dreißig im wiedervereinten Deutschland sahen mit scharfem Blick auf diese Zeiten, und sie spiegelten irgendwie auch ihr welliges Lebensland wider. Das war ihr in der Vergangenheit kaum untergekommen. In diesen Zeilen hatte Elias ein menschliches Gebäude aufgetürmt, das ein Beben überstanden hatte und weiter auf Brüchen wuchs. Sie wollte unbedingt dafür etwas Passendes erfinden, und nun gefiel ihm diese Idee. Da saßen plötzlich zwei Verbündete…
In der dritten Klausurwoche
Morgenstunde ( 772. Blog-Notat)
Es geht nur sehr langsam vorwärts. Jeden Tag nicht mehr als 20, 25 Zeilen. Immer wieder nachdenken, wird das auch gut erzählt? Ist es nicht zu schwer… Putzt es den „blinden Fleck“ unter dem so viele im Osten leben und lebten? Ich bin nicht sicher, taste mich voran. Das Versenken in jene Zeit kostet Energie und dann ist heute plötzlich der Himmel aufgerissen, man möchte draußen sein, aber für mich ist es zu eisig.
Die nächsten Zeilen zur Geschichte:
…Immer noch diese mangelnde Empathie, dachte Elias, der den Wortwechsel gehört hatte. Der Mann, der da dem Düsseldorfer Produzenten kurz in die Parade fuhr, hatte 1992 sein Referendariat in Saarbrücken gemacht. Jörg Goldmann hörte täglich, wie dort die Lehrerkollegen über die unterbelichteten Ossis herzogen. In ihrer Wertigkeitsskala standen die nur knapp über den Flüchtlingen. Da war er wieder, der „Herrenmensch“, der aburteilte, Kraft seiner Wassersuppe. Eines Tages wurde der Referendar Goldmann von einem Kollegen befragt, warum sein Englisch so dürftig sei, woraufhin er antwortete: „Mein Russisch ist besser.“ Der Kollege sprach nie wieder ein Wort mit dem enttarnten Ostdeutschen. Aber dieser kalte Krieger war wenigstens zu Hause geblieben, andere kalte Krieger gingen mit Buschprämie in den Osten, führten sich wie Besatzer auf und evaluierten oder kauften sich die Aufstiegswege frei. Natürlich gab es auch andere, freundliche, zugewandte neue Nachbarn, nur die fielen nicht so auf. Denn tendenziell glich dieser Aufbruch gen Osten einer lauten, aber unblutigen Landnahme. Die Besiegten schickte man zum Arbeitsamt oder in den vorzeitigen Ruhestand. Diese Landnahmen kamen und kommen in Wellen immer wieder. Im hippen Berliner Prenzlauer Berg verschwanden zuerst die Alten. Aus dem avantgardistischen Kiez wurde nach und nach ein teures gutbürgerliches Wohnviertel. Künstler und weniger Betuchte zogen in den 2000er Jahren in die Platte am Stadtrand oder gleich aufs Land. Aber auch dort sind sie nicht sicher. Denn den permanenten Umbau der Lebensverhältnisse regelt das Geld, und das muss hecken… Elias Kühn zahlte. Er hatte genug Wein und genug von diesen Gedanken.
Am späten Vormittag erwachte er eingerollt unter der Sofadecke. In den Ohren das Rauschen der Erinnerung. Nicht an den gestrigen Abend. Er hatte wieder von ihm geträumt. Wie er da hing in seiner Scheune. Unter seinen Füßen eine leere Flasche Korn und seine Lebenszeugnisse: Der Abi-Abschluss aus dem Jahr 1960, sein Diplom als ML-Lehrer, Arbeitsverträge und diese eine Kündigung. Allesamt rot durchstrichen. Kein weiteres Wort. Einfach nichts. Der Vater hatte sich für den Abgang aus seiner Geschichte entschieden. Das neue Leben hatte er erst gar nicht versucht. Als im Fernseher die jubelnden Menschen auf der Mauer sah, hat er sich einen großen Weinbrand eingeschenkt und gemeint: „Das wars.“ Der Glanz verschwand aus seinen Augen, sie waren schlagartig leer. Ein Jahr später, exakt am 9. November 1990, nahm er sich den Strick. Der Anblick jagt seither als Schauer durch seine schlechten Träume, vor allem, wenn er zu viel Rotwein hatte. Du darfst dich nicht so gehen lassen, Kühn, schimpfte er innerlich. Mit Klamotten nächtigen. Man, geht gar nicht!
Der frühe Tod des Vaters und der seltsame Wandel der Stiefmutter, die 1991 vom FDJ-Zentralrat direkt in ein Brandenburger Finanzamt wechselte, hatten in ihm einen unbändigen Freiheitswillen ausgelöst. Er ertrug einfach solche Sprüche nicht, wie die seines Germanistik-Profs: „Ach, Sie kommen von daher, wo gleich das Licht ausgeht.“ Elias Kühn wollte sich sehr bald nicht mehr von jedem, der von der anderen Seite der Elbe kam, anpinkeln lassen, und so wurde er freier Journalist und Sachbuchautor und hielt sich mit seiner Schreiberei einigermaßen über Wasser.
Zerknirscht von der Nacht ließ er sich ein Vollbad ein.
Im warmen Wasser entspannte er sich langsam, aber er spürte etwas, was sich lange schon auf seine nackte Winterhaut gelegt hatte und sich nicht wegspülen ließ: Einsamkeit. Der Mann fühlte sich zurückgelassen. Die meisten Ostdeutschen meinten, wenn sie von Freiheit redeten, wohl eher Reisen und Wohlstand. Das hatte er irgendwie anders verstanden. Freiheit war für ihn immer auch Wagnis, denn wer unangepasst leben wollte, der musste es auch verantworten. Wohlstand war nicht seine Realität. Er hatte schwer damit zu schaffen, nicht unterzugehen, denn es gab einfach keinen gewachsenen Beistand. Im Grunde waren alle, die er aus dem abgewickelten Land kannte, verschwunden. Im Westen, oder in den neu zu schaffenden Institutionen abgetaucht: den Arbeitsämtern, den Krankenkassen, dem Bafög-Amt… geduckt in Sicherheit. Ja, er hatte im Blauen Licht mit der Zeit eine Ersatzfamilie gefunden. Einen wilden Menschenmix. Aber niemand von diesen Leuten hatte zusammen mit ihm vor der Abi-Prüfung gezittert, die erste Fete gefeiert, im Singeklub gemeinsam geträllert oder Trauer durchlitten, wenn schon wieder einer abgehauen war. Keiner von denen war bei ihm und erinnerte sich noch daran, wie es war an seiner Seite, woran sie damals glaubten und an was sie nicht mehr glaubten. Er war müde von den vielen Erklärungsversuchen bei Ost-West-Begegnungen. Man verstand einander nicht. Er hatte einst bei Diego Viga gelesen: „…einmal Gedachtes kann niemals ungedacht werden, was eingegangen ist in den Menschengeist, wirkt fort…“ Das war ihm Trost. „Aber irgendwie verschwindet es schon“, murmelte der Mann und blies in den Seifenschaum, so dass der flockte und zerplatzte. Es fiel ihm schwer sich aus der Nachdenklichkeit zu erheben, doch er musste, denn er hatte eine Verabredung mit Maja, die ihm Illustrationen zeigen wollte…
2. Klausurwoche
Morgenstunde (771. Blog-Notat)
Die zweite Klausurwoche neigt sich und änderte wieder einmal ALLES, denn eigentlich wollte ich ja kurze Geschichten schreiben und nun ziehen mich die Gedanken wieder in eine andere Zeit. Wenn heutzutage irgendein Schlamassel geschieht, ist der meist gehörte Spruch „Aber lassen Sie und nach vorne schauen…!“ Die Analyse der Geschehnisse wird zumeist übergangen, als der Schnee von gestern abgetan, ABER mir hat man mal beigebracht, dass die Zukunft nicht gut gestaltet werden kann, wenn man die Vergangenheit nicht verstanden und verarbeitet hat. Und das sehen wir ja heute sehr gut. Beispielsweise in: Der Osten tickt in seiner angestammten Bevölkerung anders und das hat Gründe. Nur deshalb gehe ich in manchen meiner realen Geschichten in die Anfänge zurück. Die 90er Jahre. Aber eines ist auch klar, dieses Sezieren fährt einem in die Magengrube. Aber gut, ich habe mich eingelassen auf „Die verschwundene Geschichte“. Sie wird eine etwas längere Erzählung werden. Den Übergang zum Fortgang habe ich und tippe dann mal weiter…
…Die Männer tranken schweigend. Eine seltsame Stimmung hatte sich ihrer bemächtigt, die Schwermut der Verlierer, als Hardy eintraf und ihre Reise nach innen mit seiner Herzensgüte unterbrach. Er schob seine Mandoline unter den Tresentisch und grinste verschmitzt aus seinem müden Gesicht, als hätte er gerade einen guten jiddischen Witz gehört. Aber es war nur eine Vorfreude auf das, was gleich geschehen würde. Hardy bestellte drei Pils und kaum, dass sie gezapft waren, schneiten Claudi, die singende Geige, und Andi mit dem Bandoneon herein. Hardy nahm noch einen schnellen Schluck und sprach mit Rundblick in die Kneipe. „Öffentliches Probenende. Ihr seid dabei, wir haben ein neues Lied.“ Das gab es dann und wann und die allermeisten mochten die Klezmer- und Weltmusik der Aufwindmusiker. Die Gespräche hielten inne – für ein Lied, wie wehender Schmerz mit schalkhaftem Abgang. Die Kneipe tobte und klatschte. Der Produzent in der Kneipenecke lächelte wohlwollend und sagte zu seiner Begleitung: „Die sind so gut, aber leider nicht biegsam, und sie kleiden sich, als wären sie arm. Sehr schade, so kommen die nie groß raus.“ „Sie sind arm,“ zischte der Mann zu seiner Rechten und setzte nach: „… und zu stolz, um sich jemals wieder zu verbiegen.“…
…
Morgenstunde (770. Blog-Notat)
Manchmal braucht man einen Schubser. Als ich gestern das erste Klausurstück – das kleine Kammerstück „Die verlorene Geschichte“ – online stellte, meinte der singende Micha auf Facebook:
Liebe Petra, das ist der Anfang eines Romans. Den will ich lesen!
Und ich antwortete: Lieber Micha, sollte eigentlich eine Kurzgeschichte sein…
Er erwiderte: Ich weiß. Aber da wabert was. Da wird ein Bogen gespannt. So wie es jetzt ist, wird der Bogen wieder abgesetzt. Aber schieß mal den Pfeil! …
Hm, da er hat wohl meine Abkürzung bemerkt und ja, ich wüsste, wie es weitergeht… werde die letzten zwei Sätze streichen, stattdessen den Gedanken weiterführen und nun wohl monatelang daran weiterschreiben (ohne einen passenden Verlag zu haben, versteht sich) … das Märchen vom Schneeglöckchenlicht, das ich eigentlich als 2. Klausurstück erfinden wollte, muss warten. Oh je, das kann ja heiter werden…, aber Micha hat mir ja zum Trost eine Kiste Wein versprochen. Trockenen Weißen bitte 😊
Tschüss alle miteinander, ich tauche wieder ab in meine Winterklausur.
KLAUSUR 2023
Morgenstunde (769. Blog-Notat)
Der neue Chatbot ChatGPT ist der neueste heiße Scheiß. Darin schreibt eine KI auf Wunsch Gedichte und Geschichten… und ich frage mich: Soll sich der Mensch das Denken abgewöhnen? Buchzusammenfassungen serviert zu bekommen, ohne selbst jemals in die Schulschwarte geschaut zu haben? Ich dachte immer, KI sollte das Leben erleichtern, aber nicht das Leben an sich abkürzen. Schon heutzutage lesen immer weniger Menschen, da fragt sich der Autor schon hier und da: Wer wird das noch lesen? Aber wenn ich heute sehe, da spuckt eine KI – eine Art Transformer – in Windeseile eine Geschichte aus (zugegeben, keine wirklich hinreißenden, aber immerhin), brauchen wir dann noch Literaten und Dichter? „network error“ heißt es oft bei der noch kostenlosen Nutzung, weil der Chatbot der Firma OpenAI wegen der weltweiten Zugriffe einfach überhitzt ist. Puh. Nein, ich will und werde in keine Sinnkriese stürtzen. Professoren, deren Klausuraufgaben von ChatGPT brillant und sekundenschnell gelöst werden, stellen sich selbst ja auch nicht infrage. Während die Nutzer mit der KI in den Dialog treten, ziehe ich mich auf den alljährlichen Monolog zurück. Heißt, ich beginne meine Winterklausur und wünsche Euch derweil eine gute Zeit, Eure Petra
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Nach der 1. Klausur-Woche: Dreieinhalb Seiten sind geschrieben. Trotz Wasserrohrbruch, der uns drei Tage immer wieder aus dem Rhythmus warf. Gestern und heute wurden zwei Schmuckstücke am Zeichenplatz fertig: das Anfangsinitial und eine Textabsatzmarke…
Morgenstunde (768. Blog-Notat)
So, Feierabend! Die letzte Zeichnung ist abgeliefert. FMs Kolumne erzählt hier von einem umtriebigen LKW-Fahrer, der zwei Jahre Koch in einem japanischen Kloster war und nun, im Älterwerden, für sich einen Landsitz und auskömmliche Arbeit sucht. In einem Traum erschien ihm sein ehemaliger Zen-Meister, der ihm „Bokushingusuzume“ zuflüsterte, was so viel wie „Kackende Spatzen“ heißen soll (ich weiß, nicht sehr appetitlich, aber ich hab‘ es nicht erfunden und es stimmt auch nicht, denn der Google-Übersetzer meint: Bokushingusuzume hieße „Boxen Spatz“ – nun denn…). Unter diesem Namen macht der Typ Helmut schließlich einen Gasthof in der Uckermark auf, in dem er gelegentlich auch japanisch kocht. Soweit der Kern der Geschichte. Aber der Autor musste mich beraten, denn es fiel mir einfach nicht das Rechte ein. Nach seinen Tipps kam nun heute dieses Blatt zustande, womit die Schräge-Vögel-Reihe für „Georgs Landleben“ abschließt. Ist auch gut so, mein rechter Arm mault schon wieder, was nach insgesamt 16 Zeichnungen im Januar 2023 nicht so verwunderlich ist. Ich bin gespannt, was aus dem Seitenbündel entstehen wird. Die 14 Blätter sind meinerseits eine reine Option in die Zukunft.
Für die nächsten Tage gilt es, eine neue Geschichten-Idee zu entwickeln. Sie wird vorerst nicht im Blog auftauchen… Ein paar Geheimnisse müssen schließlich sein😊…
Morgenstunde (767. Blog-Notat)
Es ist Freitagabend und eben habe ich diese 13. Zeichnung fertigbekommen. Sie steht zu einem Text von FM, in dem der Held, ein Dichter (was sonst), in Ermanglung eines ruhigen Arbeitszimmers, beim Holzhacken nicht nur Scheite spaltet, sondern auch Textideen und die gewissermaßen wie Scheite stapelt, bis er sie gebrauchen kann… Morgen ist Zeichenpause, Augen ausruhen.
Der Liebste macht Fortschritte. Er ist nicht schmerzfrei, aber seit gestern Nachmittag sitzen wir wieder beieinander, schauen uns in die Augen und spielen zum Nachmittagskaffee Backgammon. Das ist eine echte Verbesserung von Lebensqualität 😊 im jungen Jahr. Womit ich abtauche in den Feierabend. Habt ein schönes Schneewochenende allerseits!
Morgenstunde (766. Blog-Notat)
Eisig draußen. Eine kleine Gartenrunde gedreht, dann rasch wieder ins Häuschen, am Kaffeepott aufwärmen. Eine sehr dichte Zeichenwoche neigt sich. Die 12. Vignette ist eben fertig geworden. Sie erzählt von einem Luftikus, der ständig skurrile, aber alphabetisch geordnete Pläne macht, die sich allerdings sehr schnell wieder in Luft auflösen… Kenn jeder eine/einen 😊. Den zu bebildern hat Laune gemacht. Zwei Motive sind für die Schräge-Vögel-Reihe zu FMs Texten noch zu finden… Wie immer, wenn es gegen Ende geht, fehlt was – der Grafikkarton ist ausgegangen, also bestellen und auf schnellen Versand hoffen, denn ich will fertig werden, mir ist nach eigenen Texten. Ich werde auf meine alten Tage, wohl kein wirklicher Teamplayer mehr werden, auch wenn ich‘s immer mal wieder versuche…