Schreibzeit

In den letzten Tagen habe ich die Novelle WELTENGANG ab dem Kapitel „Trau, schau, wem“ bearbeitet und umgeschrieben. Hinweise von Freunden machten mich darauf aufmerksam, dass ich ins Berichten verfiel. Das geschieht, wenn so ein Text beim Schreiben schmerzt. Aber jetzt ist sie für mich abgeschlossen und ich kann Euch die nächste Kurzgeschichte vorstellen:

Ein wenig Geborgenheit

Hannes Knopf lebte im Herbst 1989 noch gemeinsam mit seiner Mutter und Großmutter zusammen. Die Frauen waren eiserne Kommunisten, und er hatte sechs Semester Wissenschaftlichen Sozialismus studiert. Während die Nachbarn in Westberlin nach ihrem Begrüßungsgeld Schlange standen, goss die Mutter drei Kognakschwenker halbvoll, reichte den beiden die Gläser und fragte beim Anstoßen trocken: „Nun, mein Junge, werden wir jetzt arm und bedeutungslos oder kriminell?“ Hannes riss die Augen auf. Soweit hatte er noch gar nicht gedacht.

Das mit dem Reichwerden durch kriminelle Energie hatte nicht geklappt. Hannes Knopf versuchte Flüchtlinge aus Pakistan über die Türkei nach Deutschland zu schmuggeln und wurde prompt beim ersten Mal an der Bayrischen Grenze geschnappt. Während er zwei Jahre in Haft saß, starben Mutter und Großmutter. Die Wohnung in Weißensee war also verwaist, als er heimkehrte. Die goldenen Häkeldeckchen der Großmutter waren stumpf vor Staub, nichts mutete ohne die Frauen behaglich an. Im Gegenteil, den Mann fröstelte es, obwohl es Sommer war. Hannes Knopf war unschlüssig, wie er den Abend verbringen sollte. Morgen – das war bereits vereinbart – könnte er in diesem Weddinger Letter-Shop arbeiten. Werbung eintüten und adressieren. Für „arm und bedeutungslos“ würde es reichen, dachte er.
Ein Hungergefühl trieb ihn schließlich vor die Tür. Beim nächsten Imbiss kaufte er sich zwei Bockwürste mit Brot, lehnte sich an die Hauswand und sah den Passanten zu. Alles hetzte hin und her – nur eine Person nicht. Sie bewegte sich wie in Zeitlupe. Ein vollkommenes Alleinsein, so schien es. Die kleine Punkerin bummelte mit ihrem Hund als würde sie träumen. Aber sie träumte nicht, sie taumelte. Der Imbissmann kommentierte: „Die is ooch schon wieder zugedröhnt.“ Hannes nickte lustlos und winkte den Gesprächsversuch ab. Er warf die senfverschmierte Pappschale in den Müllsack, wechselte die Straßenseite und ging hinunter zum Scheunenviertel. Stadtwandern ist schön, dachte er beim Laufen, und bemerkte: viel hatte sich in den Straßen nicht verändert. Die fliegenden vietnamesischen Zigarettenhändler standen an den Kiez-Ecken und musterten jeden argwöhnisch: Geheimpolizei oder Kunde? Hier und da gab es neue Imbissangebote, ein paar Italiener, Türken und Griechen hatten Restaurants eröffnet, die sorgten für ein bisschen Flair. Aber sonst: Leerstand und viel Grau. Man nahm sich Zeit mit den versprochenen blühenden Landschaften. Hannes wollte zum ältesten Haus in der Sophienstraße, das eine schöne Kneipe und einen noch besseren Hausgarten beherbergte. Die „Sophie 11“ gab es schon zu DDR-Zeiten, da kannte er sich aus. Dort wollte er sich niederlassen und mit Rotwein seine Freilassung feiern, bis die Nacht den Tag verschluckte. In dieser Dämmerstunde gegen 23 Uhr betrat die Punkerin mit ihrem Hund den Hof. Offenbar suchte sie jemand. Sie sprach eine Kellnerin an, die nickte und verschwand im Küchenzugang. Keine Minute später huschte eine andere Kellnerin herbei und umarmte die kleine Punkerin, die sich steif machte und die Zuneigung mit dem Arm abwehrte. Hannes sah noch, wie die Frau dem Mädchen ein bisschen Geld in die Hand drückte, dann verschwand es. Es war weit nach Mitternacht, als Hannes Knopf am Tresen seine Zeche zahlte. Die zwei Kellnerinnen tranken jetzt ihren Feierabendsekt, als die zarte Dunkelgestalt sich umdrehte und ihn ansah. Das war ein Funkeln aus verheulten Augen, seltsam berührend. Hannes stand wie angewurzelt, aber sie rutschte vom Hocker und meinte nur: „Komm!“

Als er morgens erwachte, wusste er nicht mehr allzu viel vom Fortgang der Nacht. Es war ihm, als wären sie wie Raubtiere übereinander hergefallen. Heftiger Liebeshunger. Sie schlief noch, als er sich auf den Weg in den Wedding aufmachte. Er war viel zu spät dran, und sein Kopf war noch rotweinschwer, als er vor seinem neuen Chef auftauchte. Der nickte ihm zu und meinte in die Runde: „Na, der fängt ja gut an!“ Doch der Mann hatte andere Sorgen. Die Kuvertiermaschine streikte, und alle rauften sich die Haare. Hannes hatte vor seinem verunglückten Studium glücklicherweise ein Abitur mit Berufsausbildung zum Elektriker gemacht. „Kann ich helfen?“, fragte er leise.  Der Chef zog eine krause Stirn: „Kannst du das? Dann mach!“ Hannes machte. Eine Viertelstunde später lief das Maschinchen wieder und tütete in Höchstform Infobriefe ein. Der Chef war begeistert, und sein Neuling stieg gleich am ersten Tag in eine gefühlte andere Liga auf. Zwei Wochen später schmiss Hannes verlässlich den ganzen Laden. Am liebsten in den Nächten, am liebsten allein. Da brauchte er keine Fragen zu beantworten, nur der Chef wusste, dass er frisch aus dem Knast kam.

Am Wochenende ging er abends wieder in den lauschigen Hofgarten der Sophie 11. Die Kellnerin schien nicht besonders viel Notiz von seinem Erscheinen zu nehmen. Sie stellte ihm im Vorbeigehen einen Schoppen Roten vor die Nase „Spendiert!“ krächzte sie heiser. Das wars, sie hatte nebenan ihr Revier. Zur Nacht zog sie sich einen anderen Mann vom Hocker. Hannes sah zu und war irritiert, dann suchte er sich eine neue Kneipe.

Im Morgengrauen entdeckte er auf dem Nachhauseweg das Punkermädchen mit schlafendem Hund vor einer Bäckerei lagern. Verbunden nur mit diesem Tier, schien ihm eine schwere Wolke der Einsamkeit über dem Mädchen zu schweben. Der Anblick stach ihm tief ins Herz. Er ging zu ihr und sprach sie klar an: „Ich heiße Hannes Knopf, und habe ein Zimmer frei, möchtest du mit mir kommen? Nicht zicken, nicht klauen. Ich tu‘ dir nichts, ich meckere nicht, ich kann dir aber ein bisschen Geborgenheit bieten, wenn du willst. Wie heißt du?“
„Paula, 17 Jahre, mein Hund heißt Paul.“
Hannes streckte ihr die Hand entgegen, Paula ließ sich hochziehen, dann trottete sie langsam hinter Hannes her.
Als sie die Wohnung betraten, zeigte er ihr das Zimmer seiner Mutter. Er raffte die alte Kleidung aus dem Schrank, brachte Bettwäsche und ermunterte sie: „Du kannst das Zimmer nach deiner Fasson gestalten. Ich bin nur am Wochenende zuhause, sonst schiebe ich Nachtschichten und schlafe tagsüber. Aber im Kühlschrank wirst du immer was finden – und hier ist dein Schlüssel.“

Paula schaute in sein offenes Gesicht, seltsamerweise vertraute sie diesem Mann und schlief, ohne das Bett zu beziehen, ein.
Währenddessen räumte Hannes die unzähligen Golddeckchen und den Sammelkitsch der Frauen in einen Karton. Das Wohnzimmer sah gleich nicht mehr so nach alten Damen aus. Dann kochte er einen großen Eintopf und schnitt ein paar Wiener für Paul klein – und ging schlafen.
Das Leben zog weiter. Die beiden sprachen nicht viel miteinander, aber Paula hatte plötzlich Verlässlichkeit. Manchmal lag ein bisschen Taschengeld für sie neben ihrem Frühstück, oder ein neues Shirt. Eines Morgens war das Mädchen nicht in der Wohnung als Hannes von der Nachtschicht kam. Ein Zettel lag auf dem Küchentisch, besorgt las er: „Ich mache jetzt einen Entzug irgendwo in Brandenburg! Ich komme wieder, Paula“

WELTENGANG 

Überarbeitung vom 11. Februar 2025

WELTENGANG 


Der Weltengang war ihr an diesem Morgen egal. Sie ahnte schon vorher, wie er ausgehen würde. Das Gestreite und Geschacher um Geld und Macht.  Frau Morgenstern hatte diesen richtigen Instinkt und schon genug Brüche erlebt. Man killt am besten jemandes Stolz, indem man ihm den sozialen Anschluss nimmt. Nachdem die Einheit gefeiert wurde, zerlegten sie den Osten komplett. Seither trägt Frau Morgenstern Trümmerteile in ihrem Herzen. Die rumpeln gelegentlich sehr taktlos.

Als sie das letzte Mal am Rande eines Steinbruchs im Oberlausitzer Bergland stand, hatte sich dieses Wort „Bruchstücke“ in ihr Denken eingegraben. Es beschrieb ihre verschiedenen Leben ganz gut. Dieses zerbrochene Bild machte deutlich, was geschieht, wenn man eine Lunte in eine gewachsene Wand legt und sie zündet. Vielleicht sieht man sogar noch fliegende Teile. Aber wenn sich der Staub gelegt und das Bruchloch sich mit Wasser gefüllt hat, ist nichts mehr zu ahnen, was unter der blauen Idylle liegt.

Ihr Leben war kein schöner Strom, es glich eher einem Wildwasser. Aber wen würde das noch interessieren, wenn sie unter der Grasnarbe des Dorffriedhofes verschwunden sein wird. Ihre Enkelin hatte sie zuletzt als Neugeborenes gesehen, und dieses fremdgewordene Kind hat nun selbst schon eine Tochter. Lea Morgensterns Sohn sah seine Enkelin nur sehr selten. Nichts, was sich tief einpflanzt. Ein Foto von dem Fratz mit Schokoladen-Schnute hat er ihr neulich per Mail gesandt. Dieses Kind wird Lea Morgenstern ganz sicher nie Fragen stellen, erst recht nicht über die damaligen Wende-Geschehnisse. Schade, dachte die „verhinderte“ Urgroßmutter, denn nur sie könne heute noch erklären, warum so viele Risse durch so viele Familien gingen. Manch einer verlor damals Freunde, Kollegen, die ohne Abschied ins Irgendwohin aufbrachen, die allermeisten sah man nicht wieder.

Die Kettenraucher

Sie rauchten Jahre lang gemeinsam in ihrem vernachlässigten Redaktionszimmer Aschenbecherberge voll. Der Schönschreiber und seine Auszubildene. Na, das war Lea Morgenstern natürlich nicht. Aber er, Eric Winter, war der Mann vom Fach und sie die Amateurin der Worte. Sie waren beide kritische Beobachter der stoischen Zeit. Sie hatte die Gabe, Menschen zu öffnen, in ihnen zu graben, um ihre Individualität sichtbar zu machen. Er verstand es, die Realität poetisch auszudrücken. Diese Schreiber bemühten sich um offene Worte und neue Ausdrucksformen, und so wuchsen sie mit der Zeit zu Verbündeten. Beinahe geschwisterlich, gleich alt. Mitte Mai sollte Eric Winter mit einem Freundschaftszug zur Internationalen Friedensfahrt reisen, die 1986 erstmalig in Kiew startete. Aber er wollte nicht. Der Sportbegeisterte lehnte die Tour de France des Ostens ab? Die Fahrt galt als Auszeichnung, und die Redaktionsleitung war außer sich, dass er sie verweigerte. Man witterte ein politisches Statement. Aber Eric Winter diskutierte nicht, er lehnte ab und schwieg. Auch wenn ein bedeutender Hochenergiephysiker im Radio behauptete, es bestehe keinerlei Strahlengefahr. Winter glaubte ihm nicht, er hörte und sah alle deutschsprachigen Nachrichten. Während in Bayern kein Kind in diesem Sommer im Sandkasten spielte und das Gemüse untergepflügt wurde, schickte die DDR junge Menschen in diese Region. Der Reaktorunfall ereignete sich im Atomkraftwerk von Tschernobyl in der Nacht des 26. April 1986. Dabei wurden 150.000 Quadratkilometer in der damaligen Sowjetunion radioaktiv verseucht. In jener Nacht war Lea Morgenstern mit einer Jugendgruppe im polnischen Riesengebirge unterwegs, und morgens hing eine große, braune Wolke über den Bergen. Panik flutete das Camp. Die Polen gaben ihren Kindern sofort Jodtabletten, und viele reisten aus Szklarska Poreba ab. Aus der Heimat hieß es: Keine Gefahr, aber auch Lea Morgenstern hörte Westnachrichten. Die beunruhigten sie, und sie spürte indem, Berlin entschied politisch, nicht menschlich. Eric Winter brauchte ihr also nicht erklären, was in ihm vorging. Es hing blauer Dunst im Raum, als der aufgebrachte Chef eintrat und hilflos drohte: „Du bekommst ein Parteiverfahren, wenn Du nicht fährst!“ Lea packte ein Lachkrampf und sie prustete: „Du weißt aber schon, dass Eric nicht in der Partei ist – oder?“ Die Tür knallte ins Schloss und stieß einen frischen Windzug in die dicke Luft. Die zwei grinsten breit hinter ihren schwarzen Schreibmaschinen und zündeten sich die nächste Zigarette an. Das Thema war gegessen.

Es gibt ja Leute, die findet man übers Internet wieder, aber Eric Winter wollte wohl nicht gefunden werden, dachte sich Lea Morgenstern, während sie sich auf der Gartenbank ausruhte. Was war es nur, dass ihn weggetrieben hatte? Aber klar, dieses Berlin in den 90ern war wie ein wilder Verschiebebahnhof. Keine Arbeit, nur Experimente ohne Halt, da konnte manches schiefgehen. Spätestens dann schob der Verschiebebahnhof die Menschen raus in alle Welt. Das Gemeinsame gefriert in der Vergangenheit – dem Jetzt entrissen.

Während ihr das durch den Kopf ging, dachte sie an das Jahr nach dem Mauerfall. Diesen ungeheuerlichen Freiheitsschub; Wahnsinn. Niemals zuvor und niemals hernach konnte sie so frei arbeiten. Herrenlos. Das Druckpapier war noch für „die alte Zeit“ geplant – und wir machten einfach etwas damit. Noch im Dezember 1989 entwickelten wir neue Zeitungskonzepte. Erst ein Polit-, später ein Heimwerkermagazin. Wir hantieren mit neuem MAC-Layoutprogramm, lernten miteinander diesen Techniksprung. Dieses freie Arbeiten endete schlagartig mit dem Verkauf unseres Blattes an den Bauer-Verlag. Im Februar 1992 bekamen wir die Kündigungen, obwohl der Treuhand vertraglich versprochen war, sie würden uns wenigstens zwei Jahre weiterbeschäftigen. Der Kauf galt schlicht der Marktbereinigung und Bauer zahlte lieber die Vertragsstrafe. Wir kochten vor Wut, aber noch überwog unser Stolz. Was hatten wir alles in diesen zurückliegenden Monaten erlernt. Man würde uns bestimmt brauchen, hofften wir. Aber dem war nicht so, und ein ganz anderes Leben begann.

Vertrieben ohne zu gehen

Aber was macht eine mit ihren Talenten, wenn 1992 die Massenarbeitslosigkeit sie überrollt? Die das Überflüssige ausschwitzte und ausspuckte, was nicht dazugehörte? Das Westsystem wurde dem Osten kurzerhand übergestülpt. Dauerhaft. Sie fiel ins Leere. Frau Morgenstern füllte diese Leere sehr bald mit ihren selbstbestimmten Zeilen. Wut im Bauch. Erst dokumentarische, später poetische. Die Wandlung zur Erzählerin vollzog sich im Stillen, denn man wollte sie nicht im literarischen Geschehen des vereinigten Deutschlands. Die Futtertröge waren knapp gefüllt und lückenlos umlagert. Unerreichbar für sie. Das Bürokratische schreckte ab. Ihr erster Roman erschien 1993 auf Griechisch – nicht auf Deutsch! Die Griechen interessierten sich für Leas Wahrheiten. Die erklärten das Heranwachsen der jungen Rechten in Ostdeutschland, und die Gründe dafür. In Deutschland wollte man davon nichts wissen, doch die Brandbilder von Rostock-Lichtenhagen 1992 gingen um die Welt. Diese enthemmten Übergriffe auf Ausländer in jenem August zeigten allerdings nur ein Symptom rassistischer Ausbrüche im Land. Bei einem Antirassismus-Kongress in Athen sprach Frau Morgenstern über die subtile Art der sozialen Ausgrenzung Ostdeutscher nach der Wende 1989. Erst im Alter begriff sie, dass sie zu nichts mehr dazugehörte. Nicht mehr fügsam, nicht beugsam, aber dafür verdrängt aus den Gestaltungsmöglichkeiten. Vertrieben ohne zu gehen, ganz anders als einst ihre Eltern und Großeltern:

Die kamen als Flüchtlinge aus Schlesien und Böhmen. Überall nicht gelitten. Dort, wo sie strandeten, waren sie nicht willkommen. Für die angestammten Deutschen blieben diese Deutschen aus den verlorenen Ostgebieten Fremde. Sie standen außerhalb. Besitzlose. Sie machten knapp ein Drittel der Nachkriegsbevölkerung der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR aus. Staatlich verordnetes Stillschweigen über die verlorene Heimat reichte bis in die Familien. Frau Morgenstern erfuhr erst spät von der Vertreibung und Flucht ihrer Sippe. Auf einer privaten Silvesterfeier in den späten 60er Jahren. Großmutter Marie hatte ein, zwei Likörchen zu viel getrunken und schmetterte Lieder auf Tschechisch, und Großvater Alfred klapperte dazu den Takt mit Messer und Gabel auf dem Tellerrand. Das sehnsüchtige Raunen über eine verlorene Welt kam ihr seltsam vor. Von den Orten „Morchenstern“ und „Gebhardsdorf“ hatte sie nie gehört. „Die Schlesier, die Sudeten, die Heimatlosen“. In der Schule hatte Lea Morgenstern von den Heimatverbänden im Westen und ihren revanchistischen Ansprüchen gehört. Dieses Nachsehnen in jener Silvesternacht klang ähnlich und war ihr unheimlich. Da war etwas, das man ihr im nüchternen Alltag verschwieg. „Heimwehkranke Wanderer“ nannte Dörte Hansen die Weltkriegsflüchtlinge in ihrem Roman „Altes Land“, die nicht Wurzeln schlagen konnten, aber trotzdem haften blieben und ihre Eismäntel niemals mehr ablegen konnten. (*)

Mehltau

Es weht eine Geschichte um den alten Lindenbaum der Familie. Ein Hauch des Schreckens, eine Ahnung nur. Schwer legt sie sich auf die Schultern der Lebenden. Frag nicht, wie viele schon gegangen sind. Der Lebensatem unter der Linde war immer nur von kurzer Dauer in dieser Sippe, die aus den Bergen kam. Sie strandete auf dem letzten deutschen Hof, gleich hinter dem Neißestrom. Ein kühler Ort für Geflüchtete und Vertriebene. Die Liebe ging im Frost verloren, für immer. Erstickt im Grauen gewalttätiger Krieger, die sie als Beute nahmen. Selma, schlesische Weberin. Niemals mehr würde ihr geschundener Leib noch Liebe spenden können. Ihre schmalen Lippen hielten das Geschehen fest unter Verschluss. Ein frühes Grau blitzte seither aus dem streng gewundenen Haar unter dem flauschigen Kopftuch, das ihre Schönheit verbarg, und ihr zerbrochenes Leben versteckte es auch. Mager war Selmas Zeit unter der Linde  – und unerwünscht. Für ein paar Kartoffeln schuftete sie im Stall des Bruders wie eine Magd. Ihre Söhne bestellten dessen Feld, bis sie weggingen, sich einen neuen Stolz zu suchen. Selma blieb allein, alterte schnell und lebte geduckt in der neuen Zeit. Nur in ihren Albträumen schrie sie laut. Das schlafende Enkelkind Lea neben ihr erwachte von so einem Schauderschrei. „Was ist mit dir?“, fragte es beklommen in die Nacht. Selma schwieg.

Die Jahre vergingen. Lea ließ eine weiße Rose in Selmas Grab gleiten und wusste indem, dass sie nie erfahren würde, was genau es war, das aus einem Wiegenlied wie Mehltau auf ihre Seele fiel. Unerklärlich pochte Selmas Schmerz unter Leas Haut. Im Schatten der Linde spürte sie ihm nach. Ein Dunkel lauerte unter dem Geschichtenbaum. Die junge Frau dachte an die Feriensommer bei Selma in den 60er Jahren. Was hatte sie ihr auf der Bank unter dem Baum für spannende Geschichten erzählt. Die vom Berggeist Rübezahl. Lea setzte sich auf die morsche Bank und sah hinauf in die mächtige Baumkrone. Ein Rascheln, ein Wispern hing in der spätsommerlichen Luft, als eine Träne aus dem Dunst der Zeit fiel, ein Bruchstück im Spiegel. Lea fing sie auf der flachen Hand. Im Tränenbild schwamm, wie ein blitzendes Licht, ein Kriegsschauplatz am Iser-Gebirge. Was sah sie? Einen Augenschein. Durfte sie ihr Nichtwissen mit Ahnungen füllen? War es eine jener schrecklichen Minuten, in denen in Selma die Liebe starb? Oder war es nur eine Projektion aus Kriegsberichten der wenigen Erzählenden? Sie formte ein spekulatives Abbild. Durfte sie das? Sie hatte das Leid in den feuchten Augen ihres Onkels gesehen, wenn er von Selma sprach. Als Achtjähriger sah er, welches Grauen seiner Mutter widerfuhr. Auch er schwieg, wie sie. Doch seine schwimmenden Augen sprachen. Kalter Atem überm Eismantelkragen.

Die alte Frau Morgenstern hockte versteinert am Computer, als sie die Hände von der Tastatur nahm. Sie grübelte: Vielleicht waren das stoische Festhalten und Bleiben am Ort im Osten eine der späten Folgen jenes Heimatverlustes. Halt bewahren am Fluchtpunkt, solange es ginge, damit nicht schon wieder das eigene Land zwischen den Händen zerrann. Wer weiß. Es wäre zumindest eine Erklärung für das Verharren. Auch des kriegsversehrten Vaters, der seinem Bruder nicht – wie verabredet – in den Westen folgte, obwohl es in den 50er Jahren noch gegangen wäre. Ein Fund im Netz, Worte von Astrid von Friesen, trieben ihre Gedanken voran:„Eine weitere Spätfolge für Angehörige der Vertriebenen in der zweiten bis hin zur dritten Generation sind Depressionen. Wenn bei Eltern- oder Großelterngenerationen ein Besitz- oder Prestigeverlust auftrat, können ganze Familien erstarren.“ (*)

Das könnte auch für die Lebensbrüche gelten, die so vielen Ostdeutschen mit und nach der Wende widerfahren sind. Lea Morgenstern nickte und wusste zugleich; Melancholie floss schon seit Kindertagen in ihren Adern. Sie atmete hörbar und streckte sich. Sie musste raus in den Garten, abschalten – und nicht mehr diesem Dunkel nachspüren.

Lichtmess. Vogelgezwitscher. Ein Blütenhauch. Erstes Sonnenlicht nach grauen Wolkentagen. Irgendwo ein Lachen unter freiem Himmel. Lea Morgenstern lief blinzelnd über ihr Winterland. Die Gedanken waren angezündet und wollten nicht schweigen. Mitte der 90er. Verschwundene Zeit. Sie hat gezerrt an einem, erinnerte sie sich.

Nebelkerzen

Das Paar neben Bo reizte schon eine ganze Weile seine professionelle Spürnase. Eigentlich wollte der Skandalschreiber nur seine eben gelieferte Seelenstory mit einem doppelten Ramazotti aus Hirn und Magen treiben. Doch so müde und abgelaufen er auch an diesem lausigen Berliner Novemberabend war; ein Abschalten wollte ihm nicht gelingen. Es lag nicht allein an den Wortfetzen der zierlichen Frau neben sich am Tresen. Der aufreizende Schlitz in ihrem schwarzen Seidenkleid legte ein Bein frei, das die Chemie des Mittfünfzigers keck animierte. Süße Spätlese. Aber wenn die so weiter schluckt – Fallobst, dachte sich Bo. Er rutschte mit seinem Ellenbogen, auf dem sein wirrer Lockenkopf im Doppelkinn parkte, zu nah an ihren Rücken und fing sich einen scharfen, respekteinflößenden Seitenblick ein. „Is ja schon gut, Lady, keine Aufregung“, raunte Bo und hob ergebend beide Würstchenhände. Dann starrte er scheinbar teilnahmslos in sein Glas und murmelte: „Zickige Tussi.“ Die politische Sprache der Frau irritierte Bo. „Nachtgespräche“ mit prominenten Wendetypen wollte sie führen: Gregor Gysi, Tamara Danz, Friedrich Schorlemmer… deren Wende-Visionen festhalten. Der Sportstyp mit den graumelierten Schläfen hob bedeutsam seine buschigen Brauen und bestellte noch ein Glas Sekt für das mögliche Abenteuer. Wenn sie doch nur nicht so viel über Politik reden würde, dachte er arg strapaziert. Doch die Frau sprach und sprach, als hätte sie Jahre geschwiegen. Sie war dem Dienstreisenden aus Köln gleich in der Café-Bar am Zoo aufgefallen. Einen lebenshungrigen Eindruck versendete die hübsche Frau um Ende Dreißig. Offenbar hockte sie schon eine Zeitlang am Tresen, da witterte der Mann leichte Beute. Die aber hatte sich über die Frage: „Kommen Sie etwa aus dem Ostteil?“, in eine distanzierte Tante verwandelt. Er wünschte sich den koketten Ausgangspunkt der Begegnung zurück und griff unmissverständlich nach ihrer Hand. Doch die Frau zuckte zurück, zahlte und verschwand.
Ärgerlich stieg sie in die S-Bahn, und dachte, hier befindet man sich ja sofort auf dem Fleischmarkt. Sie hasste die grelle West-City. Nach dem Stopp Friedrichstraße wurde die Stadt dunkler. Lea Morgenstern nahm einen tiefen Atemzug: Zuhause. Gefühlte Sicherheit.

Ihre Wohnung in Karlshost roch immer noch nach den Vormietern, die diesen Ort vor ein paar Monaten nach Frankfurt am Main verlassen hatten. Sie riss das Küchenfenster zum Hof auf und atmete die zirpende Sommernacht. Der Tag in Dahlem bei dieser Verlegerin, die mit dem Geld ihres senilen Mannes nur so um sich warf, war ihr ins Gemüt gefahren. Er kratzte an ihrem Selbstwertgefühl. Lea hatte der Frau für ein paar Sonderausgaben von „Kessel Buntes“ wirklich feine Texte geliefert. Als sie heute die druckfrische Erstausgabe zu sehen bekam, las sich das alles, als wären die Geschichten durch einen Zerhacker gerauscht. „Ja, eure Ostschreibe mussten wir leider erst unserem Blattstil anpassen…“ Wenigstens hatte Lea einen Hunderter nach Hause gebracht, aber das tröstete nicht. Sie war viel zu vertrauensselig auf verschlungene Wege geraten.

Diese alte Freundin, die so scheinbar hilflos auf ihrem Sofa schluchzte, dass sie nicht weiterwüsste. Lea zeigte ihr, welche Schritte sie gehen könnte: Ein passendes Thema finden, Konzept oder Exposé dazu entwickeln, ein, zwei Probestücke schreiben und mit alledem einen Verleger suchen. Dummerweise gab sie ihr, der Literatin mit dem einen Gesprächsband aus DDR-Zeiten, auch ihr neuestes Exposé „Fallen & Aufstehen – Frauenporträts aus Ostdeutschland“ zur Anschauung, während sie neuen Kaffee kochte. Ein halbes Jahr später rief diese Dahlemer Verlegerin bei Lea Morgenstern an: „Sie kennen doch Frau M, wissen Sie, wo diese Frau steckt? Sie hat mir einen Buchtext versprochen, den ich inzwischen beworben habe, und nun liefert sie nicht. Es geht um abgewickelte Ostfrauen.“ Ach herrje, dachte Lea an das Häufchen Elend auf ihrem Sofa. Die hat doch echt ihr Projekt gekupfert und war nun ergebnislos abgetaucht. Offenbar hatte die Frau unterschätzt, wie viel Arbeit in so einem Porträt-Band steckt. In ihrer Ratlosigkeit fragte die Verlegerin noch, ob Lea nicht mithelfen könnte, das Buchprojekt zu retten. Sie sagte zu, behielt aber für sich, dass sie selbst verraten und bestohlen worden war. Was für Zeiten. Sie hatte ihr sicheres Gespür für den Gang der Dinge verloren und tapste unbeholfen durch die Stadtlandschaft.

Das Rauschen des Asphalts hatte nachgelassen.  Heißer Sommer in Berlin, da war die Stadt tagsüber beinahe leise. Lea Morgenstern saß auf ihrem großen Gründerzeitbalkon, der wie ein Gartenzimmer anmutete und schrieb. Seit dem Winter wohnte sie hier; die Vierraumwohnung in Karlshost war für sie allein zu teuer geworden. Die Frau hatte sich von ihrem Mann getrennt und ihn zurück zu seiner Mutter geschickt. Nach zwei Jahren Umschulung war er einfach nicht bereit, bei den „Kapitalisten zu arbeiten“. Blank liegende Nerven, die die Restliebe erstickten.

Diese zwei Zimmer im vierten Stock, am Rande des Prenzlauer Berges, passten jetzt besser zu ihren unsteten Einkünften. Sie gönnte sich den kleinen Luxus, jeden Morgen beim Griechen an der Ecke einen Kaffee zu trinken und dabei die üppige Zeitungsauslage zu studieren. Dabei entdeckte sie eine Anzeige, in der ein Fachredakteur gesucht wurde. Sie fuhr in die Stadt am Rhein und bekam eine Honorarstelle. Ihre Hausbau-Reportagen aus dem Osten wurden sehr bald deutschlandweit wahrgenommen. Wie sie diese Bauplätze zum Erlebnis machte und Emotionen weckte, das gefiel. Bisher schrieben für diese Branche vor allem Bauingenieure. Lea brachte ihr journalistisches Handwerk mit, das war etwas vollkommen anderes.  Die sperrigen Fakten lagerte sie in Info-Kästen aus, und schon las sich das Unterfangen geschmeidig.  Ein Jahr später fragten auch andere Fachzeitschriften nach ihr. Es war also ein bisschen Sicherheit bei Lea Morgenstern eingezogen. Das machte zwar noch keinen Urlaub möglich, doch eine Woche Auszeit wollte sie sich gönnen, um sich auszuruhen. Vielleicht ein Märchen schreiben. Sich wegdenken. Im Existenzstress der vergangenen Monate war sie fahrig geworden und auf 48 Kilo abgemagert. Wahrscheinlich rauchte sie auch einfach zu viel und schlief zu wenig.

Berlin erlebte derweil italienische Nächte. Nachts fiel die Temperatur kaum unter 25 Grad. In den Biergärten flossen die geistigen Getränke, als gäbe es kein Morgen, und ein Stimmengemurmel und Gelächter schwappte von den Balkonen und aus den Freisitzen der Szenekneipen hinüber ins Dunkel. Manche Nacht zog die Hitzewallung der Stadt Lea Morgenstern hinein in das bunte Treiben. Für ein paar Stunden die Sorgen vergessen. Sie trank ihren Rotwein und sah dem Treiben zu: den Rosen- und Schmuckverkäufern. Wie die Single-Damen ihre Auftritte inszenierten, während sie die Interessenten checkten. Dazwischen die abgelaufenen Zeitungsverkäufer, einer, der schüchtern Öko-Märchen anbot, und die herrlich schillernden Straßenmusiker, die die Herzen tanzen ließen. Überall leuchtende Gesichter. In diesen Nächten war Berlin ein Traum für Großstadtfantasien aller Art. Lea ersann sich daraus ihr Urlaubs-Märchen und bemerkte, dass kreative Auszeiten ihr guttaten.

Trau, schau, wem.

Dieses Schillern in der Nacht täuschte Lea Morgenstern aber nicht über die Risiken, die sie tagsüber einging. Kein Rat nirgends. Niemand ihn ihrem Umkreis arbeitete jemals freiberuflich. Wen fragen? Sie hatte eine Seite umgeschlagen und sah auf ein leeres Blatt. Alle beruflichen Verbindungen waren nach der Wende zerbrochen, und neue Bündnisse ließen sich kaum schmieden. Das Wort „Seilschaft“ machte es anrüchig. Während Westdeutsche Jobs im Osten übernahmen und ungeniert ihre Netzwerke ausbreiteten, wurstelten die ostdeutschen freien Kollegen jeder für sich allein. Sie trauten einander nicht mehr und verbündeten sich stattdessen mit Leuten aus Köln oder Hamburg. Es war gegen Lea Morgensterns Naturell, aber sie wuchs in dieser Zeit zum beruflichen Einzelgänger und sprang im Frühsommer 1993 ohne Sicherheiten in die Selbständigkeit. Vielleicht hätte sie besser beim Arbeitsamt auf eine Umschulung gewartet? Vielleicht wäre es dann leichter gekommen. Wer weiß.

„Trau, schau, wem?“ wurde zu ihrem Richtfaden. Lea Morgenstern führte Listen über ihre Erwerbs- und Zukunftsarbeit.  Darunter standen die Aufträge und Projekte. Wer bezahlte wie vereinbart, wer war sittenwidrig, wen musste sie mahnen, wer zahlte nie. Sie sortierte aus. Alles, was sie in diesen Tagen schrieb, jede Ideenskizze, jeden Befindlichkeitszustand, Briefe, Konzepte und ihre Artikel sammelte sie auf einem Stapel. Wenn der drei Zentimeter hoch war, verpasste sie ihm ein Deckblatt und ließ ihn im nächsten Copy-Shop binden. Bei 70 Arbeitsstunden pro Woche kam viel, sehr viel Papier zusammen, doch diese Arbeitstagebücher halfen ihr, sich selbst zu vergewissern. Sie zeigten ihr, dass die Dinge vorankamen.

In ihrem Kopf nistete noch der Gedanke, den ihr zu tiefsten DDR-Zeiten ein alter Kollege einpflanzte: „Kontinuität ist das Geheimnis des Erfolgs.“ Dass der nur bedingt stimmte, musste Lea Morgenstern in der Neuzeit bitter erfahren. Nach ein paar guten Jahren fiel Ende der 90er eine Rezession wie ein Raubtier über die Baubranche her. Nie erlebt. Ungewissheit auf allen Seiten. Wie gingen in dieser Krise nun Verlage und Autoren miteinander um? Einige Fachblätter machten dicht, andere fusionierten oder sparten extrem. Manche ostdeutsche Fachzeitschriften-Verleger trieben skrupellos ihre freien Mitarbeiter in die Not, indem sie Aufträge vergaben und diese monatelang nicht bezahlten. Da war sie wieder, die Angst unterzugehen. Sie heizte den Ofen mit Lenins Gesamtausgabe. Mietschulden entstanden, und nicht gezahlte Krankenkassenbeiträge machten Arztbesuche unmöglich. Es ging ihr schlecht. Die Realität kennt keine gute Pointe.

Die lange Winternacht wollte nicht enden. Sie kroch wieder aus ihrer Schlafkammer. Draußen schneite es. Lea Morgenstern öffnete die Balkontür und rauchte. Die Kälte kroch ihr unter den Bademantel, aber ein Gedanke ließ sie nicht los. Neulich traf sie für ein Künstlerporträt in der Lausitz einen Maler, der mit Asche und Wasser von den Höfen im Abraum-Gebiet malte. Sein Heimatdorf war für den Kohleabbau vorgesehen. Es war schon leergezogen, aber dieser Mann schrie malend seinen Verlustschmerz auf die Leinwand. Das hatte sie beeindruckt. Sie hatte vor ihrem Studium eine grafische Lehre absolviert, und jetzt, tief in dieser Nacht, ahnte sie, es würde ihr helfen, wenn sie wieder malen würde. Nachts, ohne Zwänge. Sie holte ein paar große Müllsäcke herbei, legte damit das lauwarme Wohnzimmer aus, rollte darüber Packpapier und goss sich etwas alte Holzbeize in ein Schraubglas. Einen Ringpinsel, den sie noch vom Malern übrighatte, tauchte sie in die braune Tunke. Die pure Emotion führte ihr die Hand, und der Schmerz, sich wieder benutzt und ausgenommen zu fühlen, trieb aus ihrem Inneren wurzellose Gestalten hervor. Und dann die Närrin: eine Pierrette mit gefallener Maske, die sie „Verlorenes Lachen“ nannte. Willkommen, du Schöne, sprach sie mit ihr morgens um vier. In der nächsten Nacht entstanden ein Fährmann, ein Sensenmann, die Sonnensucher, Seelensurfer, Winterschläfer, Schattenfänger und immer wieder Narren… Sie fühlte, wie sie nachts beim Malen zu leuchten begann und ein Bilderkosmos entstand. Morgens rollte sie die Blätter zusammen und schrieb oder recherchierte nüchtern, was zu schreiben war. Ohne diese wilde Malerei wäre sie nicht durch diese Zeit gekommen, und das Existentielle sah man diesen Bildgestalten an.

Kein Jahr später begann sie in Szenekneipen auszustellen, und hier wuchs ihr ganz langsam ein neuer Freundeskreis zu: Dichter, Maler, Musiker, Orgelbauer, Therapeuten, selbstständige Kleinunternehmer, Wirte, die eigentlich Schauspieler waren, Dramaturgen, Synchronsprecher, Tänzer, Clowns, Fotografen, ratlose Arbeitslose und Trinker. In den Kneipen zwischen Immanuel Kant- und Winsstraße traf sich das bunte Völkchen. Leute ohne Wurzeln.

Im folgenden Regensommer entdeckte Lea Morgenstern im Baumarkt neben der braunen Holzbeize auch sonnengelbe Trockenbeize. Wieder reiste sie im Kopf in die fiktiven Ferien, und das mangelnde Sonnenlicht gab ihr den Anstoß zu heiteren Cartoons auf sonnengelben Grund. Die Protagonisten: Schräge Vögel, eine Art Fabelwesen, als Stellvertreter für die Marotten der Stadtmenschen. An diesen Gute-Laune-Cartoons richtete sie sich auf. Ihre erste Marke war geboren. Unverkennbar.

Sie hatte an einer Anthologie zu Trennungsgeschichten mitgewirkt, woraus sich einige Lesungen ergaben. Eines Morgens im Juli 1999 klingelte das Telefon, einer dieser Geschichtenschreiber war dran, um ihr eine Tür zu öffnen. In Frankfurt an der Oder wurde ein Redakteur für ein Wochenblatt und die Kinoseite der Tageszeitung gesucht. Die Stelle war nicht ausgeschrieben, Lea sollte da einfach mal anrufen, sagen von wem der Tipp käme. Er selbst habe darauf keine Lust. Lea zögerte nur kurz. Eigentlich war sie sich für ein Wochenblatt zu schade, aber da war ja noch die Kinoseite, und hatte sie eigentlich eine Wahl? Eher nicht, ihre Misere war schlimm genug. Sie bekam schlussendlich nicht die Festanstellung, aber einen Jahres-Honorar-Vertrag für ebendiese Redakteursarbeit. Elf Monate später hatte sie alle ihre Schulden getilgt. Sie erhielt den nächsten Jahresvertrag. Es würden 18 in Folge werden.

Die erste zehn Jahre nach der Wende waren schwer. Auf angestammtem Boden wurde alles Vertraute ausgetauscht. Jede Eintrittskarte, jedes Formular, jedes Recht, jeglicher Umgang. Die Ostdeutschen befanden sich in einem Prozess, der sie überforderte, diskreditierte und gedemütigt zurückließ; Verwundete, nicht mehr die stolzen Menschen, die gerade noch ein ganzes System und die Berliner Mauer stürzten.

Lea Morgenstern folgte nicht mehr jeder hehren Idee. Sie musste sich selbst beschützten. Das war die Warte, von der aus ihre alte Gabe – die Dinge kommen zu sehen – wieder zum Vorschein kam. Weitsicht gibt es nicht im Strudel. Die Frau erkannte nun die Schnorrer und Seifenblasenträger und ging ihnen aus dem Weg.

2000 zog sie in eine schöne, große Atelierwohnung im Wins-Kiez. Alles wurde schlagartig heller, auch ihre Bilder. War es das Millennium oder die Rückkehr ihrer pantheistischen Ideen? Sie wusste es nicht, als sie mit dieser flirrenden Bilder-Reihe begann. Die schaute in verschiedene Welten und Zeiten. Die Figuren darin traten als Zeichen des permanent Göttlichen in allem und jedem auf. Weiß-gelbe Sujets, lichte Mystik. Sie, die Malerin, könnte sich inmitten dieser großen Leinwände doch eigentlich auch leicht und hell fühlen, aber Lea Morgenstern hatte sich verändert. Sie war hart und streng geworden, arbeitete uferlos und fand kaum noch Menschen, die ihr ähnelten.

Solche wie sie waren kaum sichtbar; und Menschen in Anstellung, mit Urlaubs-, Kranken- und Weihnachtsgeld, verstanden ihre Existenzbedingungen nicht. Wenn sie krank würde, fiele sie ins Nichts. In ihrer Furcht vor solchen Umständen schloss sie eine Versicherung gegen die schlimmsten 28 Krankheiten ab. Die war nicht billig, aber sie ließ sie ruhiger schlafen. Doch sie wusste inzwischen auch, dass alle paar Jahre eine neue Krise zuschlagen würde. Nichts war wirklich von Dauer, außer das Mitmenschliche. Das aber war in den Wirren der letzten Jahre fast untergegangen. Lea ging es jetzt wirtschaftlich besser, sie konnte wieder abgeben und sich um andere kümmern, wie schon vor der Wende. Aber nachts, in ihren Träumen, eilte sie über die Trümmerfelder ihres Lebens und suchte einen Namen, ein Gesicht. Immer wurde sie kurz vor dem Erwachen verlassen. Die Seele weiß nichts von Systemwechseln.

Sie brauchte Zeit für Menschen. Endlich. Und plötzlich war es ganz leicht, abends im Blauen Licht beim Wein auf andere einzugehen. Meist kam da zusätzliche Arbeit auf sie zu: „Besprichst du mir meinen Dok-Film?“, „Kannst du ein Cover zeichnen?“, „Würdest du Texte für meinen Werbefilm schreiben?“ … Über diese Freundschaftsdienste wuchsen feste Bindungen… Geben und Nehmen, nur so entsteht mit der Zeit ein neues Netzwerk. In diesem Füreinander fand Lea Menschen, die ihr ähnelten – und auch einen neuen Mann. Heute weiß sie, es war ihre intensivste Lebenszeit.

Heiligabend traf man sich nach 23 Uhr im Blauen Licht, wo alle miteinander ein großes Buffett ausrichteten, und die Musiker unter den Stammgästen bis 4 Uhr morgens Irish Folk und Rockballaden spendierten. Das letzte Mal würden sie mit allen so feiern. 2007. Die Schlüssel zum alten Häuschen in der Schorfheide hatten sie bereits. Die letzte Mieterhöhung machte dem freiberuflichen Paar eindeutig klar: mit dem Älterwerden würden sie diese großzügige Stadtwohnung nicht halten können. Sie mussten gehen, um ihr Alter zu sichern.

Das dritte Leben

„Sie doch nicht!“ erwiderte die Post-Bankerin ein bisschen zu laut. „Freiberuflern gewähren wir keinen Hauskredit.“ Die Banken hielten selbst einen guten Erwerbsnachweis nicht für sicher. Und da hatten sie natürlich Recht. Honorarverträge schicken einen auf eine Art Seiltanz, denn sie sind leicht kündbar. Eine Intrige vom Blattchef gegen seinen Stellvertreter im Stammhaus führte dazu, dass die freie Frau Morgenstern als Bauernopfer ihre Kinoseite einen Monat vor dem Umzug aufs Land verlor. Das kappte ihre Einkünfte schon mal um ein Drittel. Gott sei Dank hatte eine Vor-Ort-Bank ein Einsehen und finanzierte zu 70 Prozent den Hauskauf, den Rest regelte Lea Morgenstern über Privatkredite. Für die Wochenblattproduktionen fuhr sie nun drei Wochentage in die Lokalredaktion nach Eberswalde. Mit dem Auto quer durch diesen großen Märchenwald. Vorbei am Großen Döllnsee und dem grünen Wuckersee hinüber nach Joachimsthal und von dort weiter mit der Regionalbahn. Wunderschöne Landschaftsblicke. Es war nicht verwunderlich, dass die Frau sehr bald ihre Schorfheidemärchen erfand, um der Region Geschichten zu schenken und vielleicht später Lesungen zu geben.

Die Finanzkrise der Banken, die im September 2008 auch in Deutschland spürbar wurde, verdarb ihre ersten Lese-Ideen. Um die Krise zu stemmen, wurden die öffentlichen Mittel für die Kultur eingedampft. Es gab kaum noch zahlende Veranstalter im ländlichen Raum. Lea Morgenstern hatte sich verrechnet, und was sie auch nicht bedacht hatte:  in einem dünn besiedelten Flächenland gibt es sehr wenige Menschen, die zu Lesungen kommen. Wieder wurde es wirtschaftlich eng, doch sie hatte längst gelernt, mit wenig auszukommen.

2009 fand sie einen Kleinverleger in Mecklenburg-Vorpommern, der ihre ersten illustrierten Regionalmärchen herausbrachte. Einen Vorleseort musste sie sich zunächst selbst schaffen und gestaltete dafür ihren Lesegarten. Märchenstelen aus Lattenrahmen mit Textbannern flatterten darin, und aus dem Efeu lugten Geschichtenplatten. Hier gab es Gartenlesungen für Sommergäste. Nichts für Regenwetter. Und wenn sie mal keinen Verleger fand, fertigte sie von Hand illustrierte Künstler-Hefte. Es blieb ein auszehrendes Leben. Krankheiten schwächten sie, aber Lea Morgenstern arbeitete weiter. Lange Ferien kannte ihr drittes Leben nicht.

Die Stille flüsterte: schlaf. Aber das Pfeifen in den Ohren wollte den Schlaf nicht kommen lassen. Sie stand auf, wie sie immer aufgestanden war. Weich in den Knien, doch mit jedem Schritt schob ihr Wille den schwachen Körper an. Im Garten duftete die zweite Rosenblüte. Von den Essigrosen pflücke sie sich eine Handvoll Blütenblätter, trug sie in die Küche, schnitt das bittere Gelb heraus, gab sie in eine Glaskanne, dazu ein Salbeiblatt und übergoss alles mit heißem Wasser. Sie wartete zehn Minuten auf den Rosenblütenblättertee, der Herz und Seele leicht machen sollte. Das hoffte sie bei jedem bedächtigen Schluck. War es noch Sommer oder schon Herbst? Viel Braun mischte sich bereits in das Laub der Bäume, deren Blätter welk zu Boden fielen. Seit Wochen war kein Tropfen Regen gefallen, deswegen goss sie die Pflanzen nun auch in dieser Morgenstunde, bevor sie an ihren Schreibplatz ging. Heute würde sie nur Worte sammeln, denn sie wusste noch nicht, wie es weitergehen soll. Sie hatte ihre Kraft in den letzten großen Text fließen lassen, nun war sie weg. Für ein Weilchen oder auch länger.

Wortfetzen wehten aus dem nahen Wald, und ihre Kopfgestalten tuschelten: „Seht ihr sie, unsere Geschichtenmutter? Sie hat uns alle erfunden, aber wir wärmen sie nicht.“ Lea Morgenstern nickte und dachte, es hilft ja nichts, ich muss weitermachen. Die letzte Passage ihrer Lebensreise würde sie durch diesen großen Wald führen. Einen ohne räuberische Wegelagerer, die sind längst in die Städte gezogen, dort ist die Menschenjagd leichter. In diesem Geschichtenwald wehen noch Stimmen derer, die gehört werden wollen. Und während sie das dachte, huschten ihre Fingerkuppen für ein weiteres Märchen über die Tastatur: Der Flusswächter stieg vor ihrem inneren Auge aus dem Nebel überm Döllnfließ. Das Dorf, indem sie nun lebte, war froh darüber.

Es ist irgendwie sonderbar, dass die Menschen dazu neigen, den Kreativen spezielle Namen zu verpassen. Wenn Lea Morgenstern Blätter für einen Eulenkalender zeichnete und vielleicht auch noch einen zweiten, galt sie fortan als die Eulenfrau. Schrieb sie Märchen, nannte man sie die Märchentante. Aber wie passt das zu ihren kritischen Alltagsgeschichten, ihrem preisgekrönten Krimi und ihrer abstrakten Malerei? Wenn sie auf ihrem Blog politische Kommentare schrieb, nannte man sie eine Freidenkerin. Die Frau passte einfach nicht in eine Schublade. Wie auch, wenn eine über 35 Jahre all ihre Möglichkeiten nebeneinander – oder auch nebenher – auslebte.

Dennoch kam sie nicht weit, denn ihre politischen und sozialen Ahnungen verharrten im Privaten der Frau Morgenstern. Sie schrieb Bücher, die aber kaum über die Uckermärkische Landesgrenze hinauskamen.  Regionalverlage bedienen meist nur die angestammte Leserschaft. So blieb sie eine Autorin im gesellschaftlichen Randschatten. Gefühlt wirkungslos. Treibmittel für ihre Notate war die allgegenwärtige Unfähigkeit der politischen Akteure, zu erkennen, was kommen würde.  Was aus den überheblichen Siegerposen im Deutschen Vereinigungsprozess, der Flüchtlingskrise, der Finanzkrise, den politischen Fehlern in der Corona-Zeit, der Energiekrise und den unsozialen Transformationen… folgen würde. Diese mangelnde Weitsicht und das allgemeine Schöngucken regten sie auf, und wenn sie nicht die passenden Worte fand, schuf sie grafische Figuren, die ihrem Frust Gestalt gaben: Den Sinnsucher mit Pestmaske beispielsweise. Frau Morgenstern wollte eine unabhängige Stimme sein, doch im Politik-Chaos der letzten Jahre wuchsen ihre Systemzweifel: Gerät das Land aus lauter Selbstgerechtigkeit seiner Demokraten in den Wahnsinn des Totalitären? Auf jeden Fall aus den Fugen.

Am Rande ihres Lebens wusste Lea Morgenstern, man würde sehr bald die Bedrängnisse der Ostdeutschen in der Nachwendezeit vergessen. Vielleicht werden später einmal die Kinder über diese Vergangenheit etwas in der Schule erfahren, als eine Fußnote der Geschichte. Sie glaubte nicht mehr, dass sie wirklich in das Blau am Grunde des Steinbruchs eintauchen werden, um zu erkunden, wie es den Menschen damals erging. Dieses Wissen könnte krisenfest machen.

Lesekostprobe

Die ersten 10 Klausurtage sind vergangen. Die Novelle wächst. Im zweiten Teil der Klausur, werden eine Handvoll Kurzgeschichten entstehen. Gestern hatte ich dafür eine Geschichtenidee, die ich Euch zu diesem Wochenende als Lesekostprobe servieren möchte… bis demnächst wieder 😊

Das Grammophon in der Nacht

Er wohnte in dem Eckhaus mit dem besonderen vietnamesischen Spezialitätenladen. Dort, im vierten Stock, hatte er sein Versteck, ein Labyrinth aus Büchern und schönen, alten Dingen. Niemand durfte es betreten, denn wäre zufällig ein Statiker dort hineingekommen, es hätte ihn der Schlag getroffen. Es war die Zeit, in der so mancher sich einen Whirlpool in das frischsanierte Bad stellte und damit rasch mal eine Etage tiefer landete. Im Prenzlauer Berg herrschte vor den Grundsanierungen der Hausschwamm im Gebälk. Weil einst die Leute aus jedem Bau-Container das entsorgte Holz klauten, um sich daraus vielleicht ein Hochbett zu bauen. Der Schwamm durfte also auch in den Dielen von Karl Wunderlich stecken, doch der Mann hielt die Gefahr geheim. Schon immer verführte den Herrn Wunderlich dieser Hang zum Sammeln in eine leise Zeit. Zwischen all den Bücherstapeln bis unter die Gründerzeitdecke, tickte die Uhr langsamer als draußen vor der Tür. Ein Ort der Stille, an dem alles noch seinen Wert hatte, weil er die Dinge schätzte.

Der Wohn-Kietz war im Umbruch und plötzlich bemerkte Karl Wunderlich, dass alle seine Bekannten verzogen waren, selbst seine alte Stammkneipe hatte geschlossen. Er fühlte sich inzwischen sehr allein. Nun trug es sich zu, dass auch besagtes Eckhaus eine Nobelsanierung bekommen sollte. Man forderte den Mieter nicht nur einmal auf, den Umzug vorzubereiten. Aber Karl Wunderlich versteckte sich und öffnete niemandem.
In einer warmen Mainacht öffnete er seine Balkontür und stellte sein Grammophon unter den freien Himmel. Es war weit nach Mitternacht als er die erste Schellackplatte auflegte: Heinz Rühmann und Hans Alberts knisterten mit „Jawohl, meine Herr’n“ über die Balkonbrüstung. „Ich hab dich und du hast mich“ trällerte und pfiff Ilse Werner anschließend und plötzlich tanzte ein Pärchen auf der Straßenkreuzung. Die Nostalgie der Töne lockte Nachtschwärmer herbei. Junge Menschen, die regelrecht verzückt waren von der schrulligen Stimmung. „Bitte leg noch was auf!“ riefen sie dem Mann auf dem Balkon zu. Karl Wunderlich lächelte, winkte scheu den Leuten zu und kaum später leierte Lale Andersens „Lilli Marleen“ durch die Nachtluft. Unterdessen rollte eine Polizeistreife heran. Karl Wunderlich hob den Tonarm von der Platte und schloss seine Balkontür. Die Tänzer drehten sich in einen Kuss und tummelten sich dann, als wäre nichts gewesen.

In der nächsten Nacht rief eine kleine Menschentraube nach ihm: „Hallo, Grammophon-DJ, leg uns ne Scheibe auf! Bitte!“ Warum nicht, dachte Karl und zog seine Kiste mit den 20er Jahre-Platten auf den Balkon. Diesmal tönte frecher Schlager-Swing über die Brüstung. „Wer hat nur den Käse zum Bahnhof gerollt“, dann „Mein Papagei frisst keine harten Eier“. Die Magie der Geräusche lud Passanten ein, zu verweilen. Das ging einige Nächte so weiter und endete immer damit, dass eine Polizeistreife heranrollte. Ganz langsam, damit die Szene Zeit hatte, sich zu zerstreuen. Niemand hatte sie gerufen, aber auch die Uniformierten waren verzückt von diesem hübsch altmodischen Flashmob.

Doch die Zeit drängte. Karl Wunderlich musste raus aus der Wohnung und sich kümmern. Nachts reagierte er nicht mehr auf die Rufer. Er packte völlig verstört Kartons, als es an der Wohnungstür klingelte. Zaghaft öffnete er. „Herr Wunderlich, wollen Sie mit Ihrem Grammophon zu unserem Hoffest kommen? Es wäre uns eine Freude.“ Karls Augen leuchteten, aber er winkte zugleich ab. „Es geht nicht. Ich muss morgen umziehen und weiß gar nicht, wie das gehen soll.“ „Wieso?“ fragte der junge Mann. Der Sammler gestattete ihm einen kleinen Einblick. „Ach herrje, das ist wirklich viel! Aber was solls, bestellen Sie ruhig den Transporter, ich besorge Leute, die das runtertragen und auch wieder rein in das neue Quartier, wenn Sie nächsten Samstag zu uns kommen.“ Karl Wunderlich nickte aufgeregt und sehr erleichtert.
Es kam, wie versprochen. Wunderlichs gigantischer Umzug wurde vollbracht. Zu seiner Freude, denn das Ausweichquartier entpuppte sich als Ladenwohnung, aus der Herr Wunderlich nach ein paar Wochen ein magisches Antiquariat der Bücher und Töne zauberte. Mit rotem Canapé und Messingteetischchen im Fenster. Ein Geheimtipp und ein Ort, an dem manche Nacht ein Käse zum Bahnhof gerollt wird.

©Petra Elsner

Sonntagsmärchen

Die drei weißen Raben

An einem nebelverhangenen Morgen waren sie auf einmal da, die drei weißen Raben. Sie krächzten in den Dunstschleiern – unbemerkt. Niemand ahnte, weshalb sie kamen und was sie suchten. Doch mit ihrem Eintreffen schien der Nebel über dem Land festzustecken. Tage, Wochen, Monate. Die Menschen darunter verblassten zu durchsichtigen Gestalten und verströmten fortan eine schwere Stille. Kein Vogel sang, und keine Blume blühte. Die drei Raben wachten stumm über dem verborgenen Geschehen.
Eines Tages zog ein furchtloser Narr durch das Land unter dem Nebel. Er trug bunte, schillernde Gewänder und einen Schalk im Nacken, der vor Frohsinn nur so sprudelte. Sein Antlitz aber war weiß wie Schnee. Die Raben krächzten unheilvoll: „Zieh weiter, sonst verlierst du deinen Leichtsinn und all deine Farben!“ Doch der Narr spottete: „Na, ihr Weißputzer! Fällt euch so gar nichts Besseres ein, als das Leben zu bleichen und zu verschleiern? Was habt ihr nur für trostlose Talente.“
Da geschah etwas Merkwürdiges: Die Raben sangen mit tiefer, klangvoller Stimme: „Wir verbergen die Menschen doch nur vor dem Elend der Welt.“
Der Narr wunderte sich: „Ach, ihr seid also Beschützer? Aber meint ihr wirklich, das stille, bleiche Leben sei schön? Seht, wie traurig und schwach die Nebelmenschen sind.“ Der Narr zog sich seine bunte Kapuze vom Haupt und schrie: „Schaut her, ist dieses Gesicht nicht leeres Weiß? Eure Schleier beschützen nicht, sie laugen aus. Alle Farben, alle Kraft und Energie. Ich bin in einem Nebelland geboren, aber als ich diese bunten Kleider fand und anzog, wuchs in mir der Mut zum Wagnis. Den brauchen die Menschen zum Leben wie Wasser und Brot.“
Die weißen Raben schwiegen, und sie dachten an die Zeit, als sie noch schwarz-blaue Federn trugen. Damals waren sie die Rufer in der Zeit. Sie warnten vor Eindringlingen oder holten notfalls Hilfe. Ein Sehnen nach diesem wachen Dasein stieg in ihnen auf, und während sie das bedachten, überzog ein Edelschwarz ihr Gefieder und der Nebel senkte sich. So war der Blick frei für all die Gefahren, die da kommen wollten…

© Petra Elsner, März 2024

Stimmen auf Facebook:

Erika Schlenzig: Märchen mit brisantem Inhalt. Ein Mutmacher. Selbstwertgefühl stärken, Pläne schmieden, Einmischen, verändern und nicht lähmen lassen. Jeder kann seine Welt bunter gestalten und Andere motivieren.

Iris Go: So sollten viele Menschen denken und sich gegen Unmut und Schwere wappnen und auch rebellieren. Frei sein und sich nicht unterbuttern lassen. Danke Petra für diese Gedanken.

Karin Segura: So wahr, befreien wir uns immer wieder aus dem aufsteigenden Nebel.

Klausurwoche 3

Die dritte Woche ist ins Land gegangen, ich bin auf Seite 20 angelangt. Gestern habe ich das Konzept zu „Morgenstill“ erweitert. Als mir meine Freundin Ines, nach dem Korrekturlesen der zweiten Wochenarbeit schrieb: „Ich gebe zu: ich hab mir beim Lesen ein Glas Sekt eingeschenkt, um meine Stimmung nicht allzu trübe werden zu lassen…“
Hm, das war dafür der Stein des Anstoßes, denn selbst wenn die Niederschrift vom Älterwerden sehr beladen daherkommt, soll sie einen doch nicht in die Tiefe reißen. Nur kann ich es nicht leichter machen als es ist, aber ich kann etwas Aufbauendes dazusetzen. Lyrik und ein Altersmärchen zum Beispiel wie das „Das versteckte Dorf“. Ich hoffe, so wird es verdaulicher, denn Ines schrieb ja auch: „Deine Geschichte geht mir sehr nahe. Schreib weiter. Das ist toll was du machst. Deine Aufzeichnungen stimmen nachdenklich, entsetzt, traurig, lassen einen zur Flasche greifen – aber vor allem ‚fordern‘ sie auf, über sich selbst nachzudenken, sich selbst ehrlicher zu reflektieren, abzuwägen zwischen der eigenen Geschichte und deren Tragik und den (Lebens)Geschichte all der Anderen, die einem lieb und ans Herz gewachsen sind. Empathie ist das Zauberwort. Ein Begriff, der langsam ausstirbt. Ich bewundere Dich für die Gabe, dass du Deine Geschichte zu Papier bringen kannst…“
Sie macht das auch gut, die Ines: Ein Wink mit der Zaunlatte und aufbauende Ermutigung hinterher. Ich mach dann mal weiter…😊

Klausurwoche 2

Das Schreiben an „Morgenstill“ entfaltet sich langsam, aber seid vorgewarnt, es ist keine leichte Kost. Das Alter eben. Der Imkergatte hat die ersten sechs Seiten gesichtet und nickte zustimmend. Er weiß, was für ein wilder Ritt das für mich ist. Inzwischen habe ich 12 Manuskriptseiten und ein neues Initial. Das erste hat zu sehr den Initialzeichnungen zum Klausur-Thema 2023 geähnelt. Es brauchte etwas anderes. Aber Sonntag und heute am Montag war mir nach leichter Kost und so entstand ein kleines Märchen, dass ich Euch in den Tag lege… Machts gut alle miteinander. Bis zum Lebenszeichen in der nächsten Woche…😊

Die Blättertrolle

Im Efeu wisperte es als sie vor die Tür trat und schimpfte: „Schon wieder Blätterwetter!“ Ihr Häuschen stand im harten Westwind. Der wehte, gleich welche Jahreszeit, welkes Laub aus der Landschaft über das Hoftor. Alle zwei Tage sah es deshalb so aus, als wäre der Hof ewig nicht gefegt worden. Den Herrn Regen störte das nicht weiter, aber Frau Sonne hatte es gerne ordentlich. Also schlurfte sie zur Besenecke, kehrte einen Eimer voll Kräusellaub zusammen und brachte es auf den Kompost im Garten. Das war der Moment, in dem Frau Sonne zufrieden zurück ins Haus ging. Aber draußen vor der Tür wehte der Wind weiter und es dauerte keine Handvoll Minuten, da sah es aus wie zuvor. Doch das lag nicht allein am Wind.
„Roll, roll, Blättertroll!“ juchzte es aus dem Wurzelgeflecht. Es waren Blättertrolle, die dort in der Dämmerung auftauchten. Sie kletterten hinauf zur Efeukrone, um sich ein schönes Blattsegel zu pflücken. Dann schwebte einer nach dem anderen zu Boden und rollte dort mit drei, vier Purzelbäumen die Landung sacht ab. Was für ein schönes Spiel! Aber plötzlich schauerte es mächtige Graupelkörner. Die trafen das Flugblatt des letzten Blattseglers, der nun jäh zu Boden stürzte. Er fiel genau vor Frau Sonnes Füße, die gerade nach dem heftigen Wetter sah. „Wer bist du denn?“ Der kleine Kerl knöpfte sich das zerfledderte Blatt von den Hosenträgern und stammelte: „Ich bin ein zugezogener Blatttroll. Wir wohnen jetzt in deiner Hecke.“ „Schön, schön, dass ihr da seid“, meinte Frau Sonne. „Das Segeln bereitet bestimmt viel Freude, und dem Efeu macht euer Gezupfe auch nichts weiter aus. Aber ihr seid hier auf dem Dorfe, da räumt man seine Hinterlassenschaften gefälligst selbst weg, sonst werden wir keine Freunde!“ Der Troll schlug beschämt die Augenlider nieder, doch seine Winzigkeit berührte das Herz von Frau Sonne. „Schon gut, schau, dort steht der Blättereimer,“ murmelte sie wohlwollend. Da griff sich der kleine Troll sein kaputtes Segel, steckte es in den Blättereimer und alles war gut.
Text & Zeichnung: Petra Elsner

Klausurwoche 1

Dieses tagelange Regengrau macht dämmrig. Seit fünf Tagen lese, schreibe und zeichne ich. Von allem kleine Portionen, weil‘s schläfrig macht – dieses Tröpfchengrau. Gestern hat mich eine Ami-Krake angezapft. Man konnte auf dem Dashboard (Arbeitsfläche des Blogs) regelrecht zusehen, wie im Sekundentakt Unmengen von Seiten unter amerikanischer Flagge angeklickt wurden (Siehe Statistik unten). KI! Für gewöhnlich besuchen meinen Blog am Tage etwa 400 Leute, davon vielleicht 50 immer den jüngsten Beitrag. Den KI-Klau kann ich ja eh nicht verhindern, aber einen literarischen Stoff, an dem ich vielleicht nächsten Winter noch schreiben könnte (mein Altersmonolog schreibt sich nicht leichtfüßig…), den sollte ich wohl nicht mehr halbfertig in die virtuelle Welt werfen. Wenn eine Maschine einfach klaut, wie soll ich noch Herr meiner Ideen sein? Also beweisen können, dass es meine sind? Adé Urheberrechte!

Bestimmt gebe ich das Klausurergebnis 2024 wieder als handgefertigtes Künstler-Heft heraus, vielleicht dann mit Fortsetzungen im nächsten Jahr. Dass muss ich noch bedenken. Den Anfang von „Morgenstill“ hatte ich ja schon im September unter einer Morgenstunde gepostet, der also ist in der Welt, aber die neuerlichen Seiten werde ich hier nicht veröffentlichen, solange der Text nicht fix und fertig ist. Ach, ich fühle mich geplündert. Der Blog war und ist für mich eine Möglichkeit, mein Schaffen unter die Leute zu bringen. Wirtschaftliche Grenzen zu überspringen, denn was nützt die schönste Geschichte, wenn man sie nicht zu lesen bekommt? Die Kleinstauflagen bringen es nicht. Ich schreibe ja nicht für die Nachwelt, sondern für mich und Dich und Dich da draußen in der Welt. Bin einigermaßen ratlos…

Blog-Statistik: Unter gestern – der KI-Klau.

Morgenstunde (811. Blog-Notat)

Stimmungen 4

…„Das stimmt. Damals war ich mir selbst nicht mehr gewiss. Man könnte auch sagen: Mir selbst fremd. Ich stand 1990 vor meinen großen Bücherwänden und dachte: Alles nicht mehr wahr. Was und woran sollte ich noch glauben, wem vertrauen? Ungute Lebenszutaten für etliche Jahre. Aber das ist das alte Fremd-Sein. Das Neue ist noch subtiler. Die bekannten Zustände werden einem plötzlich fremd, unüberschaubar und dadurch existenziell. Und diesmal trifft es das ganze Land, nicht nur den Osten und ich weiß nicht, wer hier gerade mehr Angst hat. Die Strippenzieher der Verhältnisse spielen mit ihr.“
Das Seelchen flüstert: „Du weißt schon, dass du die Angst durchschreiten musst, um sie hinter dir zu lassen?“
„Ja.“…

 

Morgenstunde (809. Blog-Notat)

Stimmungen (2)

…„Warum antwortest du nicht?“, frage ich nach.
Das Seelchen flüstert „Die Welt sortiert sich neu, da stört der Frieden.“
„Warum flüsterst du?“
„Die Selbstgerechten könnten es hören und mich niedermachen.“
„Ein Seelchen?“
„Alles, was stört. Das Selbst verdrängt mit seiner Selbstoptimierung die alles belebende Seele.“
Ich seufze: „Ja, ja, das Ego verachtet das Mitmenschliche.“
Das Seelchen wispert: „Es ist noch schlimmer, das Ego züchtet das Einander-Fremd-Sein. Nur die Meinung des Egos gilt – unantastbar, geradezu versteinert.“
Mich gruselt es, weil ich mich erinnere, auf diesem Pfad war ich auch einige Jahre als Selbstständige, hatte aber das Füreinander nie abgelegt. Im Gegenteil, ich suchte es, weil ich es vermisste und denke: Das Fremd-Sein ist ein Schwergewicht dieser Zeit…

Das Klausur-Ende

Zum Abschluss meiner Winterklausur 2023 entstand auch dieses Jahr ein handgefertigtes Künstlerheft im A5-Format. Die Novelle umfasst 40 Seiten und sucht nach der wenig wahrgenommenen Entwicklungsgeschichte vieler Menschen nach der Wende in Ostdeutschland. Im Westen glaubte man damals, die besondere Spezies der Ostdeutschen würde rasch assimilieren, doch es entstand mit der Zeit eine neue Selbstgewissheit. Auf literarische Weise, nicht als realer Bericht, stöbert die Geschichte einige Gründe auf.

Die handgebundene Novelle „ZEITSCHATTEN oder Die verschwundene Geschichte“ kann in meinem Atelier für 10 € erworben werden, bei Bestellung über Mail (petraelsner@gmx.de) zzgl. Porto.