12. Klausur-Schnipsel – der Schluss

zu “Die verlorene Geschichte”:
… Sie hatte ihn gebeten, falls er wieder einmal so einen Bedenk-Schnipsel aufstöberte, ihn ihr zu schicken. Es würde ihr helfen, sich zu erinnern. Maja Hügel hatte den Übergang von einem Land zum anderen verdrängt; oder war er nur überlagert von ihrem damals beschädigten Sein? Wahrscheinlich. Sie saß gerade an sehr aufwändigen Kinderbuchillustrationen, als die Mail von Elias aufploppte. Sie las alles in einem Rutsch und musste immerzu schlucken. Bei Hajos Bericht kamen ihr die Tränen. Er erinnerte sie an die wütenden Übergriffe ihres Ex-Mannes. Not verändert, Not zerstört. Als Maja damals zu ihrer Mutter floh, war sie nur noch ein Wrack, abgemagert, fahrig, ängstlich, ohne Stolz. Es hat Zeit gebraucht, sich aus dem Zustand der Apathie zu erheben. Der mütterliche Schutzraum und die feinsinnige Arbeit halfen dabei. Denn jedes gestaltete Blatt, das zu einem schönen Buch verhalf, nährte einen neuen Stolz. Die Mutter bekochte sie und nähte ihr weite gemütliche Patchwork-Kleider. Es war eine Art Langzeit-Reha, nach der der bunte Vogel wieder sang, nur nicht mehr im Duett. Vor ein paar Jahren erkrankte Majas Mutter an Krebs. Er wurde erst im Endstadium diagnostiziert, und so starb sie nach sechs Wochen. Maja pflegte sie und blieb nach dem Tod der Mutter allein. Bis vor ein paar Tagen gab es nie einen Mann in diesem Häuschen. Die gutsituierten Großeltern hatten es für ihre verlassene Tochter bauen lassen, die in ähnliche Bedrängnisse geraten war. Maja wusste noch nicht, ob sie das Weiberexil für etwas Gemeinsames öffnen könnte, aber sie war dabei, es zu überdenken. Besucher kommen und gehen, er könnte bleiben wollen.

Der Mann schlenderte durch seinen Kiez. Er war eine seltene Spezies geworden. Natürlich hatte er den Wegzug der vertrauten Nachbarschaft sehr wohl bemerkt, aber die Arbeit ließ ihn kaum aufblicken. In Zeiten spürbarer Einschnitte, dem Sparzwang bei den klassischen Medien, waren es die Freiberufler, denen man zuerst die Honorare kürzte und Pauschalverträge aussetzte. Elias Kühn war, wie viele seiner Artgenossen, im Älterwerden zu immer mehr Arbeitsleistung genötigt, um sein Leben zu finanzieren. Maja erging es ähnlich. Sie kämpfte schon lange gegen die Konkurrenz der glatten, preisgünstigen und fixschnellen Computer-Grafik. Mit Stift und Pinsel konnte sie den neuen Sehgewohnheiten kaum noch entsprechen. Zwei Hamster im Laufrad. Erst als Elias sich Zeit gönnte, erfühlte er den urbanen Wandel seines Stadtquartiers, und auch, dass ihm dieser Ort nicht mehr so viel bedeutete wie einst, als die Kunstszene, die Punks und all die schrägen Falter hier noch steppten. Er fühlte sich wie ein gealtertes Überbleibsel. Ein Faktotum, das seine Geschichte irgendwo vergessen hatte.  Aber die Suche hatte ihm Maja beschert. Er trug diese stille Freude in sich, und jeder, der es sehen wollte, bemerkte diese Verzauberung. Natürlich war dem Mann klar, dass Maja mit ihrer Vorgeschichte vor schwierigen Entscheidungen stand. Er wollte es ihr etwas leichter machen und sie zugleich überraschen.

Elias Kühn fuhr mit einem Mietwagen in den Norden Brandenburgs. Gegen Mittag betrat er den väterlichen Dreiseitenhof, den seine Stiefmutter mit ihrem neuen Mann weiter bewohnte. Sie wusste sofort, weshalb er kam. Die Frau von Mitte Siebzig trat vor die Tür, überreichte ihm wortlos einen Schlüssel, dann schloss sie die Tür. Manche Brüche heilen nicht. Sie hatten sich im Streit voneinander gelöst und vereinbart, irgendwann würde er Vaters Wohnwagen QEK Junior – sein kleines Erbe – abholen. Er schloss die alte Scheune auf, und sein Gedächtnis schickte ihm sofort beklemmende Spukbilder: Der Vater am Seil. Langsam wandte er sich ab von diesem Totenplatz. In einem dunklen Winkel unter dem Heuboden stand das verhüllte Gefährt. Elias zog die mächtige Plane ab. Der weiße Lack war noch tadellos. Drinnen sah alles aus, wie er es erinnerte: Kochnische, Einbauschänke, Klapptisch, Klappstühle, Doppelliege. Er schob das Mobil schnaufend auf den Hof, schloss die Hänger-Kupplung des Mietwagens an, stieg ein und startete. Jeden Meter Abstand, den er zwischen sich und den Hof brachte, machte ihm das Herz leichter.

Drei Wochen später. Das Wohnmobil parkte im Hinterhof seiner Stadtwohnung. Es war inzwischen in der Werkstatt durchgecheckt worden, und ein Tischlerfreund aus dem „Blauen Licht“ hatte den Innenausbau modernisiert. Elias kaufte neues Bettzeug, schicke Decken, Kissen und Akku-Lampen. Neues Besteck sollte die stumpfen Alulöffel ersetzen. Als er den hölzernen Besteckkasten aus der Lade hob, fand er einen Umschlag. Sein Hellgrün war inzwischen gräulich und roch alt. Er öffnete ihn vorsichtig und fand darin eine karierte Schulheftseite, auf der stand „Verzeih mir“. Elias atmete schwer. Der Vater. „Was, um Himmels Willen, soll ich dir verzeihen?“, brummte der Sohn. Noch ein Geheimnis. Er schüttelte den Kopf. Nicht einen neuen Albtraum bitte. In diesem Moment entschied Elias Kühn, nicht seiner dunklen Ahnung nachzugehen und nach möglichen Stasiakten zu suchen. Genug, fand er. Dieser Teil der Geschichte hat so grell im Licht der Öffentlichkeit gestanden und alles andere überschattet, er durfte sich langsam abnutzen. Jedenfalls die Gefühle dazu. Der Mann kippte den kompletten Kasteninhalt in die schwarze Hof-Tonne und warf die Zettelnachricht in die Blaue. Elias Kühn interessierte die andere Geschichte.

Für das Osterwochenende war er in Eichwalde angekündigt. Der Frühling schüttete seinen Glanz aus und alles drängte zum Licht. Elias kutschierte sein Gespann über die Landstraßen, im Konvoi mit unzähligen anderen, die es Ostern in die Landschaft zog. Tempo 40, es war ihm egal. Er sah das leuchtende Forsythiengelb, das helle Blattgrün der Sträucher, Vogelzüge am Himmel, klappernde Störche auf Dachhorsten. Frühjahrsromantik beschlich den Mann am Steuer. Als Maja ihn begrüßte, sah sie verwundert auf das Gespann vor ihrer Gartentür. Elias legte den Arm um die Frau und fragte erwartungsvoll: „Was hältst du von einer Nacht am Meer?“ In der Dämmerung standen sie an einem wilden Strand. Zeit für wundersame Träume und Lustbarkeiten.

Im Morgengrauen verschwanden sie von diesem illegalen Platz an der Düne. Maja hatte für das Osterfest mit Elias vorgesorgt, und sie wollten nicht die überfüllte Küste bei Tag erleben. Während sie heimfuhren, fragte Maja: „Weißt du, was aus deinen ‚Insulanern‘ geworden ist?“ Er schüttelte den Kopf: „Fast alle weg, irgendwo in der Welt. Sie waren ja damals schon von ihrer Insel abgeschüttelt worden. Jetzt sind sie etwa 50 Jahre alt und stecken in neuen Bündnissen. Ihre Welt von damals gibt es nicht mehr.“ „Bitter?“, fragte Maja nach. „Nein, nicht bitter. Sie sind irgendwo angekommen, denke ich. Ich sammele derweil nur brüchiges Wissen, falls sie mich irgendwann mal danach fragen.  Und du, wie geht es dir jetzt? Maja schweigt ein paar Sekunden lang: „Ich nehme meine Zeit an. Sie gehört mir. Gelegentlich binde ich mich an Projekte, klare übersichtliche Aktionen. Meine Weltsicht wandelt sich so wie sich die Welt wandelt, die lässt sich nicht in ein Parteienkorsett quetschen. Das hatte ich mal in dem alten Land, ist mir nicht gut bekommen. Deswegen bin ich auch von den Forum-Leuten weg, als die politischen Einfluss anstrebten. Aber wir sind stets das, was wir waren. Das können wir nicht abstreifen, wer auch immer das von uns verlangt.  Ein Malerfreund aus der Lausitz malte in den 90er Jahren mit der Herdasche seines für die Kohlebagger leergezogenen Hofes. Das war extrem und so gar nichts fürs Wohnzimmer. Aber er musste seinem Verlustschmerz Gestalt geben. ‚Landsucher‘ nannte er seine abstrakten Aschefiguren. Ich habe für meine Verluste ein ähnliches Bild gefunden: Die Zeitschatten. Verstehst du, was ich meine?“
Elias nickte und legte sich das Wort noch einmal auf die Zunge: „‘Zeitschatten‘, das ist es wohl, was ich suchte, ein Wort, für ‚Die verlorene Geschichte‘. Schenkst du es mir?“ Maja hob die Brauen, als wollte sie das erst einmal gründlich bedenken, dann prustete sie: „Aber ja doch, es passt zu dir.“

                                                                            ENDE

Danksagung

Ich danke meinem Liebsten für die Geduld mit mir, dass ich nun schon zum zweiten Mal eine Winterklausur für ein schwergewichtiges Thema verwandte. Für etwas, das bleibt – vielleicht.
Dankbar bin ich ganz besonders meiner Freundin Ines Wagenbreth, die mein Schreiben ermutigend begleitete und während des Schreibprozesses Korrektur las. Sie hat manchen Gedankenknoten gelöst. Sei umarmt dafür!
Dank gilt auch meinem Künstlerfreund Micha Seidel, der mich aufforderte, meine fünfseitige Kurzgeschichten-Idee auszuweiten und mir als Entschädigung für den erneut durchlebten Erinnerungsschmerz eine Kiste Wein und ein langes Gespräch schenkte… das hat geholfen 😊.
Und auch allen Lesern und Leserinnen des Blogs, die mir während der Klausur Zuspruch spendierten, sei herzlich gedankt.

Mancher wird sich vielleicht fragen, ob es meine Geschichte sei, die hier verhandelt wurde. Nein, die Hauptfiguren sind erfunden, sie sind auch zehn Jahre jünger als ich, aber sie nehmen natürlich mein Zeitenwissen in sich auf. Andere, die in kleinen Szenen auftauchen, sind hier und da reale Menschen, wie beispielsweise die Aufwindleute. Auch die Lisa-Runde erzählt mit veränderten Namen wahres Leben. Aber manches durfte in meiner Novelle noch ein kleines bisschen länger leben, was in Wahrheit gar nicht mehr existiert, wie das „Blaue Licht“. Es war einmal…

Nachtland

Komm leg‘ dich in meinen matten Schatten.
Die Nacht tanzt voller Gespenster
wild und uferlos.
Komm feg‘ deine Furcht aus meinem Nacken
und mach‘ die Leinen los.
Die Zeit nimmt Fahrt auf – gegen Gischt und Sturm.
Der Kurs heißt: Nachtland,
auf dem der Schatten thront.
Komm pflück‘ dir einen Stern aus meinem Himmel,
und steck‘ ihn dir an deinen Hut.
Er leuchtet durch die längste Nacht
und gibt dir wieder Mut.

Spende? Ja, gerne.
Hat Ihnen diese Geschichte gefallen? Vielleicht möchten Sie mich und mein Schaffen mit einem kleinen Obolus unterstützen? Sie können das ganz klassisch mit einem Betrag Ihrer/Eurer Wahl per Überweisung tun. Die Daten dafür finden sich im Impressum. Dankeschön!

Stimmen zur Novelle und zum handgefertigten Künstler-Heft:

Andre Jahr, 1. März 23: Danke Petra!
Es passt für mich und es sollten noch mehr Menschen lesen. Erinnern, Klarheit bekommen und an die Jüngeren weitergeben, denn sie bekommen kein reales Bild der Zeiten vermittelt. Dazu können aber wir etwas tun. 💕

Barbara Liebrenz, 1. März 23: Sehr, sehr emotional und stimmig.

Ines Wagenbreth, 8. März 23: Meine liebe Petra, ui, da hab ich mich aber gestern gefreut, als ich deine Post öffnete! So eine schöne Ausgabe. So feines Papier! Es machte Freude, darin zu blättern. Sehr edel!

Reinhard Gundelach, 8. März 23: Heute bekam ich Post, eine wunderbare Novelle. Kann das Büchlein nur empfehlen! Wer daran Interesse hat, sollte die Autorin Petra Elsner kontaktieren.

Bianca Tiedt, 18. März 23: Hab’s mit Freude gelesen. Bin auch sehr gut reingekommen (lese ja sonst nicht so oft). Besonders gut hat mir die Geschichte zwischen Elias und Maja gefallen 🥰 hab mir da irgendwie immer dich und Lutz vorgestellt GRINS… Auf jeden Fall sehr spannendes Thema!!! Hab ja von der Zeit nu nicht wirklich was mitbekommen, um so interessanter finde ich es immer, wenn Leute davon berichten, wie sie das so erlebt haben! Also dicken 👍🏻 nach oben!!! Hat mir sehr gut gefallen 😊

11. Klausur-Schnipsel

zu „Die verlorene Geschichte”:

… Er hatte seinen Terminjob erledigt und etwas Zeit, wieder nach dieser flüchtigen Geschichte zu suchen. Vielleicht auch nur nach einem Textstück, dass die Zeit authentisch festgeschrieben hatte. Wie viele Wahrheiten wohl nebeneinander abliefen? Er konnte nur die eigene wiedergeben oder alte Niederschriften sprechen lassen. Aber wie war das damals? Das Bild verschwimmt, man erinnert sich kaum noch. Der Schreiber durchforstete seine Stücke, Porträts, Erzählungen und fand, diese Romanpassage hielt die Situation junger Menschen jener Tage gut fest:

Frühjahr 1991
Da saßen sie wieder um den großen mattgescheuerten Eichentisch in Lisas Küche: Chris, Jo und Hajo, der harte Kern eines Freundeskreises. Hier, zwischen Abwaschbecken, Kartoffelkorb und irdenen Gefäßen; auf unegalen, knarrenden Holzstühlen, schufen sie sich im Kopf die „Flora-Insel“, ihr Selbsthilfeprojekt. Das war im Frühjahr 1990, eine Zeit, jenseits von Gut und Böse, in der die Wohnungen nicht mehr genug Platz für die vielen Ideen und der daran klebenden Leute boten. Eine verlassene Kneipe in der Florastraße war das Objekt ihrer Begierde. Heute scheinen ihnen Welten dazwischen zu liegen. Nein, sie trinken nicht wie damals Indische Teemischungen für eine Mark und zwanzig mit ein bisschen Zucker und Zimt, damit das Getränk überhaupt Aroma bekam. Lisa verbreitete immer einen Zauber um den Tee in der dickbauchigen Steingutkanne. Es war ihr Tun und Machen, das der Teestunde so etwas Zeremonielles verlieh. Das hatte Seele. Matze erinnert sich an so ’nen typischen Gedanken von ihr: „Die Dinge mit Freude und Muße verrichten, dann werden sie wertvoll, weil Liebe drinsteckt. Du kannst den billigsten Apfelwein auf den Tisch bringen, wenn du ihn achtungsvoll kredenzt – in polierten Römern, bedächtig, voller Genuss, begleitet von geistreichen Worten, dann nehmen ihn deine Gäste an wie ein reiches Geschenk.“
Lisa machte aus ihrer schon damals bescheidenen Lebenssituation eine Tugend. Damit lebt es sich zufriedener, als immerfort unerfüllbaren Wünschen hinterher zu hasten. Als die D-Mark kam, spielten ihre beiden Mädchen verrückt. Sie wollten auch gerne so viele schillernde Sachen, wie sie etliche Schulfreundinnen jetzt bekamen. Die alleinerziehende Pionierleiterin hätte gerne nachgegeben, konnte es jedoch nicht. Sie war – noch vor dem Parteisekretär der Schule – ihren Job los. Eines Tages nahm die stolze Frau ihre Kinder bei der Hand und setzte sich mit ihnen geradewegs vor das Metropol-Hotel in der Friedrich-/Ecke Mittelstraße. Nobelkutschen mit Geschäftsleuten fuhren hier unentwegt vor. Sie wählte eine Parkbank gegenüber dem Eingang und forderte Jenny und Fanny auf, eine Stunde lang genau in die Gesichter der Eintreffenden zu schauen. Sollte nur einer unter ihnen richtig glücklich aussehen, könnten sie sich etwas wünschen. Die Mädchen entdeckten keinen.
Lisas Gäste hatten sich verändert. Hajo studierte jetzt an der TU in Dresden, Chris im katholischen Bamberg. Es war der reinste Zufall, dass Jo’s Telefonrundruf alle in der Pankower Altbauwohnung zusammenbrachte. Doch bereits an der Tür, als sie die mütterliche Freundin wie immer umarmten, spürte jene eine merkwürdige Verlegenheit. Bis auf Matze hatte sie die anderen fast ein Jahr nicht mehr gesehen. Sie sah in den forschenden Blicken der drei Verschollenen leichte Enttäuschung – alles noch beim Alten. Kein neues Buch, keine neue Technik, nirgends etwas modernisiert, und Lisas Augen: gerötetes Grau, ohne das bekannte Funkeln. Als Matze seinen Ökobeutel auspackte: Weißbrot, Leberwurst, Teebeutel, Weintrauben und einen Pappkarton roten Tafelwein, wussten sie, mit ihren Mitbringseln lagen sie völlig daneben. Fast peinlich berührt, stellten die drei je eine teure Flasche Wein dazu. Lauter als notwendig begannen sie sich über ihre Studienbedingungen auszutauschen.
Lisa dachte kopfschüttelnd: „Dafür hätte ich glatt ein Wochenende bestreiten können.“ Die zarte Frau ging an ihren alten Küchenschrank und suchte in einer Lade laut scheppernd zwischen metallenem Küchengerät nach einem Korkenzieher. Matze trat unauffällig daneben, legte seinen Arm um sie und flüsterte ihr zu: „Sei nicht sauer. Sie haben einfach nicht nachgedacht und wollten Dir ’ne Freude machen. Okay?“ „Hm“, gab sie ihm mit dünnem Lächeln zurück. Chris schob sich zwischen die beiden, griff nach den Gläsern im Vertiko, und Jo nahm Lisa mit einem „lass mich mal“ den Korkenzieher ab. Sodann saßen sie beim Wein, doch das Gespräch wollte nicht richtig anlaufen. Taktik kannten sie früher untereinander nie. Sie hatten sich damals sogar einen Kurzzeitwecker auf den Tisch stellen müssen – statt Glocke – damit jedem Redezeit zufiel und das Recht, gehört zu werden. Wie einst in der Volkskammer. Ein Spiel, das ihnen gefiel, und doch war es nur Lisas Mittel, sie ausreden und zuhören zu lehren. Und wenn ihnen die Anstrengung zu herb im Gesicht stand, spielten sie mit Würfeln oder Karten, auf dass der Druck des Tages von ihnen wich und sie wieder sein konnten, was sie waren – große Kinder.

Man war sich seinerzeit sehr nahegekommen. Zu nahe? Die Zeit ließ hohe, unsichtbare Hecken wuchern; jeder versiegte Traum – ein Stachel am Gestrüpp; jeder Neubeginn trieb einen steilen Ast zum Licht, der das innere der Hecke tötet. Sie hatten Unmengen an Neuigkeiten auf Lager, doch wo anfangen, wo aufhören? Diese Nacht reichte ohnehin nicht, und getrennte Zeit gebiert getrennte Wege, und dann sind noch die ungleichen Chancen. Schlimmer noch war; sie hatten keine gemeinsamen Träume mehr. Matze wusste plötzlich, das war der Knoten, der sie noch lose verband – der verbrauchte Insel-Traum. Die Erinnerung. Aber mit Anfang zwanzig will man nicht rückwärts leben. Wenn diese Gruppe sich nicht gänzlich verlieren wollte, brauchten sie neue Gemeinsamkeiten. Anders kann man füreinander nicht da sein.
Matze holt entschlossen den Kurzzeitwecker vom Herd, zieht ihn demonstrativ auf: „Also, liebe Insulaner! Wovon träumt ihr noch? Jeder hat fünf Minuten.“ Er stellt das tickende Ding vor sich und mustert schlitzohrig die Freunde wie die Spieler einer Pokerpartie. Er war der Zeit-Banker.
Chris verliert augenblicklich seine keck-fröhlichen Züge. Allein das Wort „Insulaner“ bohrte sich in sein Inneres und traf dort auf eine immer noch wunde Stelle, die er sonst, unter Fremden, mit Ironie bis Zynismus verbarg. Er war nicht umsonst nach Bamberg, diese kleine, puppige, aber langweilige Studentenstadt gegangen. Weg von all den Verlusten, dem Frust der gescheiterten, der Depression. Es war eine Flucht auf Zeit in eine heilere Welt. Abstand, damit die Trauer ihn nicht noch mehr zerstört. Weg von der Drehscheibe Deutschlands, Berlin, wo die sozialen Konflikte ungefiltert aufeinanderprallen, die Alternativen westseits schon alle gelebt und gestorben sind und der unverbesserliche Rest dessen nur noch militant seine Projekte durchzuführen glaubt. Das ließ den friedlichen Ost-Versuchen keinen Raum. Besatzermentalität auch in dieser Szene. Die Ossis sind überall in der Minderheit, auch bei den Alternativen. Chris‘ Gesicht ist auf einmal wieder so aschfahl und von traurigen Falten durchkerbt, wie in jenen Tagen, als ihr Traum zerplatzte: Ein Haus in Pankow für alle, die darin aktiv sein wollen, von links bis rechts, ohne politische, soziale Ausgrenzung, friedlich, offiziell und doch selbstbestimmt. Das war sein, ihr Traum von einem gemeinsamen Ort, wo man ausprobieren kann, auf neue Art miteinander zu leben. Die Flora-Insel, ihre erste gegenständliche Wende-Hoffnung – Toleranz sei praktizierbar. Dann, wenige Wochen später, nur noch der Wunsch, sich dort einzuigeln, zu überwintern – ein Nachwendesyndrom. Sie sind zusammen alle amtlichen Wege gegangen. Ihre Konzepte fand man im Rathaus gut. Die letzten Volkskammerwahlen der DDR am 18. März 90 kippten die Meinungen von Amts wegen. Auswege bot man ihnen nicht. Stilles Sterben mit siebzehn, achtzehn. Erst dann kochten wütende Gedanken. Radikalere! Einfach reinsetzen in so’n lebloses Haus, wie in der Hamburger Hafenstraße. Barrikadenträume, gezeugt aus der Ohnmacht. Im Mai 90 dann der Aufruf der Westberliner Autonomen, in die Mainzer zu kommen. Dort sammelten sich viele, und war vielleicht noch eine Möglichkeit. DIE Welt hatten sie alle längst als Denkradius aufgegeben – kein Einfluss. Was sollten da ihre Gedankenspiele um das Große? Sie wussten nicht, was und wer sie waren, und die Zeit lief nicht beständig, sondern glich einem Vulkanausbruch.
Chris fühlte sich nicht als Autonomer. Er wollte nur nicht gleich wieder in eine Zwangsjacke für die Gedanken gesteckt werden. Die Medien nannten sie linke Chaoten. Stand er links? Nein, er befand sich nur in einer Bedenkpause – nirgendwo im rechtslosen Zwischenland.
Es rasselt der Wecker und durchreißt die gedankenschwere Szene. Matze zieht die nächsten fünf Minuten auf und Chris beginnt:
„Da haben wir seinerzeit unsere Ideen ganz kleingemacht. Überschaubar, weit weg von den großen, kaputten Visionen. Doch selbst diese Kleinstvariante hat man uns nicht gelassen. Nach der Vertreibung aus der Mainzer sind wir alle irgendwohin geflüchtet, und streunen heute dort als zahnlose, einsame Wölfe herum. Wir bauen nicht mal mehr Schutzwälle gegen die Kälte des Systems. Wissen kaum noch, wie man mit dem Kummer, dem Ausgegrenzt-Sein des Nebenmenschen umgeht. Wie schnell das geht. Man gibt sich wessigemäß und baut an seiner standessuggerierten, bürgerlichen Inselvariante: Traumjob, Haus, dickes Auto oder sonst etwas, ganz für sich allein zu besitzen. Besitzen! Kohle! Darauf reduziert sich letztlich alles, auch wenn wir dem Traumding andere Namen geben, weil man’s so banal nicht sagen will. Für diese Inselvariante schuften wir und passen uns an. Ich würd‘ gern als Weltbürger leben. Verschiedenste Kulturen in mir aufnehmen, überallhin Verbindungen aufbauen. Mich erdrückt die Enge in Bamberg. Aber auch für so eine Lebensart braucht man Kohle, Kopf allein reicht nicht.“
„Mag sein,“ wirft Matze ein, obwohl Chris‘ Redezeit noch nicht verstrichen war. „Aber zum Weltbürgerdasein brauchst du nicht unbedingt viel Geld. Das kannst du auch als Entwicklungshelfer erlangen.“
„Blödsinn!“, Chris wirft sich ungehalten an die Stuhllehne zurück und winkt ab: „Da stülpst du auch nur Leuten etwas über. Bringst wieder in Europa ausgediente Lebensvorstellungen zu ihnen, die nicht die ihren sind, so wie die Westberliner Autonomen den Ostberlinern. Nee, Matze, das sind missionarische Einsätze – immer noch. Gut, es ist eine Möglichkeit, Deutschland zu verlassen, aber mehr nicht.“
Matze schaut entgeistert in Chris‘ ernstes Gesicht. So hatte er die Sache noch nie betrachtet. Chris rüttelte damit ungewollt an seiner zusammengezimmerten Zuflucht. „Aber es muss doch einen Weg geben, der beispielsweise ausschließt, dass europäische Kultur afrikanische Lebensweise zerstört“, sammelt sich Matze. „Wenn man gleichberechtigt mit ihnen zusammen lebt und arbeitet, um in ihre Welt einzutauchen, und ihre Kultur erfahren will – das ist doch ein Ansatz, oder?“
Jo gießt gelangweilt Wein in die Gläser nach, und Lisa zündet weiße schlanke Kerzen und sich dann nachdenklich eine Zigarette an. „Merkwürdigerweise ist aber der Mensch wie ein Tier, das sich nach dem stärksten seiner Art orientiert“, setzt Lisa dunkel hinzu. Während sie ruhig Weißbrot in Scheiben schneidet und mit Leberwurst beschmiert, hält sie die Zigarette lax im Mundwinkel, dabei kneift sie ein Auge schützend vor dem aufsteigenden Qualm zu, schaut kurz auf Matze und murmelt: „Kennst du doch: Peterprinzip und Hackordnung. Ich glaube nicht, dass sich so etwas außer Kraft setzen lässt. Nirgendwo. Aber behalte deinen Traum, du hast wenigstens einen, und bist jung genug, so etwas auch durchzuziehen.“
Da ist Fernweh in ihrem nochmals flüchtig erhobenen Blick. Als huschten vor ihrem inneren Auge Bilder aus Afrika vorbei: Die Weite eines unscharfen Horizonts, wo flaches Buschland und südlicher Abendhimmel flimmernd ineinander tauchen – und einsam in diesem Bild ein gigantischer Baum im Gegenlicht – apokalyptisch. „Dorthin komm ich nie“, denkt die Dreißigjährige. „Es reicht kaum für den Tag. Mein Gott, die ABM-Stelle im Frauenzentrum bringt mir wenigstens 1200 DM. Zu wenig für drei. Ich kann mich kaum bewegen. Was wird, wenn die Maßnahme in einem halben Jahr ausläuft? Wieder ein kurzlebiges Projekt? Nach ein paar Monaten Arbeitslosengeld: Sozialhilfe?“ Lisa kann nicht mehr für die Wirklichkeit träumen, ihre Gedanken sind ohne Flügel. Im Frauenzentrum sieht sie, wie das Elend wächst. Frauenarmut. Die perlt nicht ab von ihr, wie das Wasser auf einer gutgefetteten Haut, sondern dringt tief in ihre Poren und wird dort zu Angst. Lebensangst, die sie heute vor den Jungs am Tisch versteckt hält. Nicht aus Scham. Nein, weil sich nicht jedes Wissen ertragen lässt. Man verdrängt es unweigerlich, indem man ihm ausweicht. Dabei ist sie doch so froh darüber, dass die Jungs endlich mal wieder zu ihr gefunden haben. Sie will die Situation festhalten, solange sie kann. Deshalb schweigt die Frau. Denn wenn sie auf irgendeine Vision hoffen kann, dann glaubt sie, diese Vision nur noch durch diese jungen Männer zu empfangen, transfusionsartig. In ihr ist keine gestalterische, visionäre Kraft mehr, nur noch die Zähigkeit, die monoton das Leben fortsetzt.
Jo saß die ganze Zeit über unruhig in dieser Runde. Er kippelte sich mit seinem Stuhl immer weiter vom Tisch, lehnte nun bereits in der Ecke zwischen Fenster und Schrank, als er seinen Sitz krachend wieder in die Normalstellung bringt, und gleichzeitig in für ihn bedeutungsträchtigem Hochdeutsch ausstößt: „Es reicht! Ich kann die ‚Weißt-du-noch-Geschichten‘ oder die ‚Wenn-dann-Geschichten‘ nicht mehr hören! Diese Leidensminen nicht mehr ertragen! Hört auf damit! Es gibt keine großen Träume mehr. Wir leben jetzt! Nicht jeder lebt gut. Aber eben jetzt! Ich will nicht ständig das Haar in der Suppe suchen, sondern die Suppe essen. Ich will schöne Klamotten tragen und mich von Lebenslust treiben lassen, ohne mir von solchen wie euch diesen abwertenden Seitenblick einzufangen. Ich will, dass die Stadt schön wird. Einfach licht, freundlich, sauber, und nicht gleich hinter jeder neuen Fassade das schmarotzende Kapital entdecken, welches mir die Illusion nimmt. Ich weiß von den Spekulanten, aber ich muss es nicht immer wissen. Ich will kein schlechtes Gewissen haben, weil‘s mir jetzt besser geht als Lisa. Vielleicht ist schon übermorgen alles vorbei, und ich bin ganz unten. Das geht doch alles so verdammt schnell. Lasst endlich jeden wie er ist! Ich sag euch ja auch nicht immerzu, ihr müsst das positiv sehen, die neuen Dimensionen und so. Seid nicht sauer, aber das gibt mir hier nichts mehr. Ich hau‘ ab.“ Er springt auf, steckt sich sein im Kreuz zusammengewurschteltes, schwarzes Seidenhemd wieder korrekt in die Hose, streicht mit der linken Hand eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn, mit der rechten klopft er verabschiedend auf den Tisch und verdrückt sich hinaus ins Freie. Nur weg, keine Erwiderung abwartend.
Man hörte das Atmen am Tisch. Der unverhoffte Szenenwechsel erwischte die anderen kalt. Hajo saß verkrampft mit geschlossenen Augen da. Ihm war, als müsste er augenblicklich losheulen. Doch es war dann nur so ein sachtes Beben in seiner Stimme: „Ich versteh‘ ihn. Im Dauerkonflikt lebende Menschen werden krank. Und er will sich nicht infizieren. Wisst ihr, meine beiden Alten und meine vierzehnjährige Schwester haben sich vor ein paar Tagen total gekeilt. Ich war derart erschrocken, als ich gestern von dem ganzen Schrott erfuhr. Seit Monaten läuft das Papiergeschäft meiner Eltern nicht mehr so gut. Sie haben furchtbar viel investiert, sich dabei hoch verschuldet, und jetzt bleiben die Kunden aus. Die Zinsen, die Gewerbemieten und was weiß ich belasten sie. Mutter ist durchgedreht. Wollte aussteigen. Die beiden anderen haben sie als Verräterin beschimpft und traktiert. Sie war plötzlich an allem schuld. Und da hat sie Susi für deren schlimme Anfeindungen eine gescheuert. Aber die schlug zurück. Stellt euch das vor: Meine kleine Schwester sprang unserer Mutter an die Kehle und drückte völlig enthemmt zu. Sie hätte Mutter umgebracht, wenn nicht Vater dazwischen gegangen wäre. Der hat zuletzt auf Mutters Schlag mit der Vase nicht mehr reagiert – und so hörte es endlich auf. Niemals gab’s auch nur seichte Schläge in unserer Familie. Sie sind unter dem existentiellen Druck entgleist. Mutter soll dann ins Frauenhaus gerannt sein, wo man sie eigentümlich musterte: ‚Wie bitte? Sie haben ihren Mann und ihre Tochter verprügelt und nun trauen SIE sich nicht nach Hause?‘ Meine Mutter blieb nur die eine Nacht, während Vater sich im Krankenhaus den Kopf nähen ließ und Susi einem Kinderpsychologen vorstellte. Sie hat echt ’n Ding weg seit diesem Abend. Ich weiß nicht, ob sie das je verwindet. Jetzt läuft die Scheidung an. Eine von den neuerlichen 60 Prozent-Scheidungen, in der die ostdeutschen Eheleute mit der Axt aufeinander losgehen. Das ist doch alles irre, zum Weglaufen. Man kann es erklären, aber aushalten kann man es nicht.“
Nun brechen doch Tränen aus Hajo. Lisa war längst aufgestanden und seitlich neben ihm. Sie strich ihm sacht, fast zögernd über seine langen, aschblonden Haare, die übers rot-weißgepunktete Stirnband fielen. Da ruckte sich Hajo zu ihr herum, klebte an der flachbrüstigen Frau und weinte sich aus. Der erste milde Frühlingsabend hing im Raum, und die Menschen darin hatten ihre Kummerbrücken gespannt. Über die würden sie auch weiterhin zueinander finden. Gesprochen wurde nicht mehr viel, es gab keine helfenden Antworten. Stattdessen nahm Lisa ein Märchenbuch zur Hand und las ihnen eine lange, besänftigende Geschichte vor…

Meine Güte, dachte Elias, was für ein Gefühlschaos. Er kopierte die Zeilen, schickte sie per Mail an Maja und war gespannt, was sie dazu sagen würde…

E wie Ende.

10. Klausur-Schnipsel

zu “Die verlorene Geschichte”:

… Elias ergriff ihre Hand und zog sie in seine Arme. Das war keine schlichte Umarmung, es war ein Ineinanderfallen, ein Verschmelzen. Nicht als überraschender Urknall, eher einer Ahnung nachspürend, es könnte Liebe sein. Vielleicht ist die Liebe zwischen älteren Menschen die zarteste überhaupt, weil sie den Schmissen des Lebens nachfühlt, das Welken der Zeit auf der Haut streichelt und das Noch-am-Leben-sein feiert. Maja fand, dazu gehöre ein Festessen – und weil der Kühlschrank nicht viel hergab, zogen sie sich an, um beim Italiener zu tafeln.

Elias wurde von Geschäftigkeit geweckt. Er stieg die steile Stiege hinunter in die Wohnküche. Dort stand ein Picknickkorb mit Äpfeln und belegten Bäckerbrötchen, und durchs Fenster beobachtete er Maja, wie sie an einem alten Auto Wasser in die Scheibenwaschanlage füllte. Er öffnete fröstelnd das Fenster: „Morgen, was wird das?“ Maja sah ihn verschmitzt an: „Was hältst du von einer Ausfahrt ans Meer?“ „Ach, wie schön,“ seufzte Elias. Er beeilte sich mit dem Duschen, bekam noch einen Kaffee im Stehen und los gings. Frühstück im Auto, denn sie wollten in dreieinhalb Stunden auf der Insel sein, um etwas von diesem glasklaren Tag zu haben. Gegen Mittag fuhren sie über die Peenebrücke hinüber zur Sonneninsel. Möwen kreischten, und die Luft schmeckte salzig. Maja und Elias glänzten vor Glück. Es war einer dieser selten gewordenen Inseltage, an denen die Touristen noch fernblieben. In Bansin kauften sie sich Fischbrötchen und stiegen damit über die Düne. Wind knatterte, und die Weite der Ostsee lag tosend vor ihnen. Einatmen. Ausatmen. Ins Fischbrötchen beißen. Sie wussten, sie hatten nur ein paar Stunden für ihren Trip. Denn beide hatten Abgabetermine im Genick. Aber diesen Moment genossen sie mit allen Sinnen. Maja schnaufte kurz vor Heringsdorf beim Strandlaufen. Die kleine Frau hatte Mühe seinen langen Schritten zu folgen. Irgendwann nahm er sie einfach Huckepack und trug sie schweren Schrittes durch den weichen Strandsand hinauf zur Promenade. Dort setzte er sie ab: „Hier läuft es sich leichter.“ Sie war ein wenig verärgert, ob ihrer Winterschwäche: „Keine Kraft. Zu viel gesessen. Ich muss was tun…“ Elias witzelte: „Wie wär‘s mit Treppentraining?“ Sie räusperte sich: „Um nichts in der Welt.“ „Schade.“ Sie flanierten zurück nach Bansin, vorbei an modernen Prachtbauten und weißgetünchten Villen der alten Bäderarchitektur. Renaissance, Klassizismus und Barock – alles dicht beieinander. Maja fand: „Sie haben einen wundervollen Schauwert für Spaziergänger, aber wie viel Geld da drinsteckt! Kann man so viel Kohle sauber verdienen? Ich weiß es nicht. Viele ostdeutsche Eigentümer sind da vermutlich nicht mehr darunter.“ Angekommen am neuen Entree hinunter zur Stadt, murmelte Elias: „Werden wir ihnen unseren Niedergang jemals verzeihen können?“ Sie zuckte mit den Schultern: „Vielleicht, wenn sie nicht immer neue abwertende Narrative über die Ostdeutschen stülpen. Dann womöglich.“
Am späten Nachmittag bekamen sie noch einen guten Platz im „Fischkopp“. Das kleine familiengeführte Restaurant ist gewöhnlich vollkommen ausgebucht, aber offenbar war ein Reisebus liegengeblieben, und so konnte das Paar vor der Heimfahrt noch genüsslich speisen. „Wie wär‘s mit Zander auf Beluga-Linsen mit Sahnesoße und Salat?“, las Elias aus der Karte vor. „Nehmen wir.“ …

In der fünten Klausurwoche

Hier der nächste Klausur-Schnipsel zu „Die verlorene Geschichte“:

… Am S-Bahnhof Greifswalder Straße verließ er die Bahn und eilte, vom Verkehrsrauschen begleitet, zur Marienburger. Diese Straße hinauf konnte er schlendern. Leises Kieztreiben am Abend. Im „Blauen Licht“ hockten noch die Einzelgänger. Der Schäferhund des Dealers knurrte, als Elias Kühn die Szene betrat. Er knurrte grundsätzlich alle an, die keine Kunden waren. Kühn hatte es nie probiert, sich in andere Sphären zu rauchen oder zu schnupfen, von jetzt auf gleich. Es interessiere ihn nicht, er trank sich lieber in Gesellschaft einen kleinen Feierabend-Rausch an. Das war sicher nicht besser, aber anregender. Frau Graf schenkte ihm einen Schoppen ein und servierte ihn mit diesem verheißungsvollen Augenaufschlag, dem schon viele erlegen waren. Doch die Frau bemerkte sofort, dass diesen Mann ein inneres Leuchten umgab. Ihr Blick wurde nachsichtig: „Ja, ja, die erste und die letzte Liebe verschlingt uns ganz.“ Elias Kühn stutzte und schaute irritiert ihren flinken Schritten nach. Die Nacht wehte endlich einen Bekannten ins Quartier. Elias war froh, nach der wortlosen Beobachtungsstunde in irgendein Gespräch zu kommen. Bert Poppe wickelte sich mit jungenhaftem Lächeln aus seinem Endlosschal, bestieg den Hocker am Tresentisch, den die Stammkunden nur das heiß umkämpfte ‚Ohr Nummer 1‘ nannten, und meinte: „Na Alter, dann woll‘n wir mal einen auf Glissi trinken. Frau Graf, bitte ein Pils und drei Wodka.“ Die beiden Männer hielten das Schnapsglas, stießen an das dritte Glas in der Tischmitte und raunten „Prost Glissi!“ Elias dachte nach dem Schluck, das kann ja heiter werden, mit einem Toten trinken, das wird uferlos! Deshalb grenzte er es ein: „Lass‘ uns bitte nur den einen heben, Berti. Draußen wartet noch das Leben… oder hast du vergessen, wie sie ihn zu Grabe getragen haben? Mit einer Sense auf dem Sarg. Und seine Geschiedene hat den gut hundert Trauergästen einen Redner übergeholfen, der aus irgendeinem Parteilehrjahr gestammt haben muss. 30 Minuten hörten wir sowas wie ‚Ihr seid schuld! Mit Eurem Lebenswandel habt Ihr ihn aus seinem Leben geschossen!‘. Au, das war heftig! Wer so‘ne Alte hat, der braucht keine Feinde! Bert Poppe nickte: „Zumal es nicht stimmte. Ich werde nie vergessen, wie der hier immer um Mitternacht ankam, seinen Kalender aufschlug und bei einem, höchstens zwei Feierabendbieren den nächsten Tag plante. Für diese Ingenieurbude, die ihm sein Chef im Sterben übergeholfen hatte. Einem Akademie-Physiker, Manno. Der hat sich für die zehn Angestellten aufgeräufelt. Und dann, mit 50 Jahren,  der erste Urlaub nach zehn Jahren in der Neuzeit – und stirbt aufm Berg, beim Wandern. Das ist ungerecht! Prost Glissi!“ Bert bestellte den Zweiten. Als Elias Kühn vor die Tür trat, fegte ein ruppiger Frühjahrssturm Eichenblätter über den Asphalt. Der Mann ließ sich vom Rückenwind heimwärts schieben. Es gab Abende im „Blauen Licht“, die waren heiter, dieser endete pathetisch.

Eine Woche später saß Elias Kühn wieder in der S-Bahn nach Südosten. Er hatte ihre Zeichnungen und seine Episoden dem Verlag übergeben und noch keine Antwort. Es gab also keinen beruflichen Grund Maja Hügel aufzusuchen. Ihre Umarmung hatte sich in seinen Gedanken festgehakt, und dieses Gefühl trieb ihn nach Eichwalde. Unangekündigt. Sie sah ihn überrascht an, als sie die Tür öffnete und ihn mit einer Rose erblickte. Verlegen und ein wenig unsicher, ob er sich hier nicht gleich zum Affen machen würde. Entflammtes Grauhaar sucht – ja, was eigentlich? Die Frau fragte das Gott sei Dank nicht. Sie grinste und kokettierte: „Wusste ich doch, meine Soljanka ist unschlagbar. Nur habe ich leider keine auf dem Herd, bist du auch mit Kaffee zufrieden?“ Sie nahm die Rose und ging voraus. Wenig später saßen sie beim Kaffee, und Maja fragte nach dem Gemeinschaftsprojekt. „Abgegeben, jetzt heißt es wieder warten, aber ich fürchte…, ach, abwarten. Schau mal, ich habe hier noch einen Textfetzen von anno 1992. Es ist aus besagtem unveröffentlichten Roman.“ Wieder las Maja laut:

Bei Kempers brennt noch Licht. Die Runde ist nach Mitternacht größer als sonst und sehr gemischt. Eigentlich wollten Matze und Maria mit ihren zwei Fotografenfreunden nur ihr Ausstellungsprojekt besprechen: „Berliner Szenefotos“. Es war schon ein wenig prickelnd, als Jonas mit frischgeschorenem Kopf in den fortgeschrittenen Abend platzte. Für gewöhnlich zog er sich grußlos mit Ines in sein Zimmer zurück, wenn die Eltern Gäste hatten. Das ganze Geschwafel ging ihm permanent auf den Keks. So vermied er es schon lange vor der Wende, sich Fragen auszusetzen. Fragen von Fremden, ob seines Outfits, die ihm doch nicht zuhörten. Diesmal aber war es anders. Diese Fotos interessierten ihn, und auf dem Tisch standen herrlich frische Salate, wohl temperierter Weißwein und eiskalter Apfelsaft, das machte ihn echt an. Außerdem saß man nicht fest und debattierte wie sonst. Alles war in Bewegung. Nichts konzentrierte sich auf die Personen im Raum, sondern ausschließlich auf die Bildobjekte. Und da war auch Matze. In Jonas tauchten keineswegs freundschaftliche Gefühle auf, aber auch keine Berührungsscheu. Akzeptanz eben. Für Jonas etwas völlig Neues, und er fühlte sich gut dabei. Er sah auf die Fotos und hörte, dass die im Westen nichts galten. „Und warum nicht? Die sind doch echt spitze!“, bemerkt er zu Matzes Aufnahmen. „Was haben die daran auszusetzen?“ „Keine Ahnung. Sie mögen sie halt nicht.“, antwortet Matze.
„Zu sozial-kritisch“, meint einer der Fotografenfreunde. „Aber so ist es doch! Genau das hier, das ist Prenzelberg. Eh, und die Typen dazu! Volltreffer!“, findet Jonas.
„Du sagst es. Wir wollten die Wahrheit, keinen Proletenkult. Eben das echte Leben im Kiez, und sind damit bei den Wessis durchgefallen. Und tschüss! Äm, ja, und deswegen machen wir jetzt eben selbst eine Ausstellung“, erklärt der Linke dem Rechten im erst enttäuschten, dann euphorischen Tonfall. Jonas rutscht auf dem Hintern zwischen den Lebensbildern hin und her, staunt und erfreut sich daran. Schließlich fragt er nach: „Aber sagt mal, das kostet doch alles einen Haufen Kohle! Die Filme, die riesigen Vergrößerungen, der Ausstellungsraum und so. Ihr seid doch alle arbeitslos oder nicht dicke bemittelt. Warum macht ihr das in so einer Situation, denn verdienen kann man damit doch auch nix?“
Maria streicht Jonas sacht über seine Fast-Glatze, zieht die Brauen schelmisch hoch und sagt: „Damit wir spüren, dass wir noch leben, etwas wert sind. Nimmt man einem wohlsituierten Westdeutschen die Kohle, was bleibt dann? Meistens nicht viel, denn andere Werte lassen sie kaum gelten, und das macht sie, wenn du es genau nimmst, unserer Runde gegenüber arm!“
Jonas schaut ungläubig. „Ist das der neue Ossi-Stolz als Schutz gegen die satten Westler?“ Matze nippt kurz an seiner Weinschorle und schaut dem Fragenden ruhig ins offene Gesicht: „Nein, nicht gegen jemanden, Jonas. Für uns selbst und als unaufdringliches Angebot für andere. Einfach so.“

 „Hm, das war damals das Neue“, resümierte Maja. „Abgelehnt zu werden hieß nun nicht mehr – vollkommen verhindert. Man konnte ja selbst agieren und machte stattdessen keinen Urlaub. Nur da begann auch der Rückzug ins Kleinformat. Denn wie man an öffentliche Fördertöpfe gelangt, war uns damals noch ein Buch mit sieben Siegeln, und die westdeutschen Kollegen beschützten ihre Futterquellen mit Bedacht… Ich kann mich an eine Ausstellung in einem Berliner ABM-Medien-Club in der Torstraße erinnern, da habe ich, weil das Geld für Bilderseile aus Perlon fehlte, Schnur aus dem Baumarkt weiß bepinselt. Es ging, aber überall war zu spüren, wie arm wir waren, und dass dieser Umstand uns daran hinderte, über unseren engen Lebenskreis hinaus zu wirken. Es entstand eine Art Trotzstolz.“ …

W wie Wende,

Klausur-Schnipsel zum Wochenende

…„Weil die Chancen ungleich sind. Vor allem für Intellektuelle und Bildende Künstler. Für satte zwei Generationen. Selbst Filme über die DDR-Zeit drehen nicht Ostdeutsche, ausgenommen natürlich Andreas Dresen mit seinen Filmperlen. Diese von Westdeutschen nacherzählten Geschichten sind selten stimmig und stecken voller Unterstellungen. Noch leben Menschen, die mit ihrem Wissen jene neuen Erzählungen stören könnten. Was für ein Wahnsinn, aber die biologische Lösung ist schon in Sicht. Für die Jüngeren wird es inzwischen besser, ich hingegen habe mich 30 Jahre lang wie jemand aus der Schattenelite gefühlt, nicht zugehörig und ungesehen. Immer nur klein-klein und regional. Miniauflagen mit Kleinverlegern, die Erlöse ein Witz…“ Elias drehte das Glas, als wollte er den Goldrand abreiben. Er wirkte auf einmal alt und mürrisch.
Maja dachte sich, so sieht Verletzung aus. Sie stand auf, nahm ihm das Glas ab, zog ihn hoch und umarmte ihn, wie man schützend einen Freund in den Arm nimmt. „Ich weiß doch, es erging mir nicht anders, aber ich habe das Klagen inzwischen aufgegeben. Es ändert nichts, und die Zeit lässt sich nicht für uns korrigieren. Nur, wenn dann manch Zugezogener medial wirksam fragt, wann man ihn endlich als Ostdeutschen betrachtet, bin ich angefressen. Neulich hat sich doch wirklich einer entblödet, dass im Zusammenhang mit einer Studie zu fragen. Diese Studie besagt, dass nur 5 Prozent der Ostdeutschen bisher in Führungspositionen gelangt seien. Beides macht mich ärgerlich: Der Fakt an sich, und dass da einer glaubt, er überschreibt durch seinen Zuzug die mageren Zustände. Aber Hallo! Durch Zuzug bekommen die im Osten plötzlich höhere Renten? Das ist eine Denke, die ist so dreist, ach, ich will mich nicht in Rage reden.“ Sie setzten sich wieder und tranken die Neigen langsam aus. Doch etwas war plötzlich anders, sie hatten sich berührt.

Auf der Rückfahrt in die Stadt spürte er sie noch, ihre Umarmung. Ihm war seltsam aufgewühlt zumute. Er konnte sich nicht erinnern, in den vergangenen Jahren einem Menschen begegnet zu sein, der ihm urplötzlich so nah war. Sie wusste, woher er kam, verstand seine Verletzungen, seine Müdigkeit. Nein, sie waren nicht Gleiche, aber schaffensverwandt. Oder war es mehr als das? Elias Kühn wollte es nicht weiter bedenken. Als die Bahn den Grünauer Forst mit seinem abendlichen Schneeleuchten verließ, zog er seinen „Spiegel“ aus der Manteltasche und überflog die Themen der Seiten, ohne sich zu vertiefen…

A – wie Anfag oder Abgang.

In der vierten Klausurwoche

Morgenstunde (774. Blog-Notat):

Endlich milder draußen. Neben der Schreiberei kann ich wieder täglich etwas im Garten arbeiten. Letzte Blätter aufnehmen und unter die Sträucher geben, als wasserspeichernde Drainage, hoffe ich. Später kommt Grünschnitt obendrauf und dann rüsselt wieder der Dachs… ☹. Alle bewusst angelegte Blätterteppiche durchstöbert er regelmäßig und zieht die Anhäufungen in die Breite. Ich versuche es zuzulassen…und greife zum Laubbesen 😊.

Hier der nächste Klausur-Schnipsel zu „Die verlorene Geschichte“:

… Er fuhr mit der S-Bahn nach Eichwalde, um dort Maja Hügel in ihrem Häuschen zu treffen. Sie hatte einen erneuten Aufstieg unters Stadtdach rigoros abgelehnt und lockte stattdessen mit einer scharfen Soljanka. Hinter Grünau durchzog die Bahn ein großes Waldgebiet, fünf Minuten lang nur schneegepuderte Kiefernstämme. Elias spürte im flackernden Licht das Zurücklassen der Stadt. Viel zu selten gönnte er sich eine Auszeit im Grünen. Stets und ständig hatte er einen Berg Arbeit vor sich, und keinen, der ihn in den Feierabend einlud. Mit diesem Lebensstil hatte er über die Jahre alle Freundinnen sehr schnell verschreckt, was ihn nicht mehr verwunderte. Seinen natürlichen Charme hatte der schlanke Mann darüber nicht verloren. Er war ein unverbesserlicher Workaholic und hatte mit den Jahren sein Interesse an Frauen verloren. Vor dem Bahnhof wartete Maja. „Es sind nur ein paar Schritte, dann bist du gleich wieder in Berlin.“ Elias hob fragend die Brauen. „Na, Eichwalde und Köpenick sind mit der Zeit zusammengewachsen. Was hier von der Waldstraße links liegt ist Brandenburg, und was rechts abgeht ist Berlin.“ Maja Hügel war nach ihrer Scheidung Anfang der 90er in das Häuschen der Mutter gezogen. Man könnte sagen, sie war dorthin geflohen. Denn seit ihre
beiden Künstlerleben mit der Wende wirtschaftlich eskalierten, schlug der Mann plötzlich zu. Sie wollte und konnte ihn nicht mehr durch die Zeit tragen. Unter dem mütterlichen Schutz gelang ihr ein Neuanfang, sogar ein Studium an der Hochschule der Künste absolvierte die bis dahin ungelernte Zeichnerin noch.

Elias sah sich in dem winzigen Häuschen mit Garten um. Hinter der gelb getünchten kuschligen Wohnküche mit Aufstieg zur Schlafmansarde öffnete sich der größte Raum hell und weit. Regale, ein Zeichenschrank und meterlange Arbeitsplatten vor der hausbreiten Fensterfront. Alles wirkte klar und aufgeräumt, aber das war es nicht. Die Blättertürme, die von uferloser Arbeit zeugten, kamen ihm irgendwie bekannt vor. Lächelnd fragte er Maja beiläufig „Hast du schon mal eine Geschichte verloren?“ „Eine? Hunderte,“ erwiderte sie und grinste. „Meinen wir das Gleiche?“ „Wer weiß das schon.“

Beim Essen erfuhr Maja, wie es beruflich mit ihm weiterging. Er hatte im Sommer 1989 gerade sein Journalistik-Studium abgeschlossen und eine Stelle in der „Jungen Welt“ bekommen. Doch schon 1990 wurden die Reihen ausgedünnt und ganze Redaktionen des Verlages geschlossen oder verkauft. Elias Kühn wurde entlassen, und somit wusste er, sein Studienabschluss würde bald nichts mehr wert sein. Also begann er zum Wintersemester Germanistik an der FU Berlin zu studieren und nebenher freiberuflich zu schreiben, und dabei war es geblieben. Und Frauen? Gab es – und auch wieder nicht.

Er sah sich Majas neue Entwürfe an, als sie aus der Küche heiter rief: „Roten oder Weißen?“ Aber da kam sie schon mit zwei Schoppen und ließ ihn wählen. Er also rot, sie weiß. Nun versank jeder in einem gemütlichen Ohrensessel, zwischen ihnen ein Teetischchen mit ziselierter Messingplatte, als sie fragte: „Was für eine Geschichte hast du denn verloren?“ „Wenn ich das wüsste,“ antwortete Elias, „es treibt mich seit Wochen um, je länger ich krame, kommen Geschichten zum Vorschein, von denen ich fast vergessen hatte, dass ich sie jemals geschrieben habe. Zu dicht ist die Zeit, sie überschreibt sich andauernd, verstehst du?“ Sie nickte nur stumm und trank. Er fingerte in seiner Innentasche und holte ein gefaltetes Blatt hervor. „Zum Beispiel sowas. Der Text ist aus dem Jahr 1992 und stammt aus einem Roman, den damals keiner haben wollte. Aber da sind Passagen wie diese drin, die mir die Erinnerung erwachen lässt. Sie nahm die Seite und las laut vor:

… Alles, was zweieinhalb Jahre im Osten Deutschlands in der Schwebe blieb, gleicht einem Trauma, das die Menschen mürbe machte. Die Tatsache, mehr Abstiegs- als Aufstiegschancen zu haben, bricht in diesem Frühjahr 1992 endgültig auf. Zum Jahreswechsel waren rund fünf Millionen Menschen ihre vertraute Arbeit oder Perspektive los. Die Statistiken schönen die Realität wenig geschickt. Man unterlässt es tunlichst, Umschüler, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Vorruheständler, Jugendliche ohne Lehrstelle, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose zusammenzuzählen. Aber die Verhältnisse explodieren. Wären die Deutschen nicht von Grund auf so ungeheuer fügsam, es reichte ein Zündholz und der Sozialknall wäre da. Stattdessen wächst in Ost und West der Hass aufeinander, und der Frust auf die Fremden, als “die alles verursachenden Sündenböcke“. Nichts daran ist neu. Auch die zugrundeliegenden Irrtümer nicht, und auch nicht die Sorglosigkeit der Mächtigen. Dennoch, junge Leute wittern klarer, was in der Luft liegt. Aber bei denen, die nicht über den Nebenmenschen nachdenken, muss das Unrecht erst in die eigene Familie oder den Freundeskreis einschlagen, bevor sie erwachen. Die Frage: Was kann man tun? beantworten die meisten Ostdeutschen erst aus der Rückenlage. Es ist eine dumpfe Wehr, eine ohnmächtige, auch feige, die unterschwellig, doch latent nur nach geordneten, gleichberechtigt-satt-deutsch-stolzen Verhältnissen ruft. Vergessen, was war, woher sie kamen, die Erinnerungen gelöscht, freiwillig oder dazu genötigt nach der Wende. Was bleibt ist eine Tabula-Rasa-Situation. Zurückgeworfen auf einen Null-Punkt, füllt sich bei vielen Ostdeutschen die innere Leere zu etwas braunem. Bei Jungen, auch Alten. Die etablierten Politiker geringschätzen diesen Trend noch als ein Jugendsyndrom. Aber die einst isolierten Rechten Lebenszellen haben sich jahrelang gegen die Intervention der Gesellschaft resistent gemacht. Jetzt assimilieren sie mit ihr, wo deren Werte angeschlagen sind. Wer kennt einen Arzt?

Die zersplitterten Jungen Linken in der Stadt sind depressiv. Ihre Vision ist zerpflückt und verdorben. Sie sind verlassene Rufer im Wind. Ausgegrenzt durch die Umkehr der Verhältnisse, Mut- und Fantasielosigkeit, wiewohl durch ihre eigene intolerante Arroganz. Ein Teil von jenen schlägt mit Rollkommandos gegen die Rechten Aktionen zurück. Das Ost-Volk hält verstört die Fenster geschlossen, und fast jeder Zweite steigt in ärmere Gefilde ab. Und so geht die Angst um…“

„Ui“, pustete Maja nach. „Es war einmal und ist wieder so. Nun, nicht ganz so, aber tendenziell. Der dunkle Osten, oder wie Bundespräsident Gauck mal meinte ‚Dunkeldeutschland‘. Mann, war ich darüber sauer.“ Sie kippte den Schoppen hinter, als wollte sie etwas wegspülen, und schenkte sich nach. Maja grummelte: „Warum reden eigentlich immer alle von dem Osten, als wäre er ein einheitliches Ganzes? Es gib nicht DEN Osten. Zu jeder Zeit gab es hier die verschiedensten Spielfelder und Nischen. Leben, die nichts verband, außer der Verortung. Deine Situationsschilderung dieser Zeit stimmt, aber was ist mit jedem Ersten gewesen? Wir saßen nur auf jenen Inseln im Osten, die mit der Einheit keiner mehr brauchte oder wollte. Es gab auch die anderen, die fast nahtlos weiterlebten und sich was schaffen konnten, die Handwerker, die Beamten, die meisten Lehrer, selbst die Berufssoldaten. Sie alle verstehen schon lange nicht mehr, weshalb wir noch jaulen.“ …

V – wie Veränderung…

Klausur-Schnipsel

Morgenstunde ( 773. Blog-Notat)

Er hats wahr gemacht, der singende, spielende, spöttelnde Micha vom Wentowsee. Er kam gestern zum Abendbrot mit einer Kiste Wein. Und was für eine Kiste: 12 Flaschen! Ui, jede Menge „Klausur-Stoff“, der reicht  ’ne Weile 😊. Mir wars fast peinlich, aber er meinte: „Versprochen, ist versprochen.“ In den drei Abendstunden hat jeder von seinen Zukunftsprojekten erzählt, davon stecken noch reichlich im Beutel, wenn auch vielleicht ein wenig mehr heimisch verortet. Will sagen, es sind zumeist Zu-Hause-Produktionen, denn wir schliddern in ein Alter, in dem die Jüngeren längst unsere Plätze eingenommen haben. Klar. Ja, es ist schade, aber der Lauf der Dinge und ich habe ja meinen Blog, über den ich immer publizieren kann, wenn er denn gefunden wird…

Hier das nächste Klausur-Stück zu „Die verlorene Geschichte“:

… Während er versuchte sich und die Wohnung aufzuräumen, dachte er an das absurde Theater auf der Spree, bei dem er ihr kurz begegnet war. Die Verlagsleitung ahnte wohl, dass nur wenige zu einem abendlichen Festakt kommen würden. 40 Jahre DDR – überall brodelte es und die Debatten in den Redaktionen wurden ruppig. Da entschieden die Genossen, die beiden Kinder- und Jugendverlage über die Mittagszeit zu einer Dampferfahrt zu laden. Kneipe ohne Fluchtweg. Die Stimmung war gereizt, denn natürlich fühlten sich die Mitarbeiter genötigt, und die Tatsache, dass besonders viel wertloses Anerkennungslametta verteilt wurde, machte die Aktion noch schriller. Die Leute fühlten sich verarscht und begannen diese seltsame Dampferfahrt für ihre Zwecke zu nutzen. Gewöhnlich hatten der Verlag Neues Leben und der Verlag Junge Welt nicht viel miteinander zu schaffen. Jetzt schmiedete man auf zwei Schiffsebenen Zukunftsprojekte, die manchem später weiterhalfen. In einer stillen Nische erzählte Maja Hügel von den Ideen des Neuen Forums, wissend, dass natürlich auch Spitzel unter den Kollegen waren. Diese Courage beeindruckte ihn. Gut 30 Jahre später sah er sie im „Blauen Licht“. Die kleine Bürgerrechtler-Runde kam von Werner Schulz‘ Beerdigung. Grau und geschrumpft, aber Elias erkannte Maja sofort, und so kam es zu dieser beruflichen Verabredung.

Er hatte lange keine Frau mehr zu Gast. Der Mann wuselte fahrig von einer Ecke in die nächste. Wo anfangen, wo aufhören? Rumpelig und staubig war es überall. Nur der dunkle Schreibtisch glänzte geputzt von seinen Pulloverärmeln. Dorthin stellte er nun seine Stehlampe und platziere zwei Gründerzeitstühle in deren Lichtkreis. Draußen dämmerte es, und somit versank der Rest der Wohnung gnädig in mattem Dunkel. Alles eine Frage der Beleuchtung, dachte er zufrieden, als es klingelte.
Maja Hügel hatte noch die Winterkälte in den roten Wangen und schnaufte schwer vom Treppensteigen: „Dass immer noch so viele Leute im vierten Stock ohne Fahrstuhl hausen müssen. Diese hohen Stufen laufe ich nur noch einmal runter und nie wieder rauf.“ Er nahm ihr den Mantel ab und sprach mit einem leicht beleidigten Tonfall: „Wäre aber schade. Kaffee oder Tee?“ „Kaffee. Danke.“ Elias Kühn wies ihr mit der Hand den Platz unter der Stehlampe zu und verschwand in der Küche. Während er die Kaffeemaschine zum Laufen brachte, ließ sich Maja auf einen der Stühle fallen und schnaufte immer noch. „So ein tägliches Treppentraining ersetzt jedes Fitnessstudio“, kommentierte er ihre Atemlosigkeit. Sie waren etwa gleichaltrig, aber er war fitter. Während des Kaffeetrinkens sammelte sie sich und hob ernst an: „Also, deine Episoden sind gut, doch so sarkastisch geschrieben, dass mir, ehrlich gesagt, beim Lesen das Lachen verging. Sie lassen mir keinen Spielraum, um dazu eine pointierte Kari zu erfinden.“ Maja machte eine winzige Sprechpause, in der er enttäuscht in seinen Kaffee starrte. Doch ihr „Aber“ richtete seinen Blick wieder auf, und er sah, wie sie in ihrer gewaltigen Tasche kramte und einen Skizzenblock hervorzog. „Was hältst du von symbolträchtigen Initialen, in denen die Deutungshoheit dem Leser überlassen wird? Ein Anstoß für eigene Gedanken, wenn du verstehst.“ Er blickte auf dieses verschnörkelte „D“, in dem etwas zusammenfloss, sich verknotete und wieder auseinanderdriftete. „Oh, das ist aber spannend! Es könnte einfach ein schmückendes Initial sein, aber auch als Symbol für Deutschland stehen, für den Wandel, das Zusammenkommen und Entfremden, für die ewige Veränderung…“ Er nickte zustimmend und strich mit den Fingern vorsichtig über die Zeichnung. „Und schön ist es obendrein, dein sinnreiches D.“ Jetzt lächelte sie. Maja hatte sich den Kopf zerbrochen. Die Episoden aus dreißig Lebensjahren in der DDR und dreißig im wiedervereinten Deutschland sahen mit scharfem Blick auf diese Zeiten, und sie spiegelten irgendwie auch ihr welliges Lebensland wider. Das war ihr in der Vergangenheit kaum untergekommen. In diesen Zeilen hatte Elias ein menschliches Gebäude aufgetürmt, das ein Beben überstanden hatte und weiter auf Brüchen wuchs. Sie wollte unbedingt dafür etwas Passendes erfinden, und nun gefiel ihm diese Idee. Da saßen plötzlich zwei Verbündete…

In der dritten Klausurwoche

Morgenstunde ( 772. Blog-Notat)

Es geht nur sehr langsam vorwärts. Jeden Tag nicht mehr als 20, 25 Zeilen. Immer wieder nachdenken, wird das auch gut erzählt? Ist es nicht zu schwer… Putzt es den „blinden Fleck“ unter dem so viele im Osten leben und lebten? Ich bin nicht sicher, taste mich voran. Das Versenken in jene Zeit kostet Energie und dann ist heute plötzlich der Himmel aufgerissen, man möchte draußen sein, aber für mich ist es zu eisig.

Die nächsten Zeilen zur Geschichte:

…Immer noch diese mangelnde Empathie, dachte Elias, der den Wortwechsel gehört hatte. Der Mann, der da dem Düsseldorfer Produzenten kurz in die Parade fuhr, hatte 1992 sein Referendariat in Saarbrücken gemacht. Jörg Goldmann hörte täglich, wie dort die Lehrerkollegen über die unterbelichteten Ossis herzogen. In ihrer Wertigkeitsskala standen die nur knapp über den Flüchtlingen. Da war er wieder, der „Herrenmensch“, der aburteilte, Kraft seiner Wassersuppe. Eines Tages wurde der Referendar Goldmann von einem Kollegen befragt, warum sein Englisch so dürftig sei, woraufhin er antwortete: „Mein Russisch ist besser.“ Der Kollege sprach nie wieder ein Wort mit dem enttarnten Ostdeutschen. Aber dieser kalte Krieger war wenigstens zu Hause geblieben, andere kalte Krieger gingen mit Buschprämie in den Osten, führten sich wie Besatzer auf und evaluierten oder kauften sich die Aufstiegswege frei. Natürlich gab es auch andere, freundliche, zugewandte neue Nachbarn, nur die fielen nicht so auf. Denn tendenziell glich dieser Aufbruch gen Osten einer lauten, aber unblutigen Landnahme. Die Besiegten schickte man zum Arbeitsamt oder in den vorzeitigen Ruhestand. Diese Landnahmen kamen und kommen in Wellen immer wieder. Im hippen Berliner Prenzlauer Berg verschwanden zuerst die Alten. Aus dem avantgardistischen Kiez wurde nach und nach ein teures gutbürgerliches Wohnviertel. Künstler und weniger Betuchte zogen in den 2000er Jahren in die Platte am Stadtrand oder gleich aufs Land. Aber auch dort sind sie nicht sicher. Denn den permanenten Umbau der Lebensverhältnisse regelt das Geld, und das muss hecken… Elias Kühn zahlte. Er hatte genug Wein und genug von diesen Gedanken.

Am späten Vormittag erwachte er eingerollt unter der Sofadecke. In den Ohren das Rauschen der Erinnerung. Nicht an den gestrigen Abend. Er hatte wieder von ihm geträumt. Wie er da hing in seiner Scheune. Unter seinen Füßen eine leere Flasche Korn und seine Lebenszeugnisse: Der Abi-Abschluss aus dem Jahr 1960, sein Diplom als ML-Lehrer, Arbeitsverträge und diese eine Kündigung. Allesamt rot durchstrichen. Kein weiteres Wort. Einfach nichts. Der Vater hatte sich für den Abgang aus seiner Geschichte entschieden. Das neue Leben hatte er erst gar nicht versucht. Als im Fernseher die jubelnden Menschen auf der Mauer sah, hat er sich einen großen Weinbrand eingeschenkt und gemeint: „Das wars.“ Der Glanz verschwand aus seinen Augen, sie waren schlagartig leer. Ein Jahr später, exakt am 9. November 1990, nahm er sich den Strick. Der Anblick jagt seither als Schauer durch seine schlechten Träume, vor allem, wenn er zu viel Rotwein hatte. Du darfst dich nicht so gehen lassen, Kühn, schimpfte er innerlich. Mit Klamotten nächtigen. Man, geht gar nicht!
Der frühe Tod des Vaters und der seltsame Wandel der Stiefmutter, die 1991 vom FDJ-Zentralrat direkt in ein Brandenburger Finanzamt wechselte, hatten in ihm einen unbändigen Freiheitswillen ausgelöst. Er ertrug einfach solche Sprüche nicht, wie die seines Germanistik-Profs: „Ach, Sie kommen von daher, wo gleich das Licht ausgeht.“ Elias Kühn wollte sich sehr bald nicht mehr von jedem, der von der anderen Seite der Elbe kam, anpinkeln lassen, und so wurde er freier Journalist und Sachbuchautor und hielt sich mit seiner Schreiberei einigermaßen über Wasser.

Zerknirscht von der Nacht ließ er sich ein Vollbad ein.
Im warmen Wasser entspannte er sich langsam, aber er spürte etwas, was sich lange schon auf seine nackte Winterhaut gelegt hatte und sich nicht wegspülen ließ: Einsamkeit. Der Mann fühlte sich zurückgelassen. Die meisten Ostdeutschen meinten, wenn sie von Freiheit redeten, wohl eher Reisen und Wohlstand. Das hatte er irgendwie anders verstanden. Freiheit war für ihn immer auch Wagnis, denn wer unangepasst leben wollte, der musste es auch verantworten. Wohlstand war nicht seine Realität. Er hatte schwer damit zu schaffen, nicht unterzugehen, denn es gab einfach keinen gewachsenen Beistand. Im Grunde waren alle, die er aus dem abgewickelten Land kannte, verschwunden.  Im Westen, oder in den neu zu schaffenden Institutionen abgetaucht: den Arbeitsämtern, den Krankenkassen, dem Bafög-Amt… geduckt in Sicherheit. Ja, er hatte im Blauen Licht mit der Zeit eine Ersatzfamilie gefunden. Einen wilden Menschenmix. Aber niemand von diesen Leuten hatte zusammen mit ihm vor der Abi-Prüfung gezittert, die erste Fete gefeiert, im Singeklub gemeinsam geträllert oder Trauer durchlitten, wenn schon wieder einer abgehauen war. Keiner von denen war bei ihm und erinnerte sich noch daran, wie es war an seiner Seite, woran sie damals glaubten und an was sie nicht mehr glaubten. Er war müde von den vielen Erklärungsversuchen bei Ost-West-Begegnungen. Man verstand einander nicht. Er hatte einst bei Diego Viga gelesen: „…einmal Gedachtes kann niemals ungedacht werden, was eingegangen ist in den Menschengeist, wirkt fort…“ Das war ihm Trost. „Aber irgendwie verschwindet es schon“, murmelte der Mann und blies in den Seifenschaum, so dass der flockte und zerplatzte. Es fiel ihm schwer sich aus der Nachdenklichkeit zu erheben, doch er musste, denn er hatte eine Verabredung mit Maja, die ihm Illustrationen zeigen wollte…

Foto: Lutz Reinhardt

KLAUSUR 2023

Das 1. Klausurstück:

Die verlorene Geschichte

Der Traum war greifbar. Elias Kühn wälzte sich verstört durch seine Bettlandschaft. Er war sich ganz gewiss, dass diese Geschichte, die eben noch seinen Traum berührte, irgendwo vergessen auf seinem Schreibtisch lag. Eine abgelegte Geschichte. Aber warum? Noch war ihm so, als müsste er nur tief genug in dem Stapel loser Blätter kramen, dann würde er sie wiederfinden. Worum ging es doch gleich? Der Traum hatte ihn mit einer Zeile verlassen, einer Zeile, die diese Geschichte vervollständigen würde. Aber sie war flüchtig, und der Zettel für Nachtgedanken auf dem Tisch neben dem Bett war leer. Das gibt es doch nicht, so eine wunderbare Zeile war das. Er spürte sie noch, aber wie lautete sie doch gleich? Ähm, er raufte sich die Haare und grübelte: irgendwas mit VERÄNDERUNG. Oh je, dachte Elias Kühn, VERÄNDERUNG konnte so vieles bedeuten. Wo anfangen, wo aufhören? In seinen 60 Lebensjahren hatte sich andauernd etwas verändert, und meistens war dieser Wandel nicht Verbesserung, sondern meist nur schriller, lauter, greller. Er kam aus der grauen Zeit, und heute spürte er, es waren seine goldenen Jahre. Ob seine Geschichte in jenen Tagen spielte? Doch wo war sie? Er schlurfte zu seinem großen Schreibtisch, der seit Einzug des Computers nur noch als Ablage diente, so gewaltig, dass sie mit dem Turmbau zu Babel durchaus mithalten konnte. Davor stand er nun und wuchtete die Stapel umgedreht vom Tisch auf den Fußboden und nahm mit dem ältesten das erste Blatt und las:

2. Januar 1979. Meine Goldfische sind erfroren. Alle. Auch die Guppys. Mutter hat das Aquarium vor die Haustür getragen und umgedreht, da rutschte der Inhalt als Eisblock in den Schnee. Sah schön aus, ist aber traurig. Als wir aus den Bergen zurückkehrten, waren die Wasserleitungen zugefroren und das Klo geborsten. Vor unserer Haustür lag eine mannshohe Schneewehe. Mutter und ich schippten mit knurrendem Magen, denn wir hatten eine 16stündige, verpflegungslose Heimfahrt hinter uns. Es dauerte, bis das Holzfeuer im Küchenofen den Raum erwärmte und Mutter eine Schneewasserbrühe mit eingeschlagenem Ei kochte, die besänftigte das Knurren…

Elias Kühn schmunzelte in seinen Graubart, er hatte schon als Junge alles und jedes aufgeschrieben und dabei gelernt, die Worte zu setzen. Und ja, das war der verrückteste Winter, den er jemals erlebte. Die Küstenorte waren wochenlang eingeschneit, es gab Tote, und in der Kohle liefen die Bagger heiß. Aber das war nicht die gesuchte Geschichte, und deshalb legte er das Stapelblatt zurück auf den großen Schreibtisch, um nach dem zweiten Blatt zu greifen.

Ein flammendes Liebesgedicht. Liebeshunger sprang aus diesen Zeilen. Ein wildes Beben. Ach herrje, dachte der Mann; der Herzschmerz eines Pubertiers. Fast war es ihm peinlich, dieses Gefühlschaos zu überfliegen. Aber dann fand er, weiter unten, diese kleine Geschichte.

Die roten Schuhe

Sie konnte Stiefeltrinken. Halleluja! Besser als die gesamte Fußball-Clique, die in der Kneipe „Zur Mühle“ immer samstags abfeierte, während im großen Saal die Disko aufheizte. Annelie stolzierte in ihren knallroten Clocks an der Tresenriege vorbei und rief dem Kneiper zu „Durst! Ein Potsdamer, bitte!“. Sie schwang sich in ihren hautengen Jeans auf einen Barhocker und warf ihr hüftlanges Weißhaar über die Schulter. Alle Augen berührten die Schöne. „Du kannst auch beim Stiefelsaufen mitmachen“, lud sie Eberhard, der Trainer ein, aber der erntete nur einen verächtlichen Augenaufschlag. Annelie war sich ihrer Wirkung durchaus bewusst, doch nie und nimmer würde sie sich mit einem Fußballer abgeben. Sie trank zügig ihr Bier-Fanta-Gemisch und wollte schon wieder zum Tanzen zurück, als sie der lange Jan anstachelte: „Du traust dich bloß nicht, Zuckerpuppe!“ Da hatte er was gesagt! Sie griff demonstrativ nach dem fast leeren Stiefel. Jan stellte noch klar: „Schwappt das Bier aus dem Schaft, zahlste die nächste Runde, und der Letzte vor dem Leertrinker muss einen Schnaps auf Ex schlucken. Alles klar?“ Annelie nickte und setzte die Neige an. Geschickt drehte sie das Bierglas ganz gleichmäßig und hielt so den Unterdruck im Fußbereich des Glases. Aber der Schluck war zu groß, sie musste absetzen und dass bedeutete: doppelter Wodka. Wie viele es wurden hatte schlussendlich nur der Wirt gezählt. Irgendwann waren alle entschwunden in die Sonnabendnacht. Ich schaffte es nur bis in den nächsten frisch gemähten Straßengraben. Als ich dort Sonntag früh erwachte schlich ich leichenblass nach Hause. Vor der Kirche standen zwei rote Schuhe. Ihre Schuhe! Fein säuberlich, wie vor ein Bett gestellt. Hier wird sie doch keiner klauen, dachte sich die betrunkene Schöne als letztes, und dann rannte sie barfuß heimwärts durch die Nacht. Der stille Verehrer trug sie ihr stillschweigend hinterher und stellte die Schuhe unbemerkt vor die Tür.

Ach, jung sein ist schwer – und so ungewiss. Wie schön wir waren, sahen wir erst später, auf den alten Fotos. Um nichts in der Welt wollte Elias Kühn noch einmal jung sein, und heutzutage schien ihm das noch weniger erstrebenswert. Dieser altkluge und genormte Moralismus, den die Jungen kompromisslos flaggen, für ihn unerträglich. Und die paar Schrillen daneben konnte er nicht ernstnehmen. Immer im Daueralarm, als würde ihnen gleich das letzte Stündchen schlagen. Was ist los mit dieser Zeit? Ausgeplündert, geheimnislos, am Ende aller Ziele? Bestimmt nicht. Er wünschte sich, die jugendliche Empörung würde sich in gestaltende Energie verwandeln, aber sie mündet immer nur im Nebel des Vergessens und dekadenter Langeweile.

Seine Gedanken wurden plötzlich schwer. Wie jäh auf wilde Aufbrüche entwürdigende Niedergänge folgen und die Protagonisten nur noch zu Zeitschatten werden. Kaum ein Blinzeln der Zeit dazwischen. Der Mann atmete tief. Auf das dunkelglänzende Holz seines Schreibtisches fiel spärliches Licht. Vorzeiten war das die Stunde der Großmuttergespräche in den Schulferien. Beschützt vom Dämmerlicht waren all seine kindlichen Fragen möglich. Kein Augenkontakt. Die Stille des Raums hörte ihn sagen: „Oma, gibt es einen Gott?“ und sie: „Ich weiß es nicht.“ Die Antwort der Kirchgängerin verblüffte ihn, und seither ahnte er, die Dämmerung ist das Portal zu den großen Rätseln und wundersamen Geschichten. Doch diese frühen Episoden von den welken Stapeln waren es nicht, nach denen er suchte, sie hatten es in keines seiner Bücher geschafft, er behielt sie nur aus Sentimentalität. Elias Kühn überlegte kurz, ob er sie nun endlich entsorgen sollte, doch dann wuchtete er die Stapel zurück auf das alte Möbel und entschloss sich in eine Wirtschaft zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Loslassen, sonst kreiselst du nur, sagte er sich, während er den Kragen hochschlug und in die Winterkälte trat.

Als er die Tür zum „Blauen Licht“ öffnete, schien die Wirtschaft dahinter zu dampfen. Der Abend war noch jung, aber die erste Gästerunde schien schon gut abgefüllt und tönte laut. Die Mädchenschicht, die hier am frühen Abend bediente, meist Studentinnen, kassierte höflich ab. Während die Belegschaft wechselte, torkelten die angetrunkenen Pärchen, die gleich nach ihrem Wochenendeinkauf mitsamt ihren Tüten hier hängen geblieben waren, nach Hause. Ihnen folgten Stunde um Stunde andere Falter nach. Jetzt hatten die Einzelgänger ihren leisen Auftritt, die gehen würden, wenn die Kino- und Theatergänger und die Freiberufler kamen. Ihnen folgten zur Mitternacht die harten Trinker und die Kiffer. Schichten, die sich nie begegneten oder nur streiften, obwohl sie ein- und dieselbe Kneipe besuchten. Elias Kühn kannte sie alle, denn er betrieb hier gerne beim Schoppen Roten seine Milieustudien. Aber heute suchte er einfach einen zum Reden. Er stand noch neben der Tür, bis sich die Szene entleerte und nur einen Menschen zurückließ, und eben der war der Richtige. Der Traumwanderer. Wolf starrte in den Schaum seines frischgezapften Bieres, als wollte er darin etwas Geheimes lesen, eine Botschaft oder was auch immer. Als er aufsah und Elias entdeckte, klarte sein Blick auf und er winkte ihn zu sich. „N‘abend.“  „Lange nicht gesehen“, begrüßtes ihn Elias Kühn und nahm ihm gegenüber Platz. „Wo hast du gesteckt? Hattest du den Schlüssel in deinem Bücherkabuff verlegt?“ Für Elias war der belesene Mann eine unermessliche Quelle zu seltenen Bücherschätzen, die er hortete, kaum dass er unter ihnen noch einen Lebensplatz fand. Wolfs müde Augen begannen hinter seiner Nickelbrille zu leuchten: „Nein. Ich hatte in Sachsen-Anhalt eine Orgel zu reparieren. Das war…“ Er wurde von der Wirtin Frau Graf unterbrochen. „Schoppen Roten?“ Sie blinzelte Elias Kühn dazu an, wie sie alle Männer anzwinkerte, die in ihr Beuteschema passten. Elias wusste, er würde irgendwann darauf zurückkommen, wenn er in Not wäre, heute nicht. Er bestätigte den Schoppen nur mit einem Nicken und sah wieder zu Wolf: „Hast du schon mal eine Geschichte verloren? Weiß du, ich bin mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob ich diese Geschichte überhaut geschrieben oder nur geträumt habe.“
„Worum ging es darin?“ „Ich habe keinen Schimmer mehr.“ Wolf wippte seinen Zopfkopf, wie immer, wenn ihm eine bedenkliche Situation vertraut war, und sagte dann: „Ja, ja – die Wahr-Träume sind wie Kobolde. Es gibt da in Mannheim einen Schlafexperten, der meint: Wenn wir träumen, denken wir, dass wir wach sind und man müsse deshalb die Realität checken. Genauer gesagt: den Inhalt abklopfen.“ „Na fein“, murmelte Elias, „der ist vollkommen flüchtig, aber es ging um irgendeine Veränderung, glaube ich.“ Selbst darin war sich der Mann nicht sicher. „Mann, bist du nicht alt genug, um einfach darauf zu verzichten?“ „Es geht nicht,“ antwortete der graue Schreiber, „diese verschwundene Geschichte blockiert mich. Sie ist wie eine Warnung: Schau genau hin, diese Veränderung könnte dir gefährlich werden. Etwas in der Art.“ Wolf murmelte: „Steckt nicht in jeder Veränderung so eine Warnung, eine unbestimmte Furcht, aber doch auch der beflügelnde Mut des Aufbruchs? Sie bedingen einander, fließen zueinander, miteinander…“ „Schon, schon, aber, was bleibt am Ende wie auch am Anfang? Ein Verlust. Er gehört zum Wandel, wie der Tag zur Nacht. Weißt du noch, wozu wir 1989 aufgebrochen waren, wir Träumer, und was daraus wurde? Kein neues Land, nur ein größeres, mit Heerscharen von enterbten Kostgängern. Sowas brennt sich tief ein. Mir ist manchmal so, als hörte ich seither wirklich das Gras wachsen im politischen Stimmengewirr, als sehe ich vom Rand aus haarscharf ins Zentrum der Kampfzone. Weißt du was ich meine?“ Der Zopfmann blickte nickend in sein leeres Glas und nuschelte: „Menschlicher Seismograph.“ Er bestellte bei Frau Graf die nächste Getränkerunde, während Elias weitersprach: „Hm, ein Gespür für das atmosphärische Bioklima. Es geht um Teilhabe, Lebensglück, Akzeptanz, Stolz, Wohlbefinden…, es ist, als würde nach solchen gesellschaftlichen Beben der Spürsinn der Gescheiterten messerscharf. Eine Art Selbstbewahrung, die allerdings unbeweglich macht. Wenn man das Haus eines Mannes ausplündert, muss man sich nicht wundern, dass der die Schotten dicht macht.“ Die Männer tranken schweigend, und plötzlich wusste Elias Kühn, es gab diese verlorene Geschichte nicht als spezielle, einzelne Geschichte. All diese verstaubten Blätter auf seinem Schreibtisch und in seinem Herzen enthielten sie, seine verloren geglaubte Geschichte.                                                         

© Petra Elsner, 31. Januar 2023

Der wilde Garten (5)

Öffentliches Arbeiten an einer Geschichte (der Schluss):

… Wochen später erwachte Lenes Wunschgarten und die beiden Schläfer im Heu auch. Die zarten Krokusse sahen für den kleinen Blattträger und Flederlene mächtig wie bunte Bäume aus. Längst hatte die Verwandelte begriffen, nicht jede Wunschvorstellung lebt sich gut. Ja, das Fliegen war wundervoll, aber ansonsten war das Dasein sehr beschwerlich. Sie wollte lieber wieder ein Mensch sein und wie sie das bei sich dachte, wurde es wahr. Frau Lene verlor ihre roten Fledermausflügel und wuchs zu ihrer einstigen Gestalt und war fortan etwas vorsichtiger mit ihren Wunschträumen, denn sie wusste ja inzwischen, in diesem wilden Garten konnte alles wahr werden. Als das Maigrün sich entfaltete, sang dort das Leben sein schönstes Lied. Frau Lene sah, auch wenn sie wegen ihres Alters nicht mehr alle Winkel aufräumen konnte, dort, wo sie den Garten sich ihm selbst überließ, lebte die Natur besonders auf und der kleine grüne Blattträger bekam Gesellschaft: Rote Blattträger und weiße. Sie lebten in den Blätterteppichen unter den hohen Büschen und manchmal sprach Frau Lene mit ihnen und mit dem Dachs auch.

***

Und hier noch einmal die ganze Geschichte:

Der wilde Garten

Die Stille wisperte verschlafen und es war ihr, als würde dort jemand auf sie warten. An diesem dunklen Morgen entschied sich Lene, die reale Welt zu verlassen. Sie stieg aus der Rüstung und lief leichtfüßig, nur mit einem blauen Seidenhemd bekleidet, hinaus in den wilden Garten. Vorbei an den Holunderbüschen und den Kopfweiden. Aus den Kräuselblättern winkten ihr seltsame Wesen zu. Kleine fledermausartige Gestalten, bunt wie der Herbst. Auf der Mooswiese nah am Wald musste sie verschnaufen. Das Moos leuchtete samtig und der mächtige Haselnussstrauch wedelte mit seinem goldenen Laub. Es war weit im Oktober und doch noch sommerlich warm, aber wie lange noch? Sie wollte es nicht weiter bedenken, aber wie sie da so stand, fragte sie das Rotkelchen. „Wohin willst du so leicht bekleidet, Frau Lene? Der Nordwind wird doch bald eintreffen.“
Lene trat näher an den Vogel heran und streichelte sanft sein Gefieder: „Ach, ich bin so müde vom schweren Tragen.“
Das Rotkelchen zupfte sich drei Flaumfedern und sprach: „Schau, sie sind ganz leicht, aber sie werden dich wärmen, wenn es nötig wird.“ Lene dankte und ging weiter. Aus dem Unterholz knurrte es und Lene dachte, ach, Herr Dachs, gib nicht so an, aus dir wird nie ein Bär. Sie lächelte still in sich hinein als plötzlich eine eisige Böe durch das Gartenland jagte und alles schwärzte, was eben noch grün war. Lene schlotterte in ihrem dünnen Hemd. Schnell drückte sie die drei Flaumfedern fest an ihr Herz und schlagartig vermehrten sie sich und wuchsen zu einem dichten Federkleid. Jetzt konnte sie gehen, wohin sie wollte. Vom Fuß der Efeuhecke her hörte sie ein müdes Gähnen. Lene bückte sich und sah einen dicken Troll, der sich unter einem Moosbatzen zur Ruhe legte. Gleich daneben, kroch ein Igel in einen Blätterhaufen. Ein paar Elfchen flirrten noch im Strauchwerk, aber all die Kröten, Schlangen und die Regenwürmer krochen jetzt unter dem Steinhaufen tief in die Erde. Mit der nächsten Böe fegten die braunen Kräuselblätter vorbei, darin juchzten die bunten Flederwesen und riefen: „Komm mit, wir kennen einen Unterschlupf!“ Aber sie waren viel zu schnell, Frau Lene konnte ihnen nicht folgen. Fliegen müsste man können, dachte sie. Aber was war das? Ihr Hals, die Schultern, Arme, ihr ganzer Körper begannen zu jucken. Es war, als wollte etwas aus ihrer heraus und plötzlich begann sie zu wachsen und zu schrumpfen zugleich. Große, rote Flederarme wuchsen ihr, während ihre Gestalt klein wie ein Vogel wurde. Wie konnte das sein, wurde wahr, was sie gerade dachte? Ungeheuerlich. Aber als sie die Flügel hob, segelte sie mit dem nächsten Luftzug in die Höhe. Eine taumelnde Freude trug die Flederlene hoch in die dicken Schneewolken.

Es war kalt, unsagbar kalt. Leichter Schneefall setzte ein. Mit ihm sank sie taumelnd abwärts. Hunderte Augen sahen dem Trudeln zu. Sie hatten die Flederlene erwartet, die Grastrolle, die Moosmännchen, die Erdgnome, die Elfchen, das Nebelpferdchen und die Walddrachen – die ganze kleine Gesellschaft des Unterholzes. Kaum, dass sie sich noch bewegen konnte, landete sie steif und sah etwas Grünes auf sich zukommen.
„Darf ich bitten, Flederlene, komm näher, hier ist es trocken,“ wisperte der kleine Blattträger und reichte ihr mit einer sanften Geste die Hand. Sie hatte keine Kraft nachzufragen, woher und wohin. Vorsichtig und mit eingeschlagenen Flügeln trat sie schlotternd zu der grünen Gestalt und folgte ihr unter dem Blattschirm an den Rand einer gewaltigen Rinne, die ins Erdinnere führte.

„Unten ist es warm,“ meinte der kleine Blattträger und rutschte abwärts, sie folgte ihm vorsichtig in den tiefen, dunklen Schlund. Auf eine Ebene angekommen, rumste es plötzlich sehr gewaltig und eine riesige Gestalt stampfte um die Ecke: „Ah, Flederlene! Aus mir wird also nie ein Bär, ha, aber ein mächtiger König der Unterwelt, wie du siehst. Und hier bist du unerwünscht!“ Seine dunklen Augen funkelten und seine goldene Krone leuchtete. Der Dachs genoss den Augenblick seiner Macht, dann trat er mit seiner schweren Pfote so hart auf, dass der Boden in der Dachsburg brach. Unter lautem Getöse stürzten der kleine Grünling und das Flatterwesen mit dem Erdrutsch in einen tiefen, lichtlosen Abgrund. Es roch modrig als der Staub sich legte. Er hustete, sie schluchzte. Dann schwiegen beide starr vor Erschütterung. Lange. Nur die Stille hauchte Besänftigung. Als sie sich endlich rappelten, suchten sie tastend nach dem Ausgang aus der finsteren Erdkammer. Doch es gab keinen, sie saßen fest. Der kleine Blattträger legte sich schließlich erschöpft auf den Boden und bedeckte sich mit seinem großen Blatt: „Leg dich zu mir Flederlene. Wenigstens ist es warm, lass uns durch den Winter dämmern und auf das große Erwachen hoffen.“ Und so geschah es…

Ein Tropfenton, kaum hörbar und zerbrechlich, war das Erste, dass in die Kammer drang. Lene schlug die Augen auf und dachte: Ich lebe. Aber was hat mich nur geritten, mein Abenteuer im Winter zu beginnen? Vollständige Dunkelheit umgab sie und sie fühlte sich schwach wie ein Hauch, als es plötzlich überall raschelte, bröselte, scharrte, schlängelte, kroch. Alles, was der Boden vor Frost und Winterkälte schützte, erwachte von diesem Ton und strebte auf zum Licht. Das große Tauen begann und drängte zur Eile, denn in der Erdkammer sammelte sich das Wasser und stieg stetig an. Der kleine Blattträger spürte Lenes Aufregung und murmelte: „Keine Angst. Das Aufsteigen der Tiere ist unsere Chance hier rauszukommen. Hörst du die Regenwürmer husten?“ Flederlene spürte jetzt, wie sich der Boden neben ihren Füßen wölbte. Ein Maulwurf entstieg dem Erdhügel, streckte sich und grub hastig seine Röhre durch die Kammerdecke weiter. „Schnell, wir klettern ihm nach“, flüsterte der Grünling und rollte sein Blatt zusammen. Es war beschwerlich unter den Kieselschlägen dem Maulwurf zu folgen und es dauerte, bis sie die Oberfläche erreichten. Aber sie schafften es. Doch was war das? Als sie dem verschütteten Teil der Dachsburg entkommen waren, ging der Regen in Schneefall über und in der Dämmerung zog der Frost wieder an. „Fehlstart!“ riefen die atemlosen Wiesenwürmer und kehrten schimpfend wieder um. „Scheiß Klimawandel!“ maulte der Maulwurf und verschwand unter der Erde.
Schlotternd standen die beiden beim alten Haselnussbusch und Flederlene sah, der Strauch begann gerade zu blühen. „Ach, kleiner Blattträger, es ist erst Februar, der Winter wärt noch. Es war nur eine Warmfront, die uns den Frühling vorgaukelte. Lass uns ein trockenes Plätzchen im Scheunenheu suchen.“ Auf dem Weg dorthin, sah sie, wie viel die Gärtnerin vor dem Winter nicht geschafft hatte. Überall lagen dicke Blätterteppiche und die Weiden waren nicht beschnitten. „Der Garten sieht wild aus“, murmelte sie. Der kleine Blattträger hatte sie dennoch gehört und antwortete: „Gut so, das gibt ihm neue Kraft. Sorge dich nicht, es geht ihm und seinen Bewohnern bald viel besser, du wirst sehen.“

Wochen später erwachte Lenes Wunschgarten und die beiden Schläfer im Heu auch. Die zarten Krokusse sahen für den kleinen Blattträger und Flederlene mächtig wie bunte Bäume aus. Längst hatte die Verwandelte begriffen, nicht jede Wunschvorstellung lebt sich gut. Ja, das Fliegen war wundervoll, aber ansonsten war das Dasein sehr beschwerlich. Sie wollte lieber wieder ein Mensch sein und wie sie das bei sich dachte, wurde es wahr. Frau Lene verlor ihre roten Fledermausflügel und wuchs zu ihrer einstigen Gestalt und war fortan etwas vorsichtiger mit ihren Wunschträumen, denn sie wusste ja inzwischen, in diesem wilden Garten konnte alles wahr werden. Als das Maigrün sich entfaltete, sang dort das Leben sein schönstes Lied. Frau Lene sah, auch wenn sie wegen ihres Alters nicht mehr alle Winkel aufräumen konnte, dort, wo sie den Garten sich ihm selbst überließ, lebte die Natur besonders auf und der kleine grüne Blattträger bekam Gesellschaft: Rote Blattträger und weiße. Sie lebten in den Blätterteppichen unter den hohen Büschen und manchmal sprach Frau Lene mit ihnen und mit dem Dachs auch.              
© Text/Illus: Petra Elsner

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