Der wilde Garten (1)

Öffentliches Schreiben einer Geschichte.

Vorab: Dieses Schreiben wird langsamer voranschreiten, denn für diese Geschichte will ich mehr zeichnen als gewöhnlich. In den nächsten Tagen reisen wir ins Erzgebirge. Auch daher wird es  ein kurzes Weilchen hier keinen Zuwachs geben, aber schaut, soweit bin ich inzwischen:

Die Stille wisperte verschlafen und es war ihr, als würde dort jemand auf sie warten. An diesem dunklen Morgen entschied sich Lene, die reale Welt zu verlassen. Sie stieg aus der Rüstung und lief leichtfüßig, nur mit einem blauen Seidenhemd bekleidet, hinaus in den wilden Garten. Vorbei an den Holunderbüschen und den Kopfweiden. Aus den Kräuselblättern winkten ihr seltsame Wesen zu. Kleine fledermausartige Gestalten, bunt wie der Herbst. Auf der Mooswiese nah am Wald musste sie verschnaufen. Das Moos leuchtete samtig und der mächtige Haselnussstrauch wedelte mit seinem goldenen Laub. Es war weit im Oktober und doch noch sommerlich warm, aber wie lange noch? Sie wollte es nicht weiter bedenken, aber wie sie da so stand, fragte sie das Rotkelchen. „Wohin willst du so leicht bekleidet, Frau Lene? Der Nordwind wird doch bald eintreffen.“
Lene trat näher an den Vogel heran und streichelte sanft sein Gefieder: „Ach, ich bin so müde vom schweren Tragen.“
Das Rotkelchen zupfte sich drei Flaumfedern und sprach: „Schau, sie sind ganz leicht, aber sie werden dich wärmen, wenn es nötig wird.“ Lene dankte und ging weiter. Aus dem Unterholz knurrte es und Lene dachte, ach, Herr Dachs, gib nicht so an, aus dir wird nie ein Bär. Sie lächelte still in sich hinein als plötzlich eine eisige Böe durch das Gartenland jagte und alles schwärzte, was eben noch grün war. Lene schlotterte in ihrem dünnen Hemd. Schnell drückte sie die drei Flaumfedern fest an ihr Herz und schlagartig vermehrten sie sich und wuchsen zu einem dichten Federkleid. Jetzt konnte sie gehen, wohin sie wollte. Vom Fuß der Efeuhecke her hörte sie ein müdes Gähnen. Lene bückte sich und sah einen dicken Troll, der sich unter einem Moosbatzen zur Ruhe legte. Gleich daneben, kroch ein Igel in einen Blätterhaufen. Ein paar Elfchen flirrten noch im Strauchwerk, aber all die Kröten, Schlangen und die Regenwürmer krochen jetzt unter dem Steinhaufen tief in die Erde. Mit der nächsten Böe fegten die braunen Kräuselblätter vorbei, darin juchzten die bunten Flederwesen und riefen: „Komm mit, wir kennen einen Unterschlupf!“ Aber sie waren viel zu schnell, Frau Lene konnte ihnen nicht folgen. Fliegen müsste man können, dachte sie. Aber was war das? Ihr Hals, die Schultern, Arme, ihr ganzer Körper begannen zu jucken. Es war, als wollte etwas aus ihrer heraus und plötzlich begann sie zu wachsen und zu schrumpfen zugleich. Große, rote Flederarme wuchsen ihr, während ihre Gestalt klein wie ein Vogel wurde. Wie konnte das sein, wurde wahr, was sie gerade dachte? Ungeheuerlich. Aber als sie die Flügel hob, segelte sie mit dem nächsten Luftzug in die Höhe. Eine taumelnde Freude trug die Flederlene hoch in die dicken Schneewolken…

Und hier geht’s zurück zum Adventskalender.

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Eine Geschichte entsteht…

Öffentliches Schreiben:

Der Elfenschrat (1)

Das Winterhäuschen knarrte und knisterte im ruppigen Novemberwind, und die Türschwelle wuchs wieder ein bisschen in der kalten Feuchte. Dadurch knarrte das Türöffnen so mächtig, als wollte ein Elfenschrat dem Holz entspringen. Einer, der schon hundert Jahre in dem Holz wohnt und darüber klagt. Plattgeschlagen von einer alten Eiche im Schorfheidewald. Er hatte den Waldarbeitern beim Baumfällen und Köhlern zugeschaut, und just, als diese Eiche fiel, war er nicht achtsam genug. Da hat es ihn hineingepresst in dieses Holz – auf Ewigkeit. Immer, wenn es Winter wird, jammert der Elfenschrat besonders laut aus diesem Holz.
Wenn ich sein Abbild finde, kann ich ihn vielleicht erlösen, dachte sich die Hausmaus Hermine unter den Dielen, denn dieses Schrammen war ihr einfach zu laut.
Sie kroch durch das Loch neben dem Heizungsrohr in die Oberwelt und besah sich die schnarrende Pforte. Es war tiefste Nacht, längst schliefen die Hausbewohner tief und fest, nur Hermine konnte kein Auge schließen. An einer Fuge kletterte sie aufwärts und besah sich Schritt für Schritt die Maserung der alten Eichentür. Irgendwo muss es ihn doch hineingepresst haben. Eine Mausbreite aufwärts, eine Mausbreite abwärts und so weiter, Stückchen für Stückchen hangelte sie sich auf und nieder. Die Maus kam ins Schwitzen, doch sie hatte gerade erst die Hälfte der Tür genau inspiziert, als es plötzlich kicherte. „Nicht, das kitzelt doch!“ Hermine hielt inne und kletterte vorsichtig ein paar Schritte zurück: „Wo steckst du?“ Offenbar war sie zu nahe dran, um gut zu sehen. „Hi, hi, hi, hi.“, kicherte es wieder, und Hermine entdeckte ein uraltes Auge, das schlaff blinzelte…

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Der Goldene (3)

Öffentliches Arbeiten – der Schluss.   

…Vor Kälte zitternd fand ihn der Rabe. „Du gehst sehr leichtsinnig mit meinen Geschenken um!“, schimpfte der Vogel. „Den Glanz der goldenen Blätter sollst du in die Welt tragen, um den Menschen vor der kargen Winterzeit noch eine pralle Freude zu bringen. Du hast ihn nicht bekommen, um dich darin allein zu sonnen!“ Der Rabe war höchst ärgerlich und murrte vor sich hin. „Wie kann man nur so seinen Daseinsgrund verpennen, nein aber auch!“  Aurel schlotterte und ihn packte die Scham als er bat: „Verzeih mir bitte, es soll nie wieder vorkommen.“ Da rief der Rabe nach seinen Brüdern vom goldenen Reif. Gemeinsam zupften sie sich die Farben des Jahres aus dem Gefieder und schenkten dem Herbstmann daraus ein neues Gewand, dessen Pracht mit ihm in die Landschaft wehte. Spät zwar, aber besonders schön.

Der Goldene. Hier die ganze Geschichte im Zusammenhang:

Der bunte Schläfer drehte sich noch einmal in seinen Wolkenkissen auf die Herzseite. Ein Zwielicht streichelte sein funkelndes Haupt. Es konnte ihm noch nicht flüstern, ob der Tag noch Sommer oder schon Herbst werden wollte. Nachts hatte es den ersten Frost gegeben und die Hirsche röhrten majestätisch im kalten Mondlicht. Doch Aurel fühlte sich nicht gerufen. Er schlummerte genüsslich, wie alle jene, die gerade den Wecker ausgeschaltet haben, um sich noch eine kleine Zugabe zu gönnen. Längst müsste der Herbstmann walten, denn der September war weit vorangeschritten und die Herbstsonne stand schon tief.
Der Hüter des Jahres war besorgt und stieß seinen Rabenreif an. Die vier Raben erwachten, reckten ihre Köpfe und krächzten: „Was ist zu tun?“ Der Maigrüne, der Mohnrote, der Goldene und der Schneeweiße sahen erwartungsvoll zu ihrem Herrn. Der raunte ernst: „Goldener, dein Herbstmann verschläft seinen Auftritt. Du musst ihn aufstöbern, damit er seine Aufgaben verrichtet. Spute dich, es eilt!“
Der Rabe erhob sich sogleich und spähte bei seinem Flug nach Aurel zwischen all dem bunten Laub auf der Erde. Irgendwo dort unten musste er doch stecken. Aber der Herbstmann schlief noch in den Wolken. Sein Blattgewand färbte sich indes von Rot zu Orange und schließlich golden. Das war die Zeit, in der Aurel besonders gefährdet war, denn sein Glanz weckte Begehrlichkeiten, was er sehr bald zu spüren bekommen sollte. Am Horizont zog ein wildes Wetter auf und in dem Sturm jagten die Wolkenreiter nach allem was edel funkelte. Das Windrauschen weckte den Schläfer, aber schon stachen die Blitze der Wolkenreiter nach seinem Blattgoldgewand. Kaum, dass er sich erheben konnte, hatten sie ihm seine ganze Pracht entrissen und ließen ihn vollkommen nackt zurück.
Vor Kälte zitternd fand ihn der Rabe. „Du gehst sehr leichtsinnig mit meinen Geschenken um!“, schimpfte der Vogel. „Den Glanz der goldenen Blätter sollst du in die Welt tragen, um den Menschen vor der kargen Winterzeit noch eine pralle Freude zu bringen. Du hast ihn nicht bekommen, um dich darin allein zu sonnen!“ Der Rabe war höchst ärgerlich und murrte vor sich hin. „Wie kann man nur so seinen Daseinsgrund verpennen, nein aber auch!“  Aurel schlotterte und ihn packte die Scham als er bat: „Verzeih mir bitte, es soll nie wieder vorkommen.“ Da rief der Rabe nach seinen Brüdern vom goldenen Reif. Gemeinsam zupften sie sich die Farben des Jahres aus dem Gefieder und schenkten dem Herbstmann daraus ein neues Gewand, dessen Pracht mit ihm in die Landschaft wehte. Spät zwar, aber besonders schön.

© Petra Elsner

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Der Goldene (2)

Öffentliches Arbeiten: Ein Märchen entsteht:

…Der Rabe erhob sich sogleich und spähte bei seinem Flug nach Aurel zwischen all dem bunten Laub auf der Erde. Irgendwo dort unten musste er doch stecken. Aber der Herbstmann schlief noch in den Wolken. Sein Blattgewand färbte sich indes von Rot zu Orange und schließlich golden. Das war die Zeit in der Aurel besonders gefährdet war, denn sein Glanz weckte Begehrlichkeiten, was er sehr bald zu spüren bekommen sollte. Am Horizont zog ein wildes Wetter auf und in dem Sturm jagten die Wolkenreiter nach allem was edel funkelte. Das Windrauschen weckte den Schläfer, aber schon stachen die Blitze der Wolkenreiter nach seinem Blattgoldgewand. Kaum, dass er sich erheben konnte, hatten sie ihm seine ganze Pracht entrissen und ließen ihn vollkommen nackt zurück…

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Kerzen in der Stadtbahn (4)

Öffentliches Schreiben einer Kurzgeschichte:
Er hatte sich verspätet, Irenes Schutzengel. Er war nie wirklich so pünktlich, wie er sollte. Auch unter den Engeln gab es nachlässigere Gewächse. Doch glücklicherweise hatte das Mädchen die Heilige Nacht allein überstanden und nun war er an ihrer Seite. Unsichtbar saß er im Sessel in der Leseecke und wachte.
Irene lugte in den duftenden Stoffbeutel, frische Schrippen und eine Streuselschnecke. Wunderbar! Sie liebte diese tellergroßen Schnecken. Das Mädchen schloss das Fenster und sah, unten auf dem Gehweg schlenderte Herr Kronberg. Ob er den Beutel an die Tür gehängt hatte? Egal.
Irene frühstückte und sprach mit vollem Mund mit dem Schreibblock:
„Moin, moin, schmeckts Euch auch?“
Wieder räusperte sich die väterliche Stimme und erklärte: „Deine Mutter hat Früchtebrot gebacken. Ist köstlich wie jedes Jahr.“
„Oh, Mann, Früchtebrot! Aber stellt euch mal vor, heute Morgen hat mir jemand ganz frische Schrippen und eine Streuselschnecke an die Tür gehängt – in einem wunderschönen Stoffbeutel.“
„Du weißt nicht von wem die sind und isst sie?“
„Ja, Mama, sei nicht so vorwurfsvoll. Es hat nur jemand an mich gedacht. Vielleicht der nette Herr Kronberg, der nebenan eingezogen ist.“
„Die Wohnung nebenan ist unbewohnt. Gesperrt wegen Rohrbruch, der den ganzen Fußboden ruiniert hatte. Dieser Herr Kronberg ist -,“ die Mutterstimme brach ab und Irene trieb ein Verdacht hinaus aus der Wohnung. Sie sprang die Treppe hinauf in den dritten Stock und klingelte bei Familie Krause. Die Nachbarin öffnete: „Ah, Irene. Frohe Weihnachten.“
„Ja, frohe Weihnachten. Frau Krause, ich will nicht stören, nur eine Frage: Ist in der Wohnung neben uns ein neuer Mieter eingezogen?“
Die Krause schüttelte den Kopf. „Die Wohnung muss erst saniert werden. Wenn da einer reingeht, dann ist er vielleicht von der Versicherung oder ein Klempner.“
Irene setzte düster nach: „Oder – einer von der Firma.“
„Wer weiß“, murmelte Frau Krause verhalten. „Ist sonst noch was?“
„Nein danke.“ Die Tür schloss sich wieder und Irene, wusste plötzlich nicht, was sie tun sollte. Wut stieg in ihr auf. Der hatte sie einfach frech angelogen. Sie klingelte Sturm bei Kronberg, aber niemand öffnete.

Sie hastete zurück in die elterliche Wohnung zu ihrem Blockdialog. Sie schrieb und sprach: „Mama, ich glaube, der Kronberg ist mein Schatten!“
„Und von dem nimmst du Brötchen an?“
„Sie sind von mir“, flüsterte der Engel. Irene sah erschrocken in die Leseecke. Dort war nichts. „Werd‘ ich jetzt irre, wer spricht da?“, schrie sie in den Raum. Da schimmerte der Engel in seiner Gestalt. Lessig saß er da in einem grünen Kapuzenmantel. Braune Locken fielen bis zu seinen schmalen Schultern und er schaute mit einem sanftmütigen Blick, der Irene an ihren Lieblingsbeatle George Herrison erinnerte.
„Mir wurde gesagt, mit Streuselschnecken kann man dich trösten. Ich bin Raphael und werde über Weihnachten Dein Schutzengel sein.“
Für Irene war das im Augenblick alles ein bisschen viel. Missgestimmt fragte sie barsch: „Und, wo warst du gestern?“
„Ich hatte verschlafen.“
„Die Heilige Nacht?“
„Ja.“
„Na sowas.“
„Wenn ich störe, bleibe ich unsichtbar.
„Ja, bitte.“
Der Engel atomisierte sich und Irene tippte mit dem Stift auf ihren Schreibblock: „Vati, Mama, ich bin nicht mehr allein. Ich habe jetzt einen Schatten und einen Engel.“ Der Schreibblock schwieg.

Sie musste raus. Abends fuhr Irene wieder S-Bahn und sprang von Wagon zu Wagon. Sich an Leuten sattsehen und ihnen Kerzenlicht spendieren. Diesmal war es schwieriger ihre Weihnachtslichter unbemerkt aufzustellen. Himmel und Menschen waren unterwegs und schleppten Geschenke von A nach B. Doch Irene fand stets diesen kleinen unbemerkten Moment oder war da wer, der sie abschirmte? „Raphael?“ flüsterte sie. Der Engel stand direkt neben ihr und lächelte. Und da noch einer, der sie beobachtete. Dieser Kurt Kronberg. Als sie ihn entdeckte, kam er auf sie zu und reichte ihr wieder ein Telegramm. „Sie sind wohl unter die Briefträger gegangen?“ zischte ihn Irene an. Dann las sie unter Freudentränen: „Komme morgen mit dem Zug, Mama“. Der Schatten verschwand, der Engel aber begleitete sie durch die Nacht.
                                                                         ***
© Petra Elsner

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Kerzen in der Stadtbahn (3)

Öffentliches Schreiben einer Kurzgeschichte:

… Sie stellte sich vier Kerzen auf, holte die Geschenke für Vater und Mutter herbei, legte sich Stift und Schreiblock zurecht und goss sich ein Glas Punsch ein. Irene prostete den imaginären Eltern zu und schrieb:
„Frohe Weihnachten! Wo immer ihr seid. Könnt ihr mich hören ihr Lieben?“
„Wir hören dich Kind. Im Herzen sind wir bei dir.“
„Ich weiß, Mama. Macht euch keine Sorgen, ich schaffe das.“
Irene schluchzte, denn sie spürte, dass es nicht stimmte, was sie gerade sagte, aber sie fühlte, ein Rollenspiel könnte ihr guttun. Und so schrieb sie diesen Dialog und sprach dabei die Worte mit verstellten Stimmen.
„Du musst nicht so stark tun, mein Kind. Wir wissen, dass diese Situation für dich schlimm ist. Trink einen Schluck, er hilft dir zu entspannen.“
„Mach ich, Vati. Prost! Wie geht es auf dem Kahn?“
Die Stimme des Vaters räusperte sich: „Em, es geht. Noch haben wir es warm, aber ich glaube, wir werden beobachtet.“
„Wie jetzt?“
„Na, vielleicht denkt man sich, die stecken im Eis fest, das ist eine gute Gelegenheit zu türmen, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Du meinst, die Stasi denkt das?“
„Ja. Die trauen doch keiner Seele. Pass auf dich auf mein Kind und lass dir nichts erzählen. Wir würden dich niemals zurücklassen. Ja, es gab solche Fälle, und wahrscheinlich haben wir deshalb diesen Schatten am Ufer bekommen, aber du kannst dich auf uns voll verlassen.“
„Das weiß ich doch.“
„Und warum sorgst du dich dann?“
„Na, wer weiß schon genau, was der andere denkt und wohin ihn das führt.“
„Kindchen!“
„Ja, Vati? Ich sorge mich halt und ich bin nicht gerne allein.“
„Weiß ich, deshalb machen wir uns ja Sorgen.“
Im Fernseher flimmerte „Die Feuerzangenbowle“. Irene legte den Stift beiseite, goss sich einen zweiten Punsch ein und kuschelte sich in eine Decke auf dem Sofa. Der Film lenkte sie ab und das Getränk machte sie schläfrig.

Am ersten Weihnachtsfeiertag weckte sie das Sendeschlussrauschen des Fernsehers. Sie sprang vom Sofa und schaltete das nervende Gerät aus. Zuerst legte sie Kohlen auf das letzte Glimmen im Kachelofen. Das Wohnzimmer roch nach abgestandenem Punsch. Sie füllte den Rest in eine Flasche und verschloss sie mit einer Gummikappe. Bestimmt ließe der sich noch einmal aufwärmen. Während Irene die Fenster weit öffnete, um zu lüften, schepperte die Wohnungsklingel. Niemand stand vor der Haustür, aber am Türknauf hing ein roter Stoffbeutel mit weißen Punkten und es war ihr, als ob ein Hauch in den Wohnungsflur wehte. Seltsam, bestimmt war es nur ein Luftzug zwischen offenem Fenster und dem Treppenhaus. Aber es war kein Luftzug…

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Kerzen in der Stadtbahn (2)

Öffentliches Schreiben einer Kurzgeschichte:

… Ostkreuz. Der obere Bahnsteig hinter dem Wasserturm lag gebogen, dunkel und menschenleer. Das machte Irene keine Angst. Es war etwas anderes, dass sie augenblicklich angefallen hatte: dieses Gefühl, verlassen zu sein, für immer. Es schlich sich über Irenes Gänsehaut vom Rücken hinauf bis unter die Kopfhaut, um in den Schläfen laut zu pochen. „Wo seid ihr?“ rief sie leise, fast jammernd in die Nacht. In ihrem Kopf hämmerte der Gedanke: Abgehauen, übers Eis in den Westen. Sie stieg die Treppen hinab zu den unteren Gleisen und am anderen Bahnsteigsende wieder hinauf. Dort nahm sie die nächste Bahn heimwärts.  Würde sie die Nacht aushalten? Sie fühlte sich elend als sie in ihre Straße einbog. Es war eisig kalt und der Schnee knirschte unter ihren Schritten. Der viergeschossige Neubau lag im Dunkel, als sie die Haustürschlüssel aus der Manteltasche zog. Ein Glimmen auf einem der Balkone verriet, da rauchte einer und blies Kringel in die Nacht. Als Irene in der zweiten Etage ankam stand ein Mann vor der Wohnungstür: „Bitte nicht erschrecken, ich habe nur ein Telegramm abzugeben.“
Irene nickte und nahm das Kuvert. „Danke, ich kenne Sie gar nicht, wohnen Sie schon lange hier?“
„Entschuldigung, ich hätte mich vorstellen müssen: Kurt Kronberg. Bin gerade erst gegenüber eingezogen. Aber durch diese Tür habe ich noch keinen gehen sehen.“
„Meine Eltern sind Binnenschiffer.“
„Verstehe. Na, dann, frohe Weihnachten.“
„Ihnen auch.“
Irene schloss auf und huschte in die Wohnung. Sie Atmete tief und riss das Telegramm auf: Wir stecken bei Hamburg fest. Geld liegt im Brotkasten. Halte durch, Mutti!
Tränen verschleierten ihren Blick. Sie lehnte an der Tür und rutschte nun weinend in die Hocke. Das Telegramm fiel zu Boden. Schließlich stand sie auf, legte Kohlen im Ofen nach und stocherte in den Küchenschränken nach etwas essbarem. Drei Tütensuppen: Ochsenschwanzsuppe, Brühnudeln und Gemüseeintopf fanden sich und im Tiefkühler steckten ein halbes Brot und ein Stück Butter. Damit käme sie über Weihnachten. Essen hält Leib und Seele zusammen und Irene wollte nicht in dieser schrecklichen Einsamkeit untergehen.  Sie entschied sich für die Brühnudeln. Zum Essen schaltete sie die Nachrichten im Schwarz-Weiß-Fernseher an und hörte:

Stillstand in der Binnenschifffahrt: Der anhaltende Frost in weiten Teilen Deutschlands hat fast alle Wasserstraßen zufrieren lassen. Selbst Eisbrecher schaffen es nicht mehr, die Fahrrinnen frei zu halten. Die Verluste für die Binnenschiffer lassen sich im Augenblick noch nicht abschätzen.

Irene löffelte die dünne Brühe mit den dicken Eiernudeln und grübelte: Bei Hamburg. Im Westen! Wenn so ein Kahn erst mal eingefroren ist, das könnte dauern. Sie sprang auf und schaute im Brotkasten nach: 100 Mark. Für Irene war das viel Geld. Ihr monatliches Taschengeld betrug 20 Mark. Jetzt aber musste sie damit über die Weihnachtsferien kommen und zurück ins Internat. Es würde reichen. Beruhigt ging sie zurück zu ihrem Suppenteller. Wie sollte sie diese Zeit alleine aushalten? Sie muss sich unterhalten, um diese Stille zu füllen. Irene holte sich die Baumkerzen und eine Flasche Rotwein aus der Speisekammer und kochte sich einen Punsch mit Zimt und Nelken. Ein Glas gestatteten die Eltern zu Weihnachten…

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Kerzen in der Stadtbahn (1)

Öffentliches Schreiben einer Kurzgeschichte:

1969: Das Licht flackerte wie ein Sehnsuchtsfunken als das Teenie-Mädchen aufstand. Die Stadtbahn bremste. Als sie anhielt stieg Irene aus dem Wagon, aber nur um in den dahinterliegenden zu huschen. Doch auch dieser war menschenleer. Sie richtete ihr weißblondes Kurzhaar im Fensterspiegel. Keine einzige Seele war in dieser Heiligen Nacht unterwegs. Irene zog die Packung Baumkerzen und das Feuerzeug aus ihrer Manteltasche, nahm sich eine Kerze, zündete den Docht an, tropfte etwas Wachs auf das Fensterbrett und stelle das Licht in die Nacht. Wo seid ihr nur? Offenbar steckte der Lastkahn der Eltern irgendwo auf der Elbe im Eis fest. Sie konnte es nur vermuten, aber das gab es schon manches Jahr. Heimkehr aus dem Internat und kein Feuer im Ofen, im Kühlschrank nur Licht. Es gab Heilige Nächte, in denen wollte die kindliche Irene vor Einsamkeit sterben, aber heute fühlte sie sich stark genug, das ungewisse Alleinsein zu ertragen. Sie wusste nicht, ob ihr das wirklich gelingen würde. „Nächster Halt: Baumschulenweg“ krächzte die Ansage des Zugführers durch den Lautsprecher. Irene stieg abermals um in den nächsten Wagon. Im hintersten Eck entdeckte sie einen älteren Herrn, der gerade Glühwein in den Becher seiner Thermoskanne goss. Als er aufblickte, stand sie noch. Er winkte sie zu sich. „Auch ‘nen Schluck, ich habe noch einen zweiten Becher dabei?“ Irene nickte, ließ sich auf den Sitz gegenüber fallen. Sie blicke in das zerfurchte Gesicht des Mannes und fragte sich still: Wie viele Jahre mochten in diesen Gräben stecken? Wortlos stellte sie eine brennende Kerze auf das Fensterbrett.
Dazu murmelte der Alte, „Kokeln in der Bahn ist verboten“ und schlürfte an seinem Becher Glühwein.
„Und Saufen in der Öffentlichkeit wird auch nicht gern gesehen“, maulte Irene zurück.
„Stimmt,“ sprach der Mann und fuhr sich nachdenklich durch das borstige Silbergrau in seinem Gesicht. „Aber allein Trinken, ist nicht gut für die Seele. Eben dachte ich noch, ich hätte eine zum Anstoßen gefunden. Komm, auf die Heilige Nacht!“ Er prostete Irene zu und sie erwiderte schweigend. Der Wein dampfte und stieg ihr in die Nase. Schon mit dem ersten Schluck spürte sie einen Anflug von Rausch. Sie hatte mittags etwas gegessen, jetzt war es später Abend. Der Alte sah ihre Einsamkeit und auch, dass sie im Grunde zu jung war, durch die Nacht zu stromern. „Darf ich fragen, warum du allein unterwegs bist?“ Irene hob ihre Lieder: „Meine Eltern sind Schiffer. Sie stecken irgendwo mit ihrem Kahn fest. Passiert schon mal. Und Sie, warum sind Sie Weihnachten allein?“
Der Alte murrte: „Passiert immer wieder. Die Frauen bleiben nicht lange bei mir.“
„Warum? Zuviel Glühwein?“
„Quatsch. Zuviel Arbeit, ich bin Monteur, wenn du verstehst.“
„Hm. Da ist es wohl besser, Paare sind gemeinsam unterwegs, wie meine Eltern.“
„Und warum kümmerts keinen, dass du allein bist heute Nacht?“
„Es weiß wohl einfach keiner.“
„Weiß man in diesem Land nicht immer alles?“
„Kann sein.“
„Und was sagt das Amt zu sowas?“
Irene sah den Mann verkniffen an und schnauzte: „Das geht Sie gar nichts an!“ Sie blies die Kerze aus, erhob sich ruckartig und stieg ohne zurückzusehen beim nächsten Halt aus …

 

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Die Stimme auf ihrer Schulter

Sie fegte den Hauch mit der Hand von der Schulter und dachte leise: Geh‘, verdrück‘ dich aus meinem Leben! Aber er war immer noch da, dieser miesepetrige Herr, der ihr ständig ins Ohr raunte: „Tu‘ dies oder jenes nicht!“ Als er das letzte Mal über ihre Bettzipfel sprach: „Schlaf nicht so lange, nur der frühe Vogel fängt den Wurm!“, stellte sie einfach den Wecker ab und drehte sich noch einmal um. Es war der trotzige Beginn, sich gehen den Nörgler aufzulehnen. Jetzt versuchte sie ihn loszuwerden, diesen Schatten aus der Vergangenheit. 25 Jahre war der Vater schon tot. Sie hatte längst vergessen, starb er 1996 oder 97? Er hatte sich schon lange zuvor weit von ihr entfernt und steckte in einem anderen, neuen Leben. Sie konnte kaum glauben, wie liebevoll und großzügig dieser harte Kerl in der neuen Familie sein konnte. Ein Gestaltwandler. Als er aus dieser Welt ging, schien er sich ihrer zu erinnern, denn seither war sie da, die strenge Stimme auf ihrer Schulter. Es ging der Stimme nicht um beste Leistungen, sie verlangte Anpassung, unauffälliges Sein. Beides war Isabell nicht gegeben. Sie stach immer schon aus der Mitte hervor. Laut und eigensinnig. Wenn Isabell eine wichtige Arbeit nur mit Überstunden erledigen konnte, sah sie nicht mehr auf die Uhr und die Stimme schimpfte: „Bist du ordenssüchtig?“ War Isabell nicht, aber sie liebte ihre Arbeit und sie war verlässlich. Nicht immer schon, erst nach ihrer fünften Berufswahl. Von da an lief sie wie ein Uhrwerk. Es ist wichtig den richtigen Job zu finden, das Leben fühlt sich dann leichter an, selbst wenn es schwer ist.
Isabell wusste, der Vater hatte nicht das Recht ihr Dinge zuzuflüstern. Dinge wie: „Halt dich zurück!“; „Mach was Anständiges, nicht so einen Krimskrams!“; „Sei nicht so großzügig, da kommt eh nichts zurück!“; „Verschenk nicht das letzte Hemd!“ Sie verachtete solche Ansagen und gab meist mit vollen Händen. Nach seinem Verrat hatte er ihr gar nichts mehr zu sagen. Man verrät nicht die 14-jährige Tochter. Isabell konnte nicht verstehen, weshalb er sie postwendend zurückschickte in dieses Internat. Dort waren alle Wege plötzlich verschlossen. Der Trainer beschimpfte sie, als sie ihm mit zittriger Stimme das ständige Trainingsverbot der Mediziner mitteilte. „Du versaust mir meine Jahresprämie!“, brüllte er. Sein Atem roch nach Wodka und seine Augen schwammen im blutigen Rot wie jeden Morgen. Isabell fühlte sich schuldig, dabei war sie „nur“ krank. Wovon eigentlich? Den Becher mit dem täglichen Vitamintrunk nahm sie nicht mehr vom Tablett in seinen Händen. Sie flüchtete, denn hier in diesem Augenblick bekam ihr Leben den ersten Riss. Was sollte sie an diesem Ort, der sie gerade ausspuckte? Völlig aufgelöst lief sie davon. Nach Hause.
Der Vater war dieser Tage krankgeschrieben. Seine Kriegsverletzung puckerte, aber er klagte kein bisschen. Er hörte sich ungerührt das kindliche Drama an, kochte währenddessen eine Tütensuppe und löffelte die Buchstabennudeln wortlos. Als alles gesagt war und die Tränen getrocknet, griff er zum Telefon und rief in der Sportschule an. Isabell dachte, er würde jetzt ihrer Bitte folgen, dass sie sofort in eine normale Schule wechseln könnte. Aber es kam anders. Er schickte sie zurück. Man erwarte sie. Er schwieg fortan über das Geschehene, nicht einmal die Mutter erfuhr davon. (Sie würde bis zuletzt glauben, ihre Tochter habe versagt.) Erschrocken reiste Isabell zurück und fragte sich – wie konnte er nur? In der Schule erwartete sie niemand. Sie gehörte nicht mehr dazu, sollte aber das Schuljahr hier abschließen. Warum? Wer wollte Zeit gewinnen und wofür? Es gibt Fragen, die ins Leere laufen und am Selbstwert nagen.
An diesem Morgen öffnete die Frau das Fenster, schaute kurz zu ihrer linken Schulter und sprach laut und deutlich: „Schweig‘ jetzt und geh‘, sofort!“

PS: Diese Geschichte habe ich 2020 begonnen, abgebrochen und heute erst wurde sie fertig…

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Ein Waldmärchen

Im Schattenwald

Im Schattenwald der guten Geister tobte der Holzmann Eichbert, als wollte er Heerscharen von Borkenkäfern eigenhändig verjagen. Das klang wie das Baumkronenschlagen im Sturm. Aber es war vollkommen windstill. Sianca, die weiße Birkenfrau, wagte sich keinen Schritt weiter. Was hatte den Holzmann so zornig gemacht? Ein Landstreicher? Ein Waldfrevler? Unter den leuchtenden Nachtwolken war die Birkenfrau leicht zu entdecken. Für sie war der Schattenwald kein sicheres Versteck. Aber dem Jähzorn des starken Waldgeistes wollte sie nicht begegnen, und so verbarg Sianca sich hinter einer dicken Buche, bis das Zornschlagen im aufziehenden Regen verstummte.
Waldrauch hing in den Baumkronen, als der Tag anbrach. Die Birkenfrau lief zum Fließ. Am Ufer entdeckte sie einen schlafenden Angler. Sie verwandelte sich in ein knorriges Moosweiblein und stupste den jungen Mann an. Der rieb sich noch die Augen, als sie ihn fragte: „Schenkst du mir einen von deinen Fischen?“ Der Angler murrte: „Warum sollte ich?“
„Weil ich alt und arm bin,“ sprach Sianca.
„Was geht mich das an? Ich brauche den Fang selbst und gebe dir keinen Fisch.“ Da verwandelte sich das Moosweiblein zurück in die bezaubernde Birkenfrau, die sich von dem Staunenden abwandte und im Gehen raunte: „Waldgeistern zu begegnen kann Glück bringen, sofern man sie gut behandelt. Du hast diese Chance verspielt.“ Plötzlich sah der geizige Angler, dass sich all seine Fische in Nattern verwandelt hatten. Erschrocken warf er den Kescher ins Fließ und lief hastig davon.
Sianca suchte den Holzmann. Im Schattenwald wisperte es von jedem Ast und jedem Halm. Die Schattenelfen trugen schwarze Kleider, so waren sie nicht zu sehen, aber zu hören. Die Birkenfrau fragte in das Dunkel: „Wisst ihr wo der Holzmann steckt?“
„Auf dem Baum der Bäume hockt er bei seinen Freunden, den schwarzen Störchen“, flüsterte ein Stimmchen zurück. Die Birkenfrau bedankte sich für die leise Antwort und ging langsam zum Baum der Bäume. Unterwegs kam sie an einem verbrannten Waldstück vorbei, und auf einmal wusste sie, weshalb der Holzmann letzte Nacht so wütend war.
Die Anmut der Schwarzstörche hatte Eichbert besänftigt, und als er die Birkenfrau sah, wärmte ihr Anblick sein Herz. „Guten Morgen, du Schöne. Hast du das Elend im Wald gesehen?“ Sianca nickte und fragte ratlos: „Warum nur verderben manche Menschen den Grund, auf dem sie stehen? Der Wald beschützt doch das Leben.“
Eichbert sinnierte betrübt. „Wer weiß, manche sind krank im Kopf, andere wollen sich rächen oder haben nur Langeweile. Wahrscheinlich wissen sie nicht mehr, dass auf manchen alten Bäumen Götter wohnten. Die Ehrfurcht vor ihnen ist hinter den Wolken verschwunden.“
„Mein lieber Holzmann, wir sind aber noch hier und wissen: der Wald mit seinem Blätterrauschen, den Düften und dem Vogelgesang kann alles heilen. Wir werden es weitersagen, bis es viele wissen. Nicht aufgeben, guter Waldgeist!“
Der Holzmann und die Birkenfrau machten einander Mut und verschenkten fortan am Wegesrand jedem achtsamen Besucher die wunderbaren Geheimnisse des Waldes.

 *Waldrauch bezeichnet die Nebelbildung in Wipfel der Bäume nach Niederschlägen.

© Petra Elsner
 

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