… Heiligabend wollte Adam Leichtfuß abermals die Stunden zwischen Nacht und Tag im Blauen Licht verbringen. Als er die Tür öffnete, waren zwei Musiker gerade dabei ihre Gitarrensaiten zu stimmen. Gleich würden sie ein bluesiges Hauskonzert geben, als leidenschaftliches Geschenk an die eingeschworene Gemeinschaft. Sie waren alle da, wie immer, nur etwas wohlgenährter. Die meisten Gäste hatten den frühen Abend mit ihren zerbröselten Familien verbracht. Jetzt begann der private Teil ihres Weihnachtsfestes. Eingetaucht in dieses unschlagbar warme Kerzenlicht der Wirtschaft. Dieser milde Schein, der alles schönte. Jede Falte erschien sanfter und jeder Lebenskummer auch. Frauen waren hier gleichermaßen auf der Jagd wie Männer, aber Adam mochte keinen speziellen Apfel kosten, er liebte sie alle, nur meistens platonisch. So konnte er jede mit seinen lächelnden Augen verführen und sie in kluge Gespräche verwickeln: Wie schwarz ist das Dunkel des Vergessens? Solche Fragen machten jedes zarte Wesen stumm und er, Adam, konnte plaudern und fabulieren bis ins Morgengrauen. Er nannte es für sich nur – sprechen üben, aber es war viel mehr als das. In dem Korrektor erwachte ein verschollener Poet mit lautem Fernweh. Der Winter verging. Eines Tages hatte Adam Leichtfuß etwas Geld zusammen, um sich aufzumachen in die Weiten der Welt. Der stille Schreibtischheld riss seine tiefe Wurzel aus der Zeit und machte sich auf einen unbestimmten Weg.
Öffentliches Arbeiten an einer Kurzgeschichte: Der Abschnitt 2:
… Leichtfuß wiederholte seinen geborgten Spruch und der Sambuca-Mann nickte wissend. Charles Bukowski kannte er nicht, aber er war schon alle Tode gestorben, die ein Artist sterben kann. Seit dem Letzten lebte nur noch in den Tag, was ihm ganz gut bekam. Den Sambuca trank Theo Rein nur gegen den Schmerz in all seinen schlecht verheilten Frakturen. Die beiden Männer sprachen über die Finsternis der Zeit, über die Illusionen des Lebens und was aus jenen geworden ist. Adam Leichtfuß genoss dieses ungeschützte Gespräch und fühlte sich angenommen. So einen wohligen Zustand hatte er lange nicht mehr erfahren. Gegen 23 Uhr wurde es immer voller in dem rauchigen Quartier. Die Leute standen in drei Reihen vor dem Tresen, tranken, gestikulierten, diskutierten und feierten sich selbst. Es war höllisch laut und sehr bald stand ein Streifenwagen vor der Tür. Der Wirt drehte die Musik leiser, er kannte die beiden Uniformierten und nahm die x-ste Anzeige wegen Ruhestörung gelassen entgegen. Geschäftsrisiko. Umso später es wurde, desto seltsamer waren die Gestalten, die das Dunkel vor der Tür hier hineinfegte, schillernd wie ein Regenbogen und jeder Einzelne bekam seinen Auftritt für Minuten in der Nacht. Der rockende Dichter, der raue Dokfilmer, der desaströse Koch, ein Bücher-Messi mit Grammophon, der verbittere Synchronsprecher, der Klezmersänger und diverse kunstseidene Sternchen. Für Adam Leichtfuß wurde es jetzt ein wenig zu grell. Doch als er ging war klar, er würde wiederkommen, auf ein gutes Gespräch mit dem arbeitslosen Artisten oder mit einem der anderen Bohémiens. Bald schon klopfte er im Hinterzimmer mit Stammgästen regelmäßig Skat. Niemand regte sich darüber auf, wenn der Korrektor, selbst bei einem Grand mit Vieren auf der Hand, schlagartig einschlief. Schließlich wussten alle, er hat diese merkwürdige Krankheit, eine Art Schlafsucht, die ihn immer mal aus der Wirklichkeit knipste…
Guten Morgen allerseits, es entsteht gerade wieder eine neue Kurzgeschichte und Ihr könnt wieder live mitlesen. Hier kommt der 1. Abschnitt zu:
Der Schlafwandler (1)
Eines Abends saß er einfach da, an diesem Drei-Ohren-Tresen im Blauen Licht an der Winsstraße. Die kleine Kneipe hieß eigentlich Fiasko, später Café Winsenz. Da aber Brauereiverträge vergänglich sind, und deren Werbelampen trotzdem weiter leuchten, wurde der Name des einstigen Lieferanten einfach mit Verdünnung ausgewaschen und das Lampenglas blau gestrichen. Schon bald nannte die Nachbarschaft das etwas verruchte Etablissement „Blaues Licht“. Dort bestellte sich der Neuzugang einen Schoppen trockenen Rotwein und wusste schon nach dem ersten Schluck: der macht Kopfschmerzen. Szenekneipen hatten seinerzeit kein gutes Händchen für Weine. Billiges wurde schlicht teuer verkauft, wer es trotzdem trank, war selber schuld. Während sich der Mann gegenüber gerade einen Sambuca anzündete und dem Rotweintrinker dabei mephistohaft zunickte, ahnte Adam Leichtfuß, dass er eben das richtige Quartier gefunden hatte. Ein Wohnzimmer für nächtliche Abschlaffstunden und ein Ort zum Sprechen. Den brauchte der Mann unbedingt, denn sein einsames Tageswerk am Schreibtisch entlockte ihm keinen einzigen Ton, vielleicht gelegentlich einen Seufzer über verquaste Sätze, mehr nicht. Wenn er abends das Haus verließ, um ein bisschen durch den Kiez zu schlendern, hatte er gewöhnlich noch nicht ein einziges Wort gesprochen. Insgeheim fürchtete er, er könnte es verlernen. Adam Leichtfuß war freiberuflicher Korrektor, den alle möglichen Verlage zu sich riefen, denn er war gewissermaßen der König der Korrektoren. Doch das wussten nur die andern. Leichtfuß war immer klamm, denn fürstlich entlohnt wurde er für seine Dienste eben nicht. Er griff in seine Hosentaschen, doch, die paar Klimpermünzen würden noch für einen zweiten Schoppen reichen, das beruhigte ihn für den Moment. Sein Blick wanderte hinauf zur Decke, die mit Zeitungsseiten tapeziert war, die Wände trugen so ein schäbiges undefinierbares Blaugrüngrau. Irgendwie erinnerte die Kneipeninszenierung an eine altväterliche Hausratsauflösung: Alte Bembel, eine Tuba vor einem goldgerahmten Spiegel, eine Bahnhofsuhr, die auf fünf vor 12 stand. Es war hier überhaupt nichts schön, nur schön-schräg und wie es aussah, passten auch die Gäste zu dem staubigen Interieur. Nur der Holztresen mit den drei angewachsenen Tischohren entsprang der Moderne. Der Wirt dahinter schaute allerdings finster, als hätte er am liebsten jeden einzelnen Stammgast noch vor dem nächsten Getränk gemeuchelt. Heute war seine Laune besonders übel, dazu schob er die großen Schnäpse mit einem Schlitterschwung über den Tresen, als befände er sich in einem alten Westernfilm. Alle kannten das – ein Spiel, in dem der Tresen-Mann die Hauptrolle auslebte, allein Adam Leichtfuß staunte noch. Als er seinen zweiten Schoppen Rotwein zu sich zog, flüsterte seinen Lieblingsspruch von Charles Bukowski dem Sambuca-Mann zu: „Man muss erst einige Male sterben -…“ und schlief ein, mitten im Satz, die Hand am Glas, von jetzt auf gleich. Nach etwa zwei Stunden erwachte Adam Leichtfuß und vollendete seinen Satz, als wäre keine Sekunde vergangen „…, um wirklich leben zu können.“ Das verwunderte den Sambuca-Trinker: „Bitte was?“…
… Irgendwo unter den Schichten warteten sie auf ihn, die Graugeister im Nebel des Vergessens, um ihm von ihrer Verwandlung zu erzählen. Das unerklärlich Verborgene aber ließ sich kaum noch erkennen. Überschrieben, übertüncht und reduziert auf eine grausige Zeit. Wem nützte es, wenn Hubert Gram die Würde und die Weisheit der Farbe Grau entblätterte? Er haderte mit sich einen stillen Moment. Dann versank der Mann abwesend hinter dem süßen Getränk in seinen Gedanken. Melancholie war die Grundstimmung mit der er durch die Kathedrale seiner Erinnerungen wandelte. Er hörte in den Schmerz, ohne ihn positiv zu bedecken. Er sezierte ihn geradezu und betrachtete jeden einzelnen Faden des grauen Gewebes, den er zu fassen bekam: tarngrau, nebelgrau und dieses lasierende Schattengrau für die sprachlose Intelligenz der Grauzeit. Eine Stimme holte Hubert Gram in das Jetzt im Café Cinema zurück. „Darf ich mich zu Ihnen setzen? Man hat mir gesagt, Sie seien die graue Eminenz, die alles weiß, was hinter der großen Zeitmauer verborgen liegt?“ „Em, ja, vielleicht, ein bisschen. Setzen Sie sich doch junger Mann. Und was interessiert Sie genau an der Grauzeit?“ „Ich will wissen, wie sie wirklich war.“
Eine neue Kurzgeschichte entsteht, hier der 2. Absatz: Hubert Gram ritzte mit seinem Skalpell noch eine winzige dünne Farbschicht aus der Torecke. Ah, da kam es zum Vorschein dieses Mausegrau oder war es Rauchschiefer? Währenddessen brüllte jemand übel laut über den Hof: „Was machst du da? Finger weg von der Fassade, Alter!“ Der Brüller kam dazu flinken Schritts auf ihn zu gelaufen. Hubert Gram griff sich sein Fahrrad und verschwand so schnell er konnte von diesem kleinen Tatort im fünften Hinterhof. Ein paar Ecken weiter war er entkommen und versteckte sich leicht außer Atem im Café Cinema hinter einem großen Pott heißer Schokolade. Ein Filmscheinwerfer wärmte ihm dazu herrlich den steifen Rücken. In diesem langen Schlauchcafé tauchte der Grausammler gerne zum Sinnieren ab. Die verblichenen Kinoplakate an den Wänden führten ihn, während er sie mit den Augen berührte, in das Reich seiner grauen Träume, in sein Schattenreich. Aber die Schatten seines Wissens aus der Grauzeit waren nicht komplex, nur bruchstückhaft, denn niemand kann allein die Welt und ihre Geschichte erklären. Dafür braucht es immer noch einen zweiten, dritten, eine große forschende Mannschaft mit Innen- und Außendraufsichten und dem Wissen, dass die eigene Überzeugung nicht der Wahrheit allerletzter Schluss ist. Und da sich jeder Einzelne im Älterwerden, fortwährend wandelt, die Ansichten, die Erkenntnisse, selbst die Gefühle, kam der Schattenphilosoph nie zu gültigen, verlässlichen Schlüssen. Er blieb ein Suchender in der Zeit. Aschgrau, betongrau, silbergrau, taubengrau, zementgrau – wie schön dachte der zauselige Grausammler. Er brauchte einfach diese Töne, um schön traurig zu sein …
Eine neue Kurzgeschichte entsteht, hier der 1. Absatz und die Zeichnung von heute:
Er kratzte an der fischen Tünche der Hinterhoffassade. Wo war es nur hin? Es musste doch unter diesem brüllenden Hell zu finden sein – das schöne Grau. Der Grausammler kam aus der grauen Zeit und er hatte alle Grau-Tode gesehen. Nun war er auf dieser schillernden Zeitebene ganz allein. Alle Nuancen seiner unbunten Farbe waren verschwunden. Aber aus ihrem Reiz zwischen Schwarz und Weiß entstand sein Gespür für Schatten. Hubert Gram war ein Schattenphilosoph, den keiner mehr brauchte, weil das, was er erforschte und interpretierte längst verloren war. Aber in dem flüchtigen Grau steckte irgendwo, weit entfernt, eine Würde, um die es ihm beim Forschen ging. Nur er und eine Handvoll anderer Schattendenker betrachteten noch diesen merkwürdigen Abschnitt zwischen Bekannten und Unbekannten in der verbrauchten Zeit. Aber sie wussten nichts voneinander, denn jeder lebte nur in seinem eigenen Schattenreich….
Öffentliches Schreiben an einer Kurzgeschichte (Der Schluss):
…Benjamin fixierte wieder ihre Sommersprossen. „Was ist, sitzt eine nicht richtig?“ fragte sie spitz in seinen Blick. Ein befreiendes Gelächter nahm die Schärfe aus dem Gespräch und der Zwei-Meter-Mann gestand noch prustend: „Weißt du, ich mag solche Schlagabtausche nicht. Sie verhindern, dass man wirklich spricht. Jeder sucht nur nach Argumenten für die eigene Lebensposition und blockiert damit das Bedenken des anderen Standpunkts.“ „Stimmt schon, aber ich ertrage es einfach nicht, wenn einer so angepasst durch die Welt stakst.“ „Nur unauffällig, nicht angepasst. Ich will mich nicht mehr, wie meine Eltern, so oft dafür rechtfertigen, dass ich im falschen Land geboren wurde.“ „Also Sohn der Spree – ein bisschen mehr Courage bitte“, verlangte Sophie streng. „Schließlich wissen wir als Scherbenkinder dafür eine Menge über Brüche, Endzeitstimmung und das den Kopf in den Sand stecken Veränderungen nicht aufhalten kann. Sie kommen wie das nächste Sommergewitter. Viele glauben heute, man muss den Istzustand nur ständig verfeinern, damit das Wohlstandsgefüge erhalten bleibt. Aber Demokratie braucht mutige Ideen, nicht bürokratische Monster. Mit ein bisschen Petersilie auf verstaubten Ansichten, lässt sich kein modernes Staatswesen in die Zukunft führen. Die Zeit wird bleiern und das System bröckelt. Auch das kennen wir. Du musst mutiger werden, nicht nur funktionieren.“ Benjamin rieb sich verlegen die Hände: „Und du musst eine Ausbildung machen, sonst bist du bald weg vom Fenster. Dein Vorsprung schmilzt.“ „Ich weiß“, flüsterte die Sommersprossenfrau. Er hatte ihren wunden Punkt berührt, aber sie fühlte sich nicht angegriffen, im Gegenteil. Das Gespräch schwappte in die nächste Runde. Sie plauderten über das Leben an sich, gegen die einsame, innere Härte. Es wurde Abend. Kurz vor der Dunkelheit stiegen sie die Stufen zur Straße hinauf. Die Oranienburger lärmte immer noch sommerlich laut. Die leicht bekleideten Bordsteinschwalben warteten bummelnd auf Freier. Eine Straßenbahn zog in die Kurve zum Hackeschen Markt als leuchtende Bewegung unter dem Nachthimmel. Die zwei Ungleichen beschlich eine seltsame Melancholie, wie sie nur Scherbenkinder befallen kann.
Öffentliches Schreiben an einer Kurzgeschichte (Abschnitt 2):
… Benjamin Richter spürte ihren verächtlichen Blick so unangenehm, dass sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Das konnte nicht so weitergehen, er musste diese knisternde Situation zwischen den Schreibtischen entschärfen. Nur wie? Bis zum Abend war ihm nicht wirklich eine Idee gekommen, so griff er nach dem Naheliegendsten und fragte schlicht, als sie schon in der Tür stand: „Lust auf ein Feierabendbier?“ Sophie glaubte sich verhört zu haben: „Bier? Ich dachte du trinkst nur stilles Wasser. Aber gut.“ Benjamin raffte seine paar Sachen, kaum später liefen sie die Oranienburger hinunter. „Wo kommst du eigentlich her“, fragte Sophie. „Aus Hamburg, aber geboren wurde ich gleich um die Ecke in der Charité.“ „Ah, ein echtes Kind der Spree und deine Alten, sind die mit nach Hause gekommen?“ Benjamin schüttelte seinen Kopf und sprach etwas belegt: „Nein, die hatten den Osten restlos satt, sind 1989 über Ungarn mit mir getürmt, waren stinksauer als ein paar Wochen später die Mauer fiel, und haben sich dann nie mehr Richtung Osten umgedreht. Nur geackert, um irgendwie Fuß zu fassen und wohlstandmäßig aufzuholen. War nicht einfach, die stehen immer noch unter Dauerdruck und stottern ihre Kredite ab.“ Sie schwiegen nachdenklich und ließen zu ihren Schritten ihre Augen wandern. Die Reste der verwegenen Zeit Anfang der 90er Jahre waren entlang der Meile nur noch spärlich zu entdecken, längst erstickten Baustellen die Magie des Szenekiezes. Nur in den Quartieren spürte man noch gut den Puls jener Zeit. In dem gemütlichen Kellercafé „Assel“ gegenüber dem Monbijou Park bestellten sie sich ein großes Weizenbier. Sophie fragte, während sie sich zuprosteten: „Und du hast offenbar viel von dem Druck abbekommen, und lebst deshalb so hübsch angepasst?“ „Quatsch, ich will nur meine Chancen nutzen.“ „Nee, mein Lieber, du hast nur echt schiss, irgendeinen lächerlichen Fehler zu machen.“ Benjamin sah Sophie an, als zählte er jede einzelne, der zweihundert Sommersprossen und sie sah, dass ihre Worte ihn aus der Fassung gebracht hatten. Sie hatte keinen Spaß daran und wollte sich schon entschuldigen, denn schließlich ging sie ja seine Lebensart gar nichts an, da antwortete er angesäuert: „Aber dir scheint ja alles Wurst zu sein. Du hältst dich an keine Regeln. hast keine Manieren und bist stur wie ein Panzer.“ „Aber begabt, in allem, was ich tue“, grinste Sophie. „Der Rest ist einfach Wendeschaden, wie bei dir auch, da kommt es eben zu Mutationen. Du bist ein hipper Nordwestdeutscher geworden und ich bin so unangepasst, wie es nur irgend geht. Denn meine Alten sind hiergeblieben, aber geblieben ist ihnen nix, trotz guten Glaubens, Hoffnung und viel Fleiß. Mit mir machen sie das nicht, kannste wissen.“ „Verstehe“, murmelte Benjamin und nippte an seinem Weizen…
Öffentliches Schreiben an einer Kurzgeschichte (Abschnitt 1):
Er war der Mann, der sich fehlerlos gab, was Sophie von vorneherein suspekt war. Sie trug heute die eine Strähne, die aus ihrem kahlrasierten Haupt fiel, verwegen in einem leuchtenden Blau, was jedem sogleich signalisierte: Bin heute auf Krawall gebürstet – geht mir besser aus dem Weg! Aber der Zwei-Meter-Typ sah sie einfach kompromissbereit zu allem an, dass verdarb ihr sofort die Laune. Diese Spaßbremse, fluchte sie stumm in sich hinein. Und immer dieses makellose Outfit, wie aus einer Illustrierten geschnitten. Nie ein Haar auf der Schulter oder gar eine Schuppe. Jeden Morgen sah Benjamin Richter sie mit diesem aufgeräumten Blick an, als hätte er gerade eine wochenlange Schlafkur hinter sich. Lebte der Typ überhaupt oder funktionierte er nur? Ja, der neue Kollege war ein perfekter System-Optimierer, aber als Mensch fühlte er sich irgendwie nicht echt an. Getarnt, gespielt, wie eine Blaupause von Supermann, aber dafür war er dann doch viel zu ausgeschlafen. Wahrscheinlich war er eher eine heimlich eingeschleuste künstliche Intelligenz. Der Prototyp der Zukunft: Geschmeidig, gehorsam, genügsam, fließbandfleißig und ohne jede Rebellion. Gruslig, dachte Sophie, pustete sich die blaue Strähne aus ihrem Sommersprossengesicht und warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Sophie war das ganze Gegenteil von diesem gestylten Tarnwesen. Sie lebte den Punk, wie schon ihre Eltern, es war ihr egal was, wer von ihr dachte. Nur wenn ihr jemand ihren Weg verbaute, wurde sie sauer. In diese Technik-Crew war sie ungelernt als Naturtalent eingestiegen. Von der Spielkonsole im Kinderzimmer rutschte sie in den Chaos Computer Club. Auf einem CCC-Kongress entdeckte sie ihr späterer Chef und bot ihr den Job als Computersicherheits-Administrator an, gleich nach der Mittleren Reife. Nicht ungewöhnlich für jene Jahre, als das Computerzeitalter erste Schritte in die Wirtschaft setzte. Inzwischen war die junge Frau mit der wilden Strähne eine Institution in der Hacker-Szene und nun das: Die Firma setzte ihr so einen glatten, studierten Schnösel vor die Latichte…
Öffentliches Schreiben einer Kurzgeschichte (Der Schluss):
… Sie posierte vor dem alten Spiegelschrank die Rolle der Drachenschlange, aber sie hatte nicht wirklich gutes Gift und vernichtendes Feuer zu versprühen. Für eine kapriziöse Diva fehlte ihr nicht nur die glamouröse Garderobe und auch die komische Alte stand ihr nicht so recht. Schließlich goss sie sich einen Schoppen Rotwein ein, setzte sich die Brille auf die Nase und begann sich ihre großen Lebensrätsel anzusehen. Der unverdaute Berg kam ihr mächtig vor, aber diesmal wollte sie wirklich alles bedenken, und sie begann mit der offenen Frage: Warum verlangt schwindende Kraft nach Lebenshunger? Weshalb begehrte das eine das andere? Eleonore Wundersam las sich in die Welt hinter der Frage, wälzte alte Bücher und klickte sich durch online-Essays. Lesen hilft durch jede Lebenszeit. Es sind die inneren Bilder, die das Erlesene zu eigenen Gedanken stimulieren. Dabei fand die Frau zu diesem Gleichnis: Wenn der Frühling mit all seinen frischen Farben unsere Sinnlichkeit berührt, ist es der Schnee im kahlen Winter, der alle Konturen schärft. Auf den Verlust der Farben folgt der klare Blick, die reife Erkenntnis. So halten sich Jugend und Alter die Waage und jedes hat deshalb gleichgewichtigen Wert. Eleonore lächelte, während sie das notierte. Sie spürte, wie sie plötzlich gelassener auf die Hiebe der Zeit sah. Ihre Neugier auf all diese Rätsel trieb sie nun an, jeden Morgen am Ende der Zeit aufzustehen, um sich ein neues Rätsel aus dem Berg der Zeiten zu ziehen.
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