2016 habe ich an dieser Kurzgeschichte öffentlich hier im Blog gearbeitet, irgendwann kam ich nicht weiter, ich wusste nicht, dass ihr im Grunde nur noch ein Schlusskapitel fehte. Das habe ich heute hinbekommen:
Rosenblütenblätter
Sie war schwer von der Leere und die Stille flüsterte: schlaf. Aber das Pfeifen in ihren Ohren wollte den Schlaf nicht kommen lassen. Sie stand auf, wie sie immer aufgestanden war. Weich in den Knien, doch mit jedem Schritt schob ihr Wille den Antrieb. Im Garten duftete die zweite Rosenblüte. Von den Essigrosen pflücke sie sich eine Handvoll Blütenblätter, trug sie in die Küche, schnitt das bittere Gelb heraus, gab sie in eine Glaskanne, dazu ein Salbeiblatt und übergoss alles mit heißem Wasser. Sie wartete zehn Minuten auf den Rosenblütenblättertee, der Herz und Seele leicht machen sollte. Das hoffte sie mit jedem bedächtigen Schluck, dann endlich lief sie in den Tag. War es noch Sommer oder schon Herbst? Viel Braun mischte sich schon in das Laub der Bäume, deren Blätter welk in der Hitze zu Boden fielen. Seit Wochen war kein Tropfen Regen gefallen, deswegen goss sie die Pflanzen nun auch in dieser Morgenstunde, bevor sie an ihren Schreibplatz ging. Heute würde sie nur Worte sammeln, denn sie wusste noch nicht, wohin sie sie führen würden. Sie hatte all ihre Kraft in den letzten großen Text fließen lassen, nun war sie weg. Für ein Weilchen oder auch länger, auch das wusste sie nicht. Aber sie erinnerte sich an die Worte ihres Methodik-Professors, der den gestressten Fernstudenten immer riet: „Schaffen Sie sich jeden Abend zur selben Zeit, die gleiche Situation: Ein Punktlicht, das die Umwelt ausblendet. Denken Sie nicht an die Verrichtungen, die auch auf Sie noch warten. Nur Sie im Lichtkegel und das Buch oder Blatt vor Ihnen. Sagen Sie ihrem Körper mit diesem immer wiederkehrenden Ritual: Du musst jetzt nochmal zwei Stunden etwas leisten. Wenn Sie zu müde sind, sortieren Sie einfach Karteikarten oder etwas in der Art, aber im Lichtkegel der Lampe …“. Damals gab es noch keine Computer, aber als sie fünf Jahre später auf die Schreibtische rückten, war es genau diese Situation, die Nora trainiert hatte. Das Licht und ihr sprudelnder Geist. Und wenn der schweigt – sammeln und sortieren.
Die Zeit frisst sich wie eine rasende Flamme durch diesen Tag. Getrieben vom Wind, der Wortfetzen aus dem nahen Wald heran weht. Es sind ihre Kopfgestalten, die darin tuscheln und säuseln. Nora sieht sich in einem Gedankenblitz, wie sie mit einem Kescher deren Töne zu erhaschen versucht. Aber sie sind unsichtbar im Zeitenwind, nur ein höhnisches Lachen dröhnt aus den Böen. „Hihihihi, siehst du sie, unsere Geschichtenmutter? Sie hat uns alle erfunden, aber wir wärmen sie nicht. Sie hat keinen, der ihr beisteht.“ Nora nickte und dachte, das stimmt. Aber es hilft nichts, ihre Reise geht weiter. Die letzte Passage wird es sein, und auch sie führt in einen großen Wald. Einen ohne Wegelagerer, die und auch die Räuber sind längst in die Städte gezogen, dort ist die Menschenjagd leichter. In diesem neuerlichen Geschichtenwald wehen die Stimmen derer, die noch gehört werden müssen. Sie wohnen in einem wilden Rosenbusch auf einer versteckten Lichtung. Doch zuvor muss Nora das stumpfe Feld der welken Träume überqueren.
Dusterbusch ist ein malerisches Wort und Dunkelwald ein mystisches. Nora sammelt. Sie berührt dabei vorsichtig Bruchstücke. Zerbrochenes Leben: Die schlesische Weberin und der böhmische Glasmacher. Mit leeren Händen verjagt, fremd und arm mit ihren Kindern geblieben. Fortan geduckt unterwegs. Ihr Wanken schwappte in Noras Wiege, unerklärt ängstlich. Wie sollte sie stark für das Leben werden? Lange ging das nicht. Sie musste erst selbst fallen, sich irren, aufstehen, Mut fassen und aufbrechen in ihre Welt. Im Finsterland atmete das Dunkel. Aus ihm zog Nora lichte Gestalten, als hätte sie sie schon im geschliffenen Glas des Großvaters als Sonnenfunken gesehen. Im Schattenland aber war die Verabredung „Leben und leben lassen“ verwirkt. Hier übertrat das Leben jede Schmerzgrenze. Ohne Erbarmen, ohne Empathie.
In der Birke wippte ein alter Rabe im dürren Geäst mit dem Wind. Sie mochte den fernen, knarrenden Vogel. Immer schon. Sie schenkte ihm einen gutmütigen Blick und starrte dann abermals abwesend in ihre große Leere. Plötzlich erhob er sich der Vogel und segelte zu der müden Frau. Dicht vor ihr landete er, hüpfte noch ein paar knappe Sprünge näher, rückte seinen Kopf zweimal zur Seite und starrte sie mit einem schrägen Blick an. Ohne einen Laut. Dann sprang er zu ihr auf die Gartenbank. Ihre Hand zuckte dabei und der Schwall aus ihrer Teetasse malte einen gelben Himmel in den weißen Heidesand. Die Zwei wussten sofort, dass diese Teespur ein Himmelsbild sein könnte – ein Zeichen für ein unendliches Gesprächsthema: Das Wetter. Sie blickten sich wie Verschworene an, und der Rabe sprach auf einmal rostig: „Das Wetter fühlt sich heute mies an, es heult zu sehr.“
Nora lächelte und spöttelte zurück: „Das Wetter hat sich übernommen, versonnen seufzt es arg beklommen.“ Der Rabe nickte, gluckste heiter und flog davon.
Weise Töne des Herzens pochten unter Noras Haut: Geh weiter. Lass Dich nicht ausnehmen. Bleib ganz bei dir. Hangle nicht nach Verderblichen. Die Frau wollte nicht mehr Klimmzüge an Kunsthändlern stemmen, die sich wie Hausverwalter aufführen oder verbeamtet, nur sich selbst versorgen. Sie tragen dazu die schönsten Federn der Vogelfreien, unbezahlt oder gegen ein Trinkgeld. Nora aber musste niemandem mehr etwas beweisen. Lass los, steige vom Tretrad. „Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen“, ließ Michael Ende seine Momo sagen. Und Nora wusste, ihre Lebenszeit tickte. Sie hockte auf dieser Eichenbohlenbank im Garten und sinnierte: Augenfänger ist ein schönes Wort und „nur mit den Augen berühren“ eine kluge Ansage. Nora sammelte für ihre nächste Erfindung, die nur ihr gehören würde.
Über das Kopfsteinpflaster holperte in der Mittagsstunde ein Pferdegespann. Die schwarzen Rösser schnauften in den gezogenen Zügeln. Ein Mann im Frack stieg vom Wagen und läutete die Glocke am Tor. Nora schreckte aus ihren Gedanken. Sie fing mit beiden Händen ihre windzerzausten langen Haare ein und fingerte noch mit dem Gummi, während sie die Hoftür öffnete. Die dunkle Erscheinung zog den Hut, verbeugte sich und hielt ihr auf einem schwarz gelackten Tablett ein Briefkuvert entgegen. Nora griff verstört nach dem Schreiben, auf dem in einer geschwungenen Handschrift „Einladung“ stand. Sie öffnete behutsam den Umschlag und das eingesteckte Blatt. Es war leer. Der Mann sah sie fragend an: „Und, was soll ich ausrichten, werden Sie kommen?“
Nora antwortete entgeistert: „Wenn ich wüsste wohin, könnte ich Ihnen vielleicht antworten, aber so?“ Sie wedelte das leere Blatt. Der mysteriöse Bote wusste, er würde jetzt keine Antwort bekommen. Er bestieg seinen Wagen und orakelte noch: „Sie wenden es wissen, wenn Sie aufbrechen.“ Dann löste er die Zügel der Rösser und verschwand mit dem nächsten Luftzug.
Sie trug kein dickes Fell, nur eine dünne Haut in diesen frischen Morgen. Kühle Feuchte hing noch im Birkengeäst, aus dem der Rabe knarrte: „Nebliger Morgen verhüllt alle Sorgen.“ Nora sah auf, ihr Blick suchte nach Schemen in der Dunstwolke. Erst als der Rabe die Flügel hob, entdeckte sie ihn in den milchigen Schleiern und konterte: „Ein vernebelte Blick bricht schnell das Genick.“
Ihr neuer Freund aus der Landschaft segelte zu ihr und spazierte stumm mit Nora durch das tropfnasse Gras. Sie fröstelte und fingerte nach dem Briefkuvert in ihrer Jackentasche. Seit Tagen trug sie es ratlos mit sich. Nun zog sie es aus hervor und entfaltete das eingesteckte Blatt. Wohin sollte sie diese leere Seite führen? Auf dem weißen Grund erschienen plötzlich Worte. Nora staunte erschrocken: „Rabe, sieh, plötzlich steht hier etwas.“
Der Schwarze hüpfte auf die Frau zu, drehte neugierig seinen Kopf zur Seite und sie las ihm die Zeile vor: „Besinn dich auf das, was du bist, und lass dich nicht entmutigen.“ Kaum gelesen, verlöschten die Worte.
Das ist schwer, dachte Nora und sprach die Worte des erloschenen Zettels nochmals leise vor sich hin „Besinn dich auf das, was du bist, und lass dich nicht entmutigen.“ Der Fluss der Zeit reißt schon lange an ihren stützenden Flanken. Kratzt am Stolz und spült die Gewissheiten davon. Aus den Schrammen perlt Angst. Die bekämpfte die Frau immer schon zuerst. Denn die Angst spukt und treibt die Gespenster im Kopf an. Bis zur Schockstarre. Gegen diese Angst setzt Nora alle Tage eine schöne Empfindung: Eine Zeichnung, eine kluge Zeile, einen Liebesbeweis. In diesen Momenten stärkt sie sich selbst und gewinnt ein Lächeln im Tag. Aber reicht das für den inneren Aufbruch? Der Wandel all ihres Seins ist unübersichtlich. Sie muss sich dafür rüsten. Wandel ist Risiko. Eine Stimme aus dem Off ruft ihr belehrend zu: „Wandel ist Chance!“ Herrje, dass weiß Nora natürlich auch. „Es kommt auf die Perspektive an!“, murmelt die Frau der virtuellen Stimme auf der sicheren Ebene zu. Die schweigt daraufhin und Noras Gedanken fließen weiter: Wohin sollte sie aufbrechen?
Unter ihren Schritten raschelte das Laub. Mit jedem kleinen Luftzug wirbelte es golden zu Boden. Heitere Vergänglichkeit. Der Tag glänzte eben noch, als ein kalter Wind auffrischte. Der schluckte die Rufe des Raben weit oben im Blätterdom. Nora lief und lief. Das war längst kein Waldspaziergang mehr. Unmerklich war sie aufgebrochen, einfach weiter gegangen ohne Ziel und Absicht. Unterwegs schien es ihr, als würde sie von Stunde zu Stunde leichter. Nicht wie ein flüchtiges Gas. Die Gedankenschwere bröckelte und verwandelte sich in ein leichtes, stilles Lauschen, und der Wald lauschte nach ihr. Nora lief ohne zu suchen. Im Abendrot gelangte sie an eine Lichtung. Ein Bachwasser plätscherte und zog die Frau zu einer Baumbrücke. Sie sprang auf den mächtigen Stamm und balancierte hinüber zum anderen Ufer, wo ihr ein dunkler Mann im Frack die Hand reichte: „Ich habe lange auf Sie gewartet.“
Nora erinnerte sich plötzlich. Eines Morgens, als die Sonne gleich wieder im Wolkengrau unterging, stand er vor ihr: Im Frack mit einem Cellokasten in der Hand, betrat er das gläserne Café am Berliner Alexanderplatz. Er setzte sich zu ihr und ihrem Morgentee und plauderte oktavenreich wie vom andern Stern in ihr dumpfes Erwachen. Als er ging, fühlte sie sich eingeladen. Aber in dieser frühen Novemberstunde war sie zu einem Abenteuer noch nicht bereit. Die Verpflichtungen zerrten sie artig weiter. Vierzig Jahre lang blieb sie auf dem dünnen Pfad der strengen Regeln. Die Wahrnehmung jenes Morgens aber, blitzte manchmal als schillernder Traum-Ton in ihre kreisende Gedankenwelt. Jetzt, als sie nach seiner Hand fasste, hörte sie den feinen Klang klarer, lauter.
Als sie von der Baumbrücke ins Moos sprang, schwollen die Töne zu einem Requiem an, trunken vor Schwere, als wollten sie zu Bleitropfen werden. Doch da schwebten im Totentanz der Zeit flirrende Stimmen vom Dunkel ins Licht. „Komm, Nora, tanz‘ mit mir!“ „Schwing dich auf den Wind!“ „Dreh dich geschmeidig und kreise nicht die Gedanken!“ Die Stimmen kicherten und lockten. Aber die Frau war schwer von der unsäglichen Traurigkeit in dieser Welt. Jeder Tag eine Träne. Salzige Zeittropfen, in denen die Gedanken nicht frei sind. Sie laufen Schleife. Aber dennoch war sie ja aufgebrochen, als wüsste etwas tief in ihr den Weg. Leichter waren unterwegs nur die Schritte geworden.
Als er sie den Hang hinaufzog und ihr der Atem stockte, entschloss sie sich zu kämpfen. Auf dem Sandweg angekommen, löste der Mann im Frack ihren festen Griff und stieg flink auf den Kutschbock. Es sah so aus, als wollte er gleich wieder im Nichts entschwinden. Da rief Nora bestimmend: „Was ist los Kutscher, willst du ohne Passagier reisen?“ Der Dunkelmann sah sie lächelt an, sprang zurück auf den Weg, senkte den Blick, öffnete galant den Kutschenschlag und sie stieg ein. Auf dem roten Polster lag ein neues Kuvert. Als sie es nahm, zog die Kutsche heftig an, so dass es sie in die Kissen drückte. Eine rasende Fahrt begann. Hinter dem Fenster rauschten der Wald und später ein offenes Wellenland wie in einem Sog vorbei. Schauerbilder blitzen dazwischen auf: Ein Wütender mit Trillerpfeife, ein krummer Späher und eine graue, verschlagene Diebin. Sie versuchten die Fahrt zu stoppen – bleich vor Neid und Gier. Doch die zwei Schimmel waren schneller. So entkamen sie jenen Bildern, die der Schmerz gebiert. Wahrheit oder Rausch? Der Kutscher warf einen Schatten, also mussten er und die Situation wirklich sein.
Die Zeit schwamm. Noras Haut hatte an diesem Morgen plötzlich wieder einen frischen Schmelz. Sie perlte sich unmerklich aus dem Dunkel ihrer wunden Seele. Hatte sie die verzerrten Echos der Vergangenheit verstanden, gezähmt und damit verwunden? Nein, soweit war es noch nicht. Die alte, verbrauchte Zeit griff immer noch nach ihr und fraß die leise keimende Energie. Nora reiste, aber noch trat sie dabei auf der Stelle. Wie würde sie dem Bann entkommen? Und wann würde ihre Reise durch den Schmerz der Zeit enden? Der Kutscher hielt, als sie das dachte und deutete mit seiner Peitsche auf das ungeöffnete Kuvert. Sie nahm es, riss es auf, zog eine schlichte Briefkarte heraus und las erwartungsvoll: „Wenn du nichts mehr erstrebst, gelingt dir alles.“ Nora sah den Mann fragend an: „Ich soll aufgeben? Nicht mehr kämpfen und als Verlierer enden?“ Der Mann schüttelte seinen Kopf und murmelte: „Nur die Jagd loslassen.“ „Und dann, untergehen“, rief die Frau schrill-müde. Der Frackträger winkte enttäuscht ab und ging. Nora aber stieg missmutig auf den Kutschbock, schnalzte mit der Zunge und die Schimmel liefen langsam einem weichen Abendlicht entgegen. Sie ließ die Zügel locker, denn ihre Gedanken setzten ihr Stiche zu. Sie fühlte sich abermals zurückgeworfen in die große Ratlosigkeit. Wochenlang.
Im Waldsee badete das Licht, als Nora absichtslos durch die inzwischen spätsommerliche Heide pirschte. Sie suchte Steinpilze. Das Moos am Ufer schmatzte und wellte sich in einen Anstieg hinauf. Alle paar Meter fand die Frau einen malerischen Pilz nach dem anderen. Der Blick schleifte über den Boden. Als sie wieder aufsah, entdeckte sie mitten auf dem Moosberg einen rundlichen Mann in einem Meer aus Rosenblütenblättern. Er saß auf einem mächtigen Findling und las in einem großen Buch. Laut. Silbe für Silbe und lächelte. Nora staunte, wie lange der Mann auf einer Buchseite verweilte und es war ihr, als öffnete sich dabei die Zeit. Der Mann war nicht wirklich anwesend, er steckte in der Geschichte, die er las, als ein Teil von ihr.
„Was liest du da?“, fragte die Beobachterin.
„Schau‘ selbst!“ Der Mann stand behäbig auf und drückte ihr das große Buch in die Hand. Als sie es aufschlug, erschienen auf der blanken Seite die Worte: „Wenn Du das liest, beginnt Deine gute Zeit.“ Und sie bemerkte, dass was gerade durch ihre Gedanken huschte als Text in diesem großen Buch erschien. Es führte sie gewissermaßen zurück in die Handlung ihres Lebens. Unabänderlich, aber willkommen, es zu betrachten. Das große Buch vereinte während sie las all ihre Sinne. So las Nora erkenntnisreich bis zu jeder Stelle, in der sie den runden Mann auf dem Moosberg sah. Er war wohl inzwischen längst gegangen. Statt seiner saß Nora auf dem Findling und lächelte eine leere Seite an. Sie spürte in ihr Inneres und indem erschienen die Worte: „Kraftvoll und ruhig.“
© Petra Elsner
2016/2019
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