Zum Gedenken an einen guten Freund, den Apfelmann von Zehdenick, der nach schwerer Krankheit jetzt im Apfelhimmel wohnt, stelle ich eine hier meine erste Begegnung mit ihm aus dem Jahre 2010 ein.
Von der Leidenschaft zur Paradiesfrucht
„Apfelmann“ nennen ihn die Zehdenicker Kinder und der Name passt. Seine Wangen leuchten schön rot im Wind, doch mehr noch seine hellwachen Augen. Der Apfelmann schaut glücklich ins Land, denn er ist ganz bei sich selbst, und das kam so: Als die Schwiegereltern 1982 pflegebedürftig wurden, zogen Friedrun (62) und Jürgen Sinnecker (64), studierte Agrar- und Saatgutingenieure, von Trebatsch ins nördliche Brandenburg. Jürgen Sinnecker fand neue Arbeit bei der LPG, doch nach der Wende gab es hier kaum noch Jobs. So versuchte das Paar dort, an der Badinger Chaussee, auf einem Inselland inmitten weiter Felder, ein autarkes Leben zu entfalten. Dabei wuchs Sinneckers Liebe zur Deutschen Nationalfrucht spät.
2002 standen plötzlich Leute von der Ländlichen Erwachsenenbildung vor der Hoftür, und fragten, ob er denn nicht an einem Projekt zur Rekultivierung der Granseer Streuobstwiesen mitwirken würde. De facto war Jürgen Sinnecker seit 1990 arbeitslos. Ab und zu hatte er mal eine ABM, mal eine Weiterbildung: „Das war alles gut und schön, aber eine wirkliche Arbeit war es nicht“, meint er heute. Aber bei dem Streuobstwiesenprojekt war es anders. Die Berührung mit den alten Apfelsorten fachte etwas in ihm an – die Leidenschaft, empirisch zu forschen.
Etwa zeitgleich tauchte ein ORB-Auto unangemeldet bei den Sinneckers auf. Man suchte schöne Motive zum Thema „Brandenburgs Streuobstwiesen“, und filmte die Blüte in seiner Gartenplantage. Für Sommerbilder kamen die Filmer wieder, und zum Herbst war man auf der Landesgartenschau in Eberswalde zur Obstbestimmung verabredet. Jürgen Sinnecker hatte alte Apfelsorten dabei und wartete gemeinsam mit Dr. Schwärzel, dem Obstzüchterchef aus Müncheberg, auf die TV-Leute. Die waren mehr mit sich beschäftigt. Etwas genervt vertrieben sich die Wartenden mit Verkostungen die Zeit. Da sah Jürgen Sinnecker fasziniert das erste Mal, wie man einen Apfel dafür auseinander nimmt: Stiel, Blüte, – das Wetter und Wachstum anhand der Schale erklärt. – Dieses Sehen war die letzte Initialzündung.
Seither sucht der Apfelmann nach alten, regionalen Sorten: Den Lunow, Hasenkopf, Rote Walze, Ochsennase, Gravensteiner, Signe Tillisch … und lernte sie mit der Zeit fachgerecht zu bestimmen. Er ist immer noch ein Lernender. „Manchmal müssen die Pomologen aus Verzweiflung auch mal schwindeln“, scherzt der Mann mit warmer, sinnlicher Stimme, über zuweilen ratlose Apfelbestimmung bei Ausstellungen. „Ich kenn’ mittlerweile das Sortiment von Oberhavel – etwa 120 Sorten Naschobst. Und doch erlebt man immer wieder, dass die Sorten durch das Wetter verfälscht sind. Dann erkennt man sie schwer, und genau da beginnt die hohe Schule der Sortenbestimmung. Dr. Schwärzel kann genau sagen, ob die Äpfel aus dem Süden Berlins stammen oder aus dem Norden.“ Dass können wir noch nicht, stellt Friedrun leise vom Kanapee aus klar. „Muss ja auch nicht“, murmelt der Mann nach.
2004 machte sich Jürgen Sinnecker selbständig. Als Ich-AG für Baumkartierungen. Die nannte er „Kleines Umweltbüro Zehdenick“. „Doch dass ging nach hinten los, weil ‚Hartz’ begann, und die ‚Hartzer’ konnten viel besser die Bäume begucken“, meint er ironisch. Aber zur Eröffnung seines Umweltbüros hatte der Mann eine private Apfelausstellung in Gransee inszeniert. Und die Leute strömten mit Körben voller Früchte. „Eigentlich wollte ich, dass die Leute ihre Äpfel in der Ausstellung selbst finden. Aber sie wollen den Expertenrat.“ Die Sinneckers haben aus alten Büchern gelernt und sich bei Frau Dr. Grittner aus Markwart die Merkmalsbestimmung abgeguckt.
Inzwischen lebt der Apfelmann von seinen Ausstellungen in Menz und anderswo, von Vorträgen für kindliche und erwachsene Interessenten, von Baumbestimmungen, vom Baumbeschneiden und Kursen. Gern verteilt er auch Ratschläge zur Pflege: „Ein Baum braucht auch mal eine Schippe Kompost. Im Herbst die Rinde mit einer Drahtbürste bearbeiten und mit einem Kalkanstrich versehen. Der bekämpft Schädlinge und verhindert das Reißen der Rinde bei extremen Temperaturschwankungen, auch einen zu zeitigen Austrieb der Blüte …“ Und wenn einer noch einen alten Baum wünscht, womöglich einen auf dem platzsparend gleich zwei Sorten wachsen, dann verschafft er sich ortskundig junge Ruten und trägt sie zur Baumschule Fischer nach Lichterfelde (die für das „Genressourcen-Projekt Streuobst“ wirken), um den neuen, alten Baum aufpfropfen zu lassen. Die Nachfrage nach alten Sorten wächst, denn Jungbäume aus den Gartencentern, kommen oft genug auf den sandigen Böden der Mark nicht gut zurecht. Gesucht werden neben der alten Vielfalt widerstandsfähige Bäume, die mit den regionalen Bedingungen klarkommen. Wo er sie findet? „Ich habe für die Naturparks der Uckermärker und der Stechliner Obstkartierungen vornehmen dürfen, da kennt man die Ecken und Orte.“ Petra Elsner
Manche meinen, die abgewickelte Frau in Ostdeutschland sei 50 oder 55 Jahre alt. Vordergründig stimmt das, denn sie sind jene, die nach dem beruflichen Zenit, um ihre Lebensfrüchte betrogen wurden. Zehn Jahre jüngere Frauen standen zumeist exakt vor der beruflichen „Krönung“, als das Land sich wendete. Keine Seltenheit, nach frühen Mutterfreuden studierten viele junge Frauen neben Beruf und Familie. Mit 35 oder 40 Jahren begann ihr zweites Berufsleben. Nicht als Wiedereinsteigerinnen, sondern als gestandene, erfahrungsreiche Expertinnen. Anders die Absolventinnen der Jahre 1989/90. Sie fühlen sich Anfang der 90ger Jahre als Mogelpackungen, weil die meisten nicht mehr in die Berufspraxis kamen. Zu alt, zu teuer, zu unbekannt. ABM und Umschulungen wurden zur Überlebensformel, doch bis zur Rente ist es noch weit. So driften sie mit der Zeit in schlechtere Jobs.
Aufstieg ins Nirgendwo
Beate Wesenberg lebt gerne aus dem Vollen und wollte eigentlich hoch hinaus. Vielleicht, weil ihre Mutter noch ein Berliner Kellerkind war. In der Bergstraße 26 in Mitte, Hinterhof, gleich neben dem Kuhstall der Familie Zeyl. Beates Großmutter war blind und starb, als Mutter Wesenberg 22 Jahre alt war. Elend schärft die Sinne. Die junge Frau wollte raus aus der Armut und den Kellergeruch abstreifen. Der Mann ihres Lebens, ein westberliner Schornsteinfeger, machte es möglich. Diese Liebe wohnte nun im zweiten Stock des Hinterhauses, Bergstraße 70. Und dort, dem Himmel ein Stück näher, wurde 1953 Beate geboren. Sie sollte ein umsorgtes Einzelkind bleiben.
Als Dreikäsehoch erfuhr das aufgeweckte Mädchen von Mutter Wesenberg, Unter den Linden, in der Humboldtuni, da würde es später Medizin oder Jura studieren können. Tief war Beate dies seit jeher ins Gedächtnis gepflanzt und ließ Zukunftsträume keimen.
Hoch hinaus, das bedeutete in der DDR nichts Gigantisches. Nicht die Höhe eines Mont Everest oder ein teurer Platz wie die Wallstreet. Beate Wesenberg meinte nicht die Karriere und Macht an sich. Sie hatte es mit den Menschen. Für sie etwas eigenverantwortlich zu leisten, das gab ihr inneren Schub.
Aber Beates Leben machte zunächst etwas anderes, denn mit einem Leistungsdurchschnitt von 1,8 konnte man auch in der DDR nicht Medizin studieren. Aber über den Schleichpfad: Mittlere Reife – Fachschule für Krankenschwestern – Praxis vielleicht. Alsdann, zäh darauf los. Doch urplötzlich, ein Jahr nach dem Fachstudium, ließ die Sehkraft der jungen Krankenschwester nach. Bis zur Berufsunfähigkeit. Eine unbestimmte Angst züngelt seither in ihr. Werde ich blind wie Oma? Trotzdem, als liefe sie dem Licht nach, schulte sie augenblicklich zur Fürsorgerin um. Zwei weitere Ausbildungsjahre, ein Studium weit weg, nun beseelt von dem Wunsch, in der Jugendfürsoge zu arbeiten. Kaum war die Frau damit fertig, hatte ein Strukturwandel dieses Referat vom Gesundheitswesen in die Volksbildung verlegt und man forderte nun eine andersgeartete Qualifikation.
Schnitt, Klappe – da hatte die junge Schöne es zum ersten Male satt. Endlich leben. Theater und Tanz, ein bisschen Trudeln. 1977 schenkte sie Tochter Saskia das Leben. Wenigstens drei Jahre wollte Beate dieses Kind-Erleben ganz. Nicht gewöhnlich in dem Land, aber ein Prototyp ist die rothaarige Lebensfrohe in keinerlei Hinsicht. Selbst als es nach dem bezahlten Babyjahr finanziell eng wurde, denn ein Männergehalt war seinerzeit nicht üppig, verfiel sie in keine Kompromisse. Zumal Familie Wesenberg senior, die eine Etage über dem jungen Glück wohnten, halfen wo es ging: mit Babysitting, Geldspritzen, gebrauchten Möbeln, Urlaubsreisen. Indem machte die Frau schon wieder ehrgeizige Pläne. Während der letzten Ausbildung gefiel ihr besonders ein Fach: Rechtspflege. Gelegentlich besuchte sie Gerichtsverhandlungen. Die nährten ihr Interesse. Obschon, für das Jurastudium brauchte sie ein ordentliches Abitur. Eher spielerisch meldete sie sich in der VHS an. Noch waren es wohl eher Ausflüge in ihr zukünftiges Dasein. Keine sehr konsequenten, und so steckte die Volltime-Mama nach den Kursen zur 11. Klasse auf.
Zurück im Berufsleben, rückte die Frau näher an die anspruchsvolle Vision und arbeitete zuerst als Protokollantin, später als Justizsekretär am Lichtenberger Stadtbezirksgericht.
Auch Günter Wesenberg entschloß sich mit nun 28 Jahren zum Studium. Pädagogik, allerdings direkt. Sie gönnte ihm neidlos diese Erfahrung und gegen den Mangel ging das Paar wochenends kellnern. Irgendwann würde es anders sein. Bis dahin waren ja Theaterbesuche und Bücher, eben alles, was ihnen im Alltag wichtig war, leicht erschwinglich.
1982 war Beates Lust auf ein Jurafernstudium so angewachsen, dass der Berg keiner Anläufe mehr bedurfte. In diesen harten Jahren geriet der Vater zu Saskias erster Bezugsperson. Während die junge Mutter abends das Abitur nachholte und endlich 1984 neben ihrer Arbeit das Jurastudium begann, sicherte er das Hinterland. Wenn die müde Schöne heimkam, waren Kind und Haushalt besorgt. Nie vergaß der Mann freitags Blumen und Wein. Günter nahm an solchen Feierabenden die Gitarre zur Hand und sang seiner Liebe ein keckes Chanson. So kannte man sie von Partys, die zwei, die ad hoc Kästner und Tucholski zitierten und einander öffentlich Liebeslieder sangen. Sie waren garantierte Stimmungskanonen in geselligen Nächten. Seit der Wende Legende.
„Ich habe im geeinten Deutschland meinen Wert verloren“, sagt Beate ohne Pathos beim Kaffee am hypermodernen Küchentisch. Es ist Frühling, vier Jahre nach der Wende. An jedem ihrer Finger funkelt ein goldener Brillantring. Sie dreht einen und schaut leer zu mir herüber: „Den hab ich als Entschuldigung für ein blaues Auge bekommen.“ Nein, nicht von Günter. Die Ehe ist nach der Wende zersprungen. Nicht, weil sie schal geworden wäre. Nichts galt mehr in diesem Zwischen-Deutschland ihrer Geburt. Nicht die Bücher, nicht die Lieder, nichts was sie gelebt haben. Sie waren irritiert, zwei gelähmte Energiebündel, verunsichert und entsichert nach zuviel Wein. Zwei Menschen in zermürbender Warteschleife. Er als Lehrer, sie als frischgekürte Diplomjuristin mit 38. Bedenkzeit? Nein, Zitterpartie, Frustzeit ob der verlorenen Hoffungen. Die Vorwürfe gegen den Unrechtsstaat DDR mehrten sich in den Nachrichten. Wer war man/frau eigentlich? Sah sie nicht die Enge Verbindung zwischen Politik und Recht? „Die gibt es immer und überall“, beantwortet sie die Frage tonlos. „Recht ist ein Werkzeug der Politik. Auch heute. Denken Sie an den § 218 oder die Pflegeversicherung, wenn die Politik sich raushalten will, reicht sie die Angelegenheit nach Karlsruhe. Mein Interesse galt dem Straf- und Familienrecht. Da hatte ich damals das Gefühl, man könne den Menschen rechtlich beistehen. Die Gesetze waren für Laien verständlich und man konnte schnell und mit wenig Geld einen Erfolg sehen. Das ist heute völlig anders.“
Das Jahr 1990 hätte Beate noch als Richterassistentin beenden müssen. Je ein Vierteljahr Arbeitsrecht, Strafrecht, Zivilrecht und Familienrecht. Verhandlungen vor- und nachbereiten, Urteile formulieren. Dann erst hätte sie verhandeln dürfen, wäre Richterin gewesen. Noch war sie in der DDR-Justiz ein blütenweißes Blatt. Wenn schon, am 2. Oktober 1990 schloß man die Ostberliner Gerichte. Ja, derweil bekam die Innung am Stadtgericht eine halbjährige Ausbildung in Bürgerlichem Recht. Aber die Frau hatte einen anderen moralischen Kodex. War mit sich uneins, ob sie das neue Recht vertreten wollte und konnte. So vieles sträubte sich in ihr: Das Strafrecht empfand sie als zu mild und die Resozialisierung als zu wirklichkeitsfremd, die Gerichtskultur zu namenlos. Ihr Traumberuf bekam einen inneren Riß. Da eh´ niemand im BGB-Nachhilfekurs wußte, wird der DDR-Abschluß anerkannt, unternahm Beate das Nächstliegende: sie suchte nach einem Job. Vergebens. Entwertung wie schmerzhaft empfundener Würdeverlust nahmen ihren Lauf. Nie war sie so ohne ein Lachen, ohne Mut, so in Apathie.
Haltsuche. Der westdeutsche Kaufmann, dessen smarter Eleganz sie erlag, komplettierte nach emotionalem Zwischenhoch das menschliche Fiasko. Sie hatte sich eben für das zweite Staatsexamen entschieden und quälte sich rechtschaffend. Doch sein glücksritterlicher Drang nach Geld unterdrückte massiv ihre Neigungen. Gut, er hätte es schon als schmückend empfunden – seine Lebensabschnittspartnerin mit einer Anwaltskanzlei – nur, der Weg dorthin hätte nicht so belasten dürfen. So besetzte der Mann ihren Tag. Alles, was der Kaufmann an der Geliebten bevorzugte, ihr Temperament, ihre Lebensenergie, ihre Intelligenz, ihr Sozialempfinden, bekämpfte er sehr bald. Zuletzt war sie nur noch ein gutbehängter Schatten. Zwei Welten in einer nunmehr edel ausgestatteten Wohnung. Aber der bunte Vogel darin sang nicht mehr.
Das Examen hat sie, fast blind vom Lebensstreß, nicht bestanden. Er ist wieder ausgezogen, deswegen wurde die gereifte Frau nicht bitter, nicht hart. Ihre Lebenslust kam wieder. Sie ist so eine, die wird sich noch mit 70 enorm verlieben können. Am Kammergericht hat sie im Nachhinein ihre Augenbehinderung erklärt und bekam unerwartet eine zweite Chance. Doch es ist spät geworden. „Was soll´s? Ich bin nicht der Typ, der so etwas verspielt“, kommentiert sie die Situation. „Ja, das Lernen fällt mir inzwischen schwerer. Ich merke, daß ich 41 bin. Die Konzentration läßt nach und meine Augen erlauben mir nicht so viele Lesestunden, wie ich bräuchte. Insofern ist alles höchst problematisch. Und dann, mit einem sicher schwachen Examen in meinem Alter ein beruflicher Start? Das wird nichts mehr, ich hab´ zwar blaue Augen, bin aber nicht blauäugig. Wenn ich Glück habe, finde ich noch eine Stellung in der öffentlichen Verwaltung.“
Sie sitzt über dem kalten Kaffee und spricht nun sehr leise: „Ich habe seit der Wende an Wert verloren. Es gibt Menschen und Frauen in dieser Gesellschaft. Ich will mal mit John Lennon sprechen: ´Die Frau ist der Neger dieser Welt.´ Das stimmt. Egal, wo man sich bewegt, ob in der Ausbildung, wo man als Frau attackiert wird mit der Frage: Warum studierst du eigentlich, du gehörst gar nicht hierher, hast Familie, solltest dich um deine Kinder kümmern. Oder auf der Straße, in der Gaststätte, wo man von Männern schräg angemacht wird. Man steht als Objekt der Begierde da. Intellekt ist nicht gefragt. Ernsthafte Gespräche sind heute selten möglich, weil alles auf „Objekt“ hinausläuft. Du bist als Frau, hm, einfach nicht der Mensch, der du in der DDR warst. Da warst du schon in dem Moment anerkannt, in dem du beruflich etwas zuwege gebracht hast. Und schließlich haben ja seinerzeit fast alle Frauen gearbeitet. 94 Prozent. Man fühlte sich gleichwertig, oder man könnte auch sagen geschlechtsneutral, auch wenn es nicht immer und überall gerecht zuging.“
Beate Wesenberg, das späte Mädchen über 40, ist eben am Start. 17 einhalb Ausbildungsjahre nach der Mittleren Reife münden als Volltreffer im Leeren. Sie schluckt und resümiert mit tränenblanken Augen: „Jetzt will ich eigentlich nur noch zurück zu der Frau, die ich einmal war und weiß, das geht einfach nicht.“
(Buchbeitrag in: Die abgewickelte Frau, averbal verlag, 1995
– den Verlag gibt es nicht mehr)
Das Unternehmerpaar Christel und Wolfgang Titze eröffnen ihren Besuchern die weite Welt der Keramik. Foto: Lutz Reinhardt
Sie sind beide Profi bis in die letzten Haarspitzen, auch im Älterwerden. Unterwegs gereift, ist es profundes Wissen und die Routine, die immer wieder neu den Drang nach Perfektion aufruft. Christel und Wolfgang Titze waren als junge Menschen Vollblutjournalisten, später Chefredakteure. Nach der Wende gründeten die Zwei eine Agentur und entwickelten aus ihren Erfahrungen heraus Werbekonzepte für Unternehmen. Unter anderem für den Traditionsbetrieb Carstens-Keramik in Rheinsberg. Das sind die mit der bauchigen Kanne, die wohl auf jedem DDR-Abendbrottisch stand. Braun, marmoriert, gelber Musterkranz. Gewiss, ihre Agentur „futur press“ entwickelte sich gut, aber der atemlose Überlebenskampf forderte irgendwann Tribut. Die Gesundheit streikte. Damit schwand die Lust am Konzepten für andere.
Wolfgang Titze hatte in der 90er Jahren nebenberuflich Töpfern gelernt. Seither wuchs in ihm ein großes Faible für dieses Metier und eine Sammelleidenschaft. Als zweites Standbein betrieben die Zwei schon seit den 90ern eine Keramikscheune in Buckow in der Märkischen Schweiz. Als ihnen schließlich 2008 das Keramikhaus in Rheinsberg angeboten wurde, zögerten sie nicht lange. Es reizte, das einst entworfene Werbekonzept selbst umzusetzen. Sie verkauften ihre Agentur und stiegen in ihr nächstes Abenteuer ein.
Eigentlich wollten sie nun ein anderes Tempo leben, doch gemächlich – geht nicht. Christel und Wolfgang sind jetzt 64 Jahre alt, und sprühen immer noch diese Art von Leidenschaft aus, die mitreißt und Qualitätsmaßstäbe setzt. So wundert es kaum, dass sie inzwischen das Keramikhaus in der Rhinstraße 1 zur feinen Perle poliert haben. Hinter der Ladentür eröffnet sich einem die weite Welt der Keramik. Gekonnt inszeniert findet der Besucher ganz unterschiedliche Handschriften vor. Neben dem Fabrikverkauf von Carstens-Keramik präsentieren die Geschäftsführer ihre Entdeckungen: Oxidische und nichtoxidische Keramik, Feinkeramik, Grobkeramik, Aufbau-, Dreh- und Gießkeramiken. Vieles noch handbemalt. Alle dargebotenen Objekte sind gekauft und nicht nur in Kommission genommen. „Es ist unsere Art, fair mit den Handwerkern und Künstlern umzugehen“, erklärt es Christel Titze wie in einem Nebensatz. Im Vordergrund steht natürlich die Rheinsberger Manufaktur Carstens, deren Geschichte bis ins Jahr 1901 zurückreicht. Formen und Dekore, die damals für das Feinsteinzeug entstanden, bestimmen noch heute die Produktion. Seit 1762 wird übrigens in Rheinberg ohne Unterbrechung Keramik hergestellt.
Zwischen all den Scherben, den klitzekleinen Gussstücken und riesigen handgedrehten Gefäßen von der Scheibe bekommt man eine Ahnung vom ältesten Handwerk der Welt. Man sieht unterschiedliche Stile der Glasuren – welche mit Ascheanflug oder Salzbeigaben. Und durch die Herrlichkeit dieser Schau führt die Chefin souverän, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. „Porzellan ist nur eine Fassette. Es gibt Keramiker, die mit Porzellan ganz anders umgehen. Die glasieren es nicht, es kann rohe und matte Oberflächen haben …“ Ein paar Nischen weiter erzählt sie: „Das hier ist unsere ‚Galerie der Unikate’ mit künstlerischer Keramik. Seit 2009 sponsern wir einen Wettbewerb der Töpfer, die an Rheinsbergs Töpfermarkt teilnehmen. Für den Wettbewerb geben wir ein breit interpretierbares Thema vor. Zum Beispiel „Deckel drauf“ oder ein Zitat des Kronprinzen. Dieses Jahr heißt es ‚Auf drei bis sechs Füßen’. Das Interesse der Kundschaft an diesen Unikaten wächst inzwischen spürbar.“
Gewissermaßen im Hinterzimmer wächst indes still ein musealer Bereich. Es ist nicht zu übersehen, dass sich hier auch Wolfgangs Sammelleidenschaft auslebt. In dem kleinen Raum wurden erstmals zum 100. Jahrestag von Carstens Keramik die wichtigsten Stücke aus der Produktion von 1900 bis 2000 zusammengetragen. Gefunden auch in Tauschbörsen. Eine ständige Ausstellung über die Historie der Töpferei wird in den nächsten Monaten hier entstehen. Titzes sind längst europaweit unterwegs – auf Messen, Märkten, in Keramikateliers und haben etliche Töpferfilme aufgestöbert. Die werden bald in ihrem kleinen Museum Schleife laufen.
Aus der Überlegung heraus: „Wie nimmt man den Menschen die Berührungsängste gegenüber der Scheibentöpferei?“, entstand die Idee, besondere Tassen zu präsentieren. In einem Setzkasten für Hundert Stück. „Der ist zu unserem Türöffner zur Scheibenkeramik geworden. Denn Tassen sind so etwas Alltägliches – danach greift man unwillkürlich“, erklärt Christel Titze den Hintersinn. Neben gelegentlichen Personalausstellungen sind jetzt in dieser Schaustelle „Hundert schönste Tassen“ von unterschiedlichen Töpfern zu entdecken – als aufschlussreiches Detail im Gesamtbild.
Das Geheimnis, ein Thema durch gekonnte Akzentsetzung immer wieder neu und spannend aufzumachen, zieht sich magisch durch diesen schönen Ort. Gelebte Erfahrungswelt. Und dann ist da noch die Sache mit dem Becher, ihrem Rheinsbergbecher, ein limitiertes Sammelstück. Christel Titze erzählt:
Keramikkünstler Karl Fulle entwickelte den Jahresbecher Rheinsberg 2011 – eine limitierte Sammleredition. Foto: Lutz Reinhardt
„Wir wünschten uns ein eigenes Rheinsberg-Souvenir. Der ortsansässige Keramikkünstler Karl Fulle drehte schon immer Becher. Aber nun entwickelte er für uns den sogenannten Rheinsberg-Becher, oder genauer gesagt: einen Jahresbecher. Mit ihm wollen wir zeigen, dass die Geschichte der Stadt Rheinsberg eng mit der Herstellung von Keramik verbunden ist.“ Angesehene Künstler wurden in den Folgejahren gebeten, einen Jahres-Rheinsberg-Becher zu kreieren. Doch Vorsicht! Diese besondere Edition zielt darauf „die Leute mit unserer Leidenschaft für Keramik zu infizieren“, verrät die Unternehmerin. Sie lächelt dazu vielsagend, denn sie weiß, dem kann man sich nicht wirklich entziehen.
Sie mögen Extreme: Schrille Partys und stille Friedhöfe. Stadt und Weite. Mal sind sie graue Mäuse, mal schillernde Stadtfalter. Eben moderne Frauen, lebenshungrig, voller Lust und Energie und alleinstehende Mütter. Stadtmütter in Berlin mit internationalem Netzwerk. Scheinbar leicht nehmen sie die Tücken ihres Alleinseins, den kirren Alltag und die permanente Ebbe im Portemonnaie. Aber sind sie allein? Silke, Antje und Tecla waren sich zeitweise Wahlfamilie.
Foto: Petra Elsner
In New York klingelt ein Telefon. Der Logiergast Silke hebt ab und hört eine deutsche Stimme: „Erkennst du mich wieder?“ Die Vorstellung der Hörerin war vage. Antje schwärmt noch heute, wie schön Silke damals bei ihrer flüchtigen Berliner Begegnung war. Eine wilde, bunte Mauertänzerin, eine spontane Ostfrau, auf die kein Klischee passt. Silke ist die Neugier selbst, mit der Aura einer netten Menschenfängerin. Logisch, dass aus ihr eine Sozialarbeiterin werden musste. Für Antje war sie nachhaltige Entdeckung, wie die wellige Weite des umliegenden Brandenburger Landes nach dem Mauerfall. Damals – Anfang der 90er.
Hof in der Auguststraße 1993 Foto: Petra Elsner
Antje, die Träumerin, ist auch eine Schöne, oder besser: Eine kokette Anmut mit Schnauze. Irgendwie war es klar, wenn diese beiden menschlichen Strudel zueinander finden, entsteht mehr als ein Wellengang im Whirlpool. Erst galten sie sich nur als Menschen auf gleicher Welle, mit denen man Extremreisen antritt. Wie weit kommt man/frau durch Amerika mit wenig Geld? Silke hatte schon Söhnchen Theo, und Robert lebte noch mit ihr. Antje würde bald ihre kleine Tochter Lisa in Berlin bei den Großeltern in Pflege geben, um an der Filmhochschule in San Francisco zu studieren. Erst viel später, als Antje wieder ein Kind erwartete und deswegen nach Berlin zurückkehrte, sollten die Begegnungen mehr als ein Abenteuer werden.
Tecla, die dritte im späteren Bunde, kam etwa zeitgleich mit Baby und Mann aus Amsterdam nach Berlin und suchte nach einem Netzwerk. Gut, dass die Grüblerin augenblicklich bei Silke, der Netzeflechterin, den ersten Wohnunterschlupf fand. Diese neue menschliche Verbindung sollte ihr später Halt geben, als ihre Ehe brach. Wie gemeißelt wirkt die schlanke Gestalt, die mit Vorliebe in Overalls schlüpft. Feminin und burschikos zugleich. Den Mintgrünen hat Tecla wie vieles aus zweiter Hand. Aber die Grazie trägt ihn, als wäre er aus einem Nobelshop. Haltung ist eben alles. Schon mit 17 jobte die Holländerin als Fotomodell quer durch Europa. Mit 25 Jahren lernte sie Schweißen. Ab und zu findet sie in Kunstprojekten Kurzjobs. Dazwischen lebt sie von der Stütze. Das ist ihr unangenehm. Ihre Entscheidungen im Stau: Berlin oder Amsterdam? Zurück zur alten Liebe? Weiter im Risiko oder sicherer leben? Gedankenmarter. Selbständigkeit – Teclas Mutprobe? Vielleicht. Nur eines ist klar: „Ich will ein eigenes Schweißgerät kaufen, eine Kellerwerkstatt aufbauen und durchgängig Arbeiten.“ Wenn die stark mutende Frau wieder mal instabil wird, schaut sie auf die Freundinnen Antje und Silke. „Von ihnen lerne ich über Mauern zu klettern und schnell zu reagieren.“
Unverstellt über Alltagshürden
Inzwischen sind sich die Frauen mehr als nur spannender Freizeitvertreib. Ein, zwei Auslandsreisen mit den Kids unternehmen sie immer noch im Jahr. Aber noch vieles mehr. Denn – so oder so – sie leben seither nicht mehr mit den Vätern ihrer Kinder. Neue Männer gleichen Eintagsfliegen. Vielleicht weil in dem Alltag der Mütter die Verantwortung für den Nachwuchs wohnt. Zu stressig. Unbewusst bildeten die Frauen ihre Wahlfamilie, in der sie unverstellt leben. Gleich, ob eine Liebeskummer plagt oder eine Rechnung – „Ich weiß nicht wie?“ – zu begleichen ist, klingelt nachts reihum das Telefon. Jede behielt ihr Eigenleben. Das meinen sie, macht ihr Dreieck so interessant. Antje in Kreuzberg, Silke im Prenzlauer Berg und Tecla in Mitte. Donnerstags spielen sie im Monbijoupark Volleyball. Sonst treffen sie sich nur, wenn der Alltag zu heftig zuschlägt. Dann ziehen sie, bezaubernd verkleidet, in die Clubs von Berlin-Mitte. Allein die Verwandlung ist eine Lust. Die Kosten? Ah, das ist nur in dieser Stadt denkbar: Nachts, gegen 3.00 Uhr, da kann man um jeden Eintrittspreis handeln. Diese Deals übernimmt Silke vollkommen skrupellos. Oft umsonst oder für ein Spottgeld verschafft sie den Einlass in die ewige Party. Fehlendes Geld ist kein Grund daheim zu bleiben. Man kann abends unzählige Vernissagen und Kunstaktionen der Off Szene besuchen. Zutritt und Wein sind gratis. Aber Tecla kocht auch gerne mal für ihre Gäste, jeder bringt dafür etwas mit. Nebenan spielen die Kids Kinderhotel und die Frauen bereden sich. Selbstentdeckungsreisen: Wer sind wir wirklich? Antje beispielsweise fand irgendwann gar keine Zeit mehr für Männer: „Ich hatte zwar Lust, aber sie passten einfach nicht mehr in meinen Tag.“ Wer Räume verlässt, muss sich nicht wundern, dass sie anderweitig gefüllt werden. „Das sind die 90er.“ Konstatiert Antje ein wenig ratlos: „Niemand weiß mehr richtig, wie eine Beziehung mit Kindern aussehen soll. Jeder will seine Freiheiten, jeder kann sich allein ernähren. Jeder kann Karriere machen und es können Kinder dasein. Nur, wer zuerst? Total schwierig.“
Im Tacheles an der Oranienburger Straße Foto: Petra Elsner
Wir sind mehr als nur Mütter
Wenn die drei Frauen von Anfang Dreißig unterwegs und gut drauf sind, heben sie ab wie Teenager. Womöglich tragen sie gerade ihre roten Arbeitsoveralls. Die signalisieren schon von weitem: Die drei gehören zusammen. Silke erinnert sich: „Das war eine Idee auf unserer Reise nach Linz. Von Künstlern eingeladen, waren wir irgendwie zu kurz gekommen. Diese Erfolgsmänner ohne Kinder! Wir wollten eine eigene Idee durchziehen. Die roten Anzüge setzten wir danach als ein Zeichen: ‘Wir sind auch wer. Haben Kinder und ziehen unsere Jobs oder unsere Uni durch.’ Die Chancen werden noch kommen.“
Dazu gehört auch, sich einander Möglichkeiten, Freiräume zu schaffen. Wer Zeit hat holt die Kinder und umsorgt sie. Babysitter sind zu teuer. Silke erklärt: „Unsere Kinder sind nicht Hauptlebensinhalt. Sie gehören dazu, das ist akzeptiert. Aber wir schränken uns nicht ein, nur weil wir Mütter sind. Wir schauen darauf, was die Kids brauchen. Das muss nicht unbedingt und zu allen Zeiten die Mama, das kann auch mal der Opa sein. Aber dazu bedarf es eben auch toleranter Großeltern.“ Antje bekam das erste Töchterchen Lisa mit 17. Dennoch konnte sie ihr Abitur beenden und studieren. Beide Kinder wiesen ihr aber auch den Weg: Die Ausbildung durchhalten, um später unabhängig zu sein.
Als sie unlängst dreißig wurde, stand die Frau vor dem Spiegel und dachte bei sich: „Wau, ich hab’ zwei Kinder, Spaß, ich studiere, habe Jobs und Freunde. Ich fühle mich wohl. Plötzlich kippte der Gedanke. Warte mal – du hast nichts! Auf dem Konto Null. Nun gut, sagte ich mir, das hast du jetzt lang genug gelebt. Schaff’ jetzt Sicherheiten. Seither erarbeite ich neben dem Studium für ntv und SAT1 3D-Animationen. Acht Tage im Monat, das bringt schönes Geld. Nichts für immer. Ich bin wohl inzwischen die Kapitalistischste von uns dreien. Will einfach Geld besitzen, um mehr Freiheiten zu haben.“
Silke hat immer noch permanent plus-minus-Null auf dem Konto, verrät aber gelassen: „Ich konnte mich während der letzten vier Studienjahre problemlos darauf einstellen. Ich lass’ einfach viel weg und improvisiere. Es muss nicht das neue Möbel sein, es ist eben eines vom Trödel. Klar habe ich anfänglich über Nebenjobs nachgedacht, entschied aber, diese Zeit gehört meinem Sohn Theo. Um Reisegeld zu verdienen, nutze ich lieber einen Teil der Semesterferien. Ich bin ja bereits gelernte Erzieherin, kann also bei allen möglichen Kinderferienprojekten mitmachen. Im Alltag helfen geldlose Tauschgeschäfte: Ich kann Nähen und brauche zum Beispiel Korrekturleser für meine Diplomarbeit. Dann tauscht man/frau Fähigkeiten. Das Bafög stocke ich mir durch Jogaunterricht auf, den ich einmal wöchentlich gebe. Obwohl Tecla und ich auf dem Minimum leben, jammern wir dem Geld, das wir nicht haben, nicht hinterher.“
Einander stark machen, um neu durchzustarten
Die Freundinnen-Familie war nicht geplant. Bis jede wieder etwas anderes lebt, konnte sie entstehen, weil sich die jungen Mütter ähneln. Was die eine nicht hat, ersetzt die Stärke der anderen. Antje skizziert: „Manchmal leben wir alle Gefühle zu intensiv – Traurigsein, Sehnsucht, Verlassensein oder Liebe und auch den Spaß. Aber wenn man das erträgt, kann man alles auch Leben. Jetzt spüre ich, ich möchte mich mal wieder mit einem Mann auseinandersetzen. Das kommt fraglos demnächst. Eine Zeitlang nur mit Frauen auszugehen, Balance zu finden, sich gegenseitig lebensfit zu halten, das war für uns alle hilfreich. Aber irgendwann nervte das – nur Frauenkontakte.“
Zwischenzeit in Berlin eben. Und bestimmt kann die sonst so klammernde Silke auch wieder loslassen: „Egal, was passiert, ich weiß jetzt, da sind Menschen an meiner Seite, die immer nach mir schauen werden. Auch wenn die Entfernungen wieder größer werden. Die Angst, dass jemand von mir geht, die kannte ich nur mit Männern. Antje und Tecla haben die von mir genommen. Ein schönes, ein freies Gefühl.“
Das Land, in dem Milch und Honig fließen, liegt gleich links in dem Wäldchen vor dem Zehdenicker Ortseingangsschild. Dort lädt Bienenklaus von Mai bis Oktober in seine Gläserne Waldimkerei. Über einen stillen Sommerweg gelangt man in ein verwunschen schöngrünes Dickicht, in das der 65-Jährige Gänge, Tunnel und Plätze geschnitten hat. Gleich einem Abenteuerspielplatz. Doch dieser spannende Grünplatz kann mehr, er ist ein „Grünes Klassenzimmer“. Wunder der Natur erlebbar machen und Nachwuchsimker entdecken, darum geht es dem heiteren Mann. Natürlich sind ihm auch erwachsene Besucher willkommen, die sich, beispielsweise zur Landpartie, für das Leben der Bienen interessieren.
Bienenhusen Foto: Lutz Reinhardt
Für kindliche Gäste beginnt die Führung in einer echten Jurte mit einem „Bibelfrühstück“, also Milch und Honig, dazu ein knusperfrisches Brötchen. Bienenklaus will, dass die Kinder „mit allen Sinnen lernen. Und Schmecken ist am nachhaltigsten. Aber darüber hinaus hat er sein üppiges Wissen rund um das Bienennaturell – von der Steinzeit bis zur Gegenwart – in und auf Lehrtafeln gesteckt. Mal hinter Klappen, dann hinter Tafelflügeln, in Schaukästen, auf Dreh- und Rollwänden – alles, um die Aufmerksamkeit der Kids wach zu halten – zwei Schulstunden lang.
Der Bienenklaus Foto: Lutz Reinhardt
Auf diesem Bienenpfad erfährt man alles über die Leistungen der Honigbiene für die Menschheit, über ihren Staat und die Bienenaufzucht. Der Hausherr hat vor Ort an alles gedacht, an einen Holzbackofen für die frischen Brötchen. Einen Lagerplatz, auf dem man rasten und ein warmes Essen selbst bereiten kann. Anschaulich zeigt Bienenklaus, alias Klaus Becker, in einem „Schulhäusel“, wie die Biene lernt, Trachten zu finden und dabei bewegliche Flugrouten „berechnet“, die den Verlauf der Sonnenbahn einkalkulieren. Anhand eines Insektenhotels erzählt er über die Verwandtschaftsverhältnisse zu Solitärbiene, Hornisse, Wespe.
Im Bienendorf „Bienenhusen“ geht es um den Hochzeitsflug der Königinnen, und dort öffnet der Mann auch einen echten Bienenstock hinter Glas. Es brummt und wuselt mächtig. Hier ist auch der Letzte vollkommen beeindruckt. Damit nicht genug, in einem kleinen Fernsehstudio kann man in den Stock hineinsehen, erleben, was sich tut im Volk der Bienen zwischen Wächtern, Wasserträgern, Arbeitsbienen, Ammen, Drohnen und Königin. Näher geht’s nicht. Wer diesen Waldschauplatz am Rande der Schorfheide wieder verlässt, ist nicht nur schlauer, sondern auch verzaubert von einem älteren Herrn, der Leidenschaft versprüht.
Eigentlich wollte Klaus Becker schon als junger Mensch Berufsimker werden. Jahrelang hatte er in einer Schul-AG fasziniert gelernt. Aber zu DDR-Zeiten gehörten Berufsimker zu den LPGen, in denen man glaubte, Imker wären im Winter arbeitslos. Dann hätte er Ställe ausmisten müssen, worauf er nicht sonderlich erpicht war. Also lernte er KfZ-Schlosser. 1997 bekam Klaus Becker einen Bandscheibenvorfall, der ihn berufsunfähig machte.
Da saß er nun und langweilte sich. Irgendwann, in einem Urlaub auf Korfu, sah er ein paar Bienenstöcke in der Landschaft und erinnerte sich. Daheim las er alles, was er über Bienen und das Imkern in die Hände bekommen konnte. Sehr bald kommunizierte er mit Bienenforschern und indem wuchs seine Idee vom „Grünen Klassenzimmer“. Aber Klaus Becker war Frührentner und ohne Vermögen, was ihn nicht einschüchterte. Beinahe alles, was zu seiner Gläsernen Waldimkerei gehört – vom Grundstück, dessen Erschließung, den Waldhütten und Lehrplätzen hat Bienenklaus mit Hilfe von Sponsoren auf die Beine gestellt. Er konnte wirklich viele von seinem Konzept begeistern, vom OBI-Chef bis zum ortsansässigen Förster.
Obgleich der Mann seit Jahren verwitwet ist, ist er in seinem Reich nicht wirklich allein. Er tankt Energie und Freude in der Natur. Wenn Gruppen zu ihm kommen, spielt Uwe aus Zehdenick für die Gesellschaft die „Hausfrau“. Der schiebt die Brötchen in den Ofen, und Klaus erzählt herzhaft-beredt. Wenn es wieder still wird, lauscht Klaus dem Summen der Bienen und denkt sich dabei ein neues Schaustück aus.
In der Schönower Heide am Aussichtsturm. Foto: Lutz Reinhardt
Dort, wo der Ziegenmelker in die Nacht flattert und eindringlich sein Quirooquirooquiroorri knarrt, schöpft sich das lange zerschossene Land aus der Natur neues Leben. Auch sehr seltenes, wie die Glattschlage oder den Ziegenmelker. Michaela Tiedt-Quandt führt auf Wunsch Naturfreunde in die Schönower Heide, hoffend, den Ruf der drosselartigen Nachtschwalbe aufzuspüren. Wenn, dann tönt er stundenlang in die Abenddämmerung. Bei aufsteigendem Vollmond betört das Bild alle Sinne.
Am Aussichtsturm zum Wildgatter schenkte uns die Frau, die eine feste Wurzel in der Heide geschlagen hat, eine interessante Stunde bei Holunderblüte- und Kornblumentee und erzählte beherzt vom Schönower Heide Verein e. V.. Der kümmert sich gemeinsam mit den Berliner Forsten um die Hege und Pflege dieser märkischen Landschaftsperle. Die schimmert besonders herbstwärts im nuancenreichen Lila. Die Besenheide färbt dann das 534 Hektar große Naturschutzgebiet zu einem Warmtongemälde. Kaum vorstellbar, dass dieses Revier allein auf Menschenhand basiert. Ohne den Eingriff wäre die Heide längst wieder Wald und ihre mosaikartigen Strukturen aus kleinen Baumgruppen, weiten Silbergrasfluren, Moosen und Flechten und offenen Sandern verloren. Auf einem Rundwanderweg (zwei oder sechs Kilometer) kann man all das im Wandel der Jahreszeiten erleben. Und mit etwas Glück kann der Wanderer auch scheues Wild bestaunen.
Michaela Tiedt-Quandt schwärmt für die Forstwirtschaft. „Du erlebst die Jahreszeiten, bist immer draußen – es ist einfach schön.“ Und so wundert es kaum, dass sie auch leidenschaftlich für den Naturschutz eintritt. (Foto: Lutz Reinhardt)
Während wir Michaela Tiedt-Quandt zuhören, lässt sich leider kein Hirsch erblicken. „Aber gestern haben die Hirsche dort in der Tränke gebadet“, erzählt die Forstwirtin, Waldpädagogin, Landschaftsführerin, Mutter dreier erwachsener Kinder und Chefin des Schönower Heide Verein e.V.. Sie ist nicht die klar, dominante Frontfrau, das ist der Zarten gar nicht so gegeben. Sie kommt eher als heitere Frohnatur daher, die Dinge gut verteilend, damit sich das Arbeitsbündel besser bewältigen lässt. Getragen wird sie dabei von ihrer Liebe zur Natur, und wenn sie diese Umwelt erklärt, sieht man förmlich ihr Herz lächeln: „Wir befinden uns in Brandenburg, dem Naturpark Barnim, und im Moment auf Grund und Boden der Berliner Forsten. Anfang des 20. Jahrhunderts kaufte das Land Berlin in Brandenburg vor allem Waldflächen auf, um Erholungsmöglichkeiten für die ständig wachsende Hauptstadt Bevölkerung zu schaffen. Die Schönower Heide gelangte in den Besitz Berlins, als Flächen rund um Schönow für die Verrieselung der Berliner Abwässer erworben wurden. Sie wurde dann jedoch als militärisches Übungsgelände genutzt. Die heutige Schönower Heide war Land, das für den Ackerbau nicht nutzbar war. Nach der Wende wurde im Jahr 2000 die Schönower Heide zum Naturschutzgebiet erklärt. Dafür gekämpft hat der Ortsbeirat von Schönow. Der stellte zugleich die Gründungsmitglieder des Vereins. Adelheid Reimann als Ortsvorsteherin war auch Vorsitzende. Das war zunächst eine politische Sicherung, erst mit der Zeit lernte der Verein laufen.“ Und weil es aus Michaelas Sicht in dieser Gründerzeit inhaltlich nicht zügig voran ging, machte sie gelegentlich murrend ihrem Unbehagen Luft und 2009 plötzlich hieß es: „Mach es doch besser“ und sie wurde Vereinsvorsitzende.
Rund 40 Mitglieder hat heute der Verein, Schüler (die „Heidekinder“) und Naturliebhaber, die schützenwerte Natur pflegen und erklären. Die ansprechende Ausstattung des Rundwegs, des 140 Hektar großen Wildgatters mit dem hölzernen Aussichtsturm und Wanderrastplatz übernahmen die Berliner Forsten – im Rahmen ihres Wildtierbeweidungsprojektes, um die Heide vor der Verbuschung zu schützen. Zwischen den Forsten und dem Verein besteht eine enge Kooperation. Der Verein hat Futterkrippen für Notzeiten finanziert. Von Oktober bis März ist er in der Landschaft aktiv. „Aber da muss ich nicht überall dabei sein, wir haben jetzt taffe Leute beieinander. Es gibt die AG Entbuschung, die haben alle einen Motorsägenschein gemacht und schneiden Kiefern und Birken aus dem Gelände. Die Heidekinder schaffen kleine Stein- und Borkenplätze als Lebensräume für Kleintiere. Andere Vereinsmitglieder geben die Landschaftsführungen durch die Heide für jedermann. Die Ziegenmelkerwanderung führt Michaela, die Hirschbrunftwanderungen im September/Oktober ihr Mann Hartmut und auch den Gang durchs Wildgehege. Etwa ein Viertel ihrer Freizeit geht bei ihr für die Vereinsarbeit drauf. „Das nächste was ansteht, ist der Bau eines zweiten Aussichtsturms auf der Hälfte des Rundweges und die Pflege der Erholungseinrichtungen, sprich Sitzgruppen. Schilder müssen erneuert werden und auch der Parkplatz sollte erweitert werden … es gibt viel zu tun.“
Sie sieht sich nicht „als der besondere Mensch, sondern ich repräsentiere eine besondere Landschaft“ – und das macht sie ganz zauberhaft, mit all den anderen im Heideverein und lässt zum Abschied einladend wissen: „Wir suchen immer wieder neue Mitstreiter jeden Alters.“
Weitere Infos unter: www.schoenower-heide-verein.de, Kontakt: 03338 – 704439
Postadresse: Schönower-Heide-Verein e.V., Schönerlinder-Straße 25 A, 16321 Bernau
Der Museums- und Brigantenchef Bernd Eccarius (Mitte). Foto: Petra Elsner
Schatz- und Sinnsucher sollte ein Museums-Chef schon sein, aber Degen- und Schwertkämpfer nicht zwingend. Nur für Bernau war und ist dieses Zusammenspiel eine besondere Fügung. Und so beherbergt die Stadt im Steintor nicht nur das weltweit einzigartige „Hussitenmuseum“, sondern auch diesen unikaten Zeremonienmeister dazu: Bernd Eccariuns. Naturgemäß ist ein Museumsleiter auch Sammler, „versucht Lücken zu schließen, nimmt Sachen auf. Aber die größte Entdeckung in meinem Leben waren meine Kinder für mich. Und der größte private Fund war meine jetzige Ehefrau. Dass man so etwas noch einmal findet – einen Einklang – hätte ich nicht gedacht“, gesteht er, immer noch überrascht. Beruflich – im Museum war der Fundus selbst seine große Entdeckung: „Ich kannte das Museum lange nur von außen. Als ich das erste Mal im Steintor war, staunte ich wie groß es ist, und wunderte mich über diese Sammlung, dass es solche Stücke wie diese Rüstungssammlung in Bernau gibt.“
Der Historiker kannte sich damals schon gut mit Rüstungen aus und wusste sogleich: „Das es so etwas anderswo nicht gibt, nur als Nachbildungen.“ Aber Bernau hat die Originale. 1989 wurde Bernd Eccarius hier Museumschef. Was wohl so kommen musste, denn schon während seines Leipziger Studiums, wurde er in seiner ersten Prüfung nach der Geschichte der Hussiten befragt. Eine Dreiviertelstunde lang, aber nie und nimmer hätte er gedacht, dass es mal Thema seiner Arbeit sein würde. Und wie Eccarius dieses historische Zeitenbündel präsentiert – spielerisch und schrankenlos, berührend, mit Esprit und zugleich kraftvoll, das kommt auch nicht von ungefähr, denn in dem Manne mischen sich die gepflegten Talente zu einem schmackhaften Cocktail.
Als Schüler, während seiner Berufsausbildung mit Abitur in Jüterborg, spielte er im Arbeitertheater und im Kabarett. Seine Lust daran kommentiert er jetzt so: „Witz heißt ja, sich geistreich mit einer Sache auseinander zu setzen und auf den Punkt zu bringen.“ Diese Denke hat den Mann begeistert. Er lernte damals Zootechniker, weil der Vater wollte, dass er Tierarzt wird. Aber der gebürtige Bad Freienwalder trat das Tierarztstudium nicht an, ging sogar drei Jahre zur Armee, um so dem Delegierungsverhältnis zu entkommen. Er suchte eigene Wege. Aber während dieser Lehrausbildung hatte er bei Schlossereiarbeiten erstmalig Eisen in der Hand. Von daher stammt sein u.a. handwerkliches Können, ein Schwert zu schmieden. Es zu führen lang auch am Weg zwischen Theater und sportlichen Versuchen. Aber das geschichtliche Interesse war in ihm schon viel früher erweckt: „Mein zweiter Geschichtslehrer war mein erster Judotrainer“, erzählt Eccarius den Teil des roten Fadens, der sich für ihn bis ins Heute spinnt. „Der erste war Jäger. Er hat uns Geschichte in der Natur gezeigt. Steinformation, Hünengräber usw.“ Da war es passiert, „Wau, man läuft übern Acker und findet eine Steinaxt … nicht sonst wo, sondern bei uns um die Ecke. Das sind Schlüsselerlebnisse für den Beginn einer Leidenschaft.“
Es waren die negativen kindlichen Erlebnisse in Museen – „wo man nichts anfassen durfte und nur stumm zuhören musste“, die ihn Historiker werden ließen. Denn er wollte es anders. „Aber wie macht man Geschichte schmackhaft?“ Das ist sein Thema, und indem kommt der Mann ins Plaudern und erzählt etwas aus der Geschichte des Kaffees. Von einem Kaffeehändler, der die erste Caféstube in Wien eröffnet und beinahe pleite ging, weil niemand das bittere Getränk wollte. „Seine Haushälterin fragte nach dem Warum und meinte schließlich, wenn er nicht schmeckt, muss man ihn schmackhaft machen, etwas hinzutun, was die Leute haben wollen. Gegen die Krümel gibt es das Filtern. Gegen das Bittere nimmt man Honig oder Süßstoff und gibt Sahne hinzu. Damit war die Wiener Melange entstanden, die ihren Siegeszug durch ganz Europa nahm. Und genau so ist es auch mit der Wissensvermittlung. Man muss es den Kindern servieren, wie es ihnen schmeckt.“ Sagt es und lächelt. Schmackhaft machen – das ganze Geheimnis des Zeremonienmeisters, der als Markenzeichen fast immer Basecap trägt.
In bis zu drei Führungen am Tag bietet der Museumschef Spannendes, Spielerisches und dabei immer etwas zum Mitmachen an. Zu 90 Prozent hängen die Kinder nach zehn Minuten an seinen Lippen, und mancher will dann später mit den Eltern wiederkommen – mehr geht wohl nicht.
Oder doch? Die Außenwirkung des Brigantenlagers während des alljährlichen Bernauer Hussitenfestes ist schon enorm. Eine kraftvolle Komposition zur mittelalterlichen Geschichte mit hohem Erlebniswert. Der Brigantenchef Eccarius immer voran. Das Spielerische hat er in seiner Leipziger Zeit bei den Kaskadeuren gelernt. In Musketierszenen. 1992, als die Hussitenfestspiele wiederbelebt werden sollten, war er mit seinem Sohn in einer Kampfsportgruppe in Wandlitz zugange und fragte einfach ringsherum: „Wollt ihr Fechten lernen?“ Breite Schwerter aus Baustahl entstanden dafür. „Das konnte man auch besser machen, alte, tschechische Kumpels halfen. Eccarius besuchte Seminare, lernte dazu, probierte das historische Fechten, darüber entstand das Bernauer Schwertkämpfertreffen, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.
Steintor mit Hungerturm in Bernau bei Berlin zum Hussitenfest. Foto: Petra Elsner
Aus gegebenem Anlass, weil meine Freundin Trilli schon wieder einmal das Quartier wechselt (17489 Greifswald, Domstraße 13) und man/frau sie darüber nicht vergisst (inzwischen ist sie in Erfurt…),
stelle ich hier mal ein Porträt von Ihr vor, dass aus unserer Berliner Zeit stammt:
Gabriele Trillhaase Foto: Petra Elsner
Die Ginkgofrau weht ein rauer Wind ins Café. Sie raucht einen dieser krummen Zigarillos, die an Wurzelwerk erinnern. Nach dem animalischen Arbeiten an einer Lederhaut, muss sie erst einmal abschlaffen. Den Rausch verschnaufen. Die Spiegelbilder von Gabriele Trillhaase sind Abbilder ihres Seins: naiv-sinnlich-erotisch. Die blinken und funkeln aus dem samtigen Grün-Braun-Blutrot, als sängen sie mal laut, mal ganz leise: „Sieh in Dein Selbst.“ Ja, auf die stimmigen Kompositionen ist die Trillhaase mit Recht stolz. Aber zu ihren Kritzeleien meint sie ganz ungeniert: „Ah, was sie bedeuten? Lauter kleine Pimmelmännchen.“ Sie bestellt einen Schoppen Weißen und erklärt dann doch näher: „Die geritzten Zeichnungen sind gewollte leichte Natürlichkeit. Ein Abarbeiten, um zu verstehen. Ich bin zwar ein friedlicher Mensch, aber ich werde dennoch konfrontiert mit: Einsamkeit, Alkoholismus, Gewalt, Neid, Missgunst oder mit meiner eigenen Geilheit. Ich will wissen, wie kommt das. Wenn ich’s verstehe, bin ich ruhiger und kann damit umgehen.“
Die Frau nippt am Wein und fragt mich: „Kennst Du schon meinen Ginkgo-Engel? Nein? Musst Du Dir ansehen. Gestern hab’ ich ihn abends auf der Husemannstraße postiert. Darüber einen Scheinwerfer. Ich wollte sehen was passiert. Aber es war nicht viel. Ich saß in dem Flutlicht wie unter einer Glocke und die Vorbeigehenden dachten: Dort dreht man wieder einen Film. Und wollten nicht stören. Dumm gelaufen.“ Die begehrte Sonnabendnacht auf der ächzenden Touri-Meile des Berliner Prenzlauer Berges ist vorbei und damit ein mögliches Geschäft. Sie schmaucht gelassen an ihrem Zigarillo, wirkt dabei wie die Dietrich, so herb-verführerisch-schön. Trilli weiß um ihre Wirkung. Und wenn jemand bei einem Fest darum bittet: „Ach sing uns doch ein paar Lieder von der Liebe“, dann holt sie spontan eine weiße Boa und den Kassettenrecorder herbei und verbreitet ein Glücksgefühl. Die Träumerin wandelt sich indem zum verführerischen Vamp. Süße Spätlese von Ende 40. Ihr Hunger auf Leute und kreative Suche halten sie jung und in Atem.
Anderntags. In der Husemannstraße 7 im Hof unterhält die Ginkgo-Frau ihr Atelier. Es riecht süßlich nach Leder und Salmiakbeize. Ernste Musik erfüllt kathedralenhaft die anderthalb Räume. Sinne fluten gehört zum Wachsein der Frau. Das war keineswegs immer so. Vorzeiten, in Erfurt, führte sie noch ein zufriedenes, bequemes Leben ohne Eigenart. Elektroingenieurin war sie, während ihr Mann mit der Folkgruppe „Brummtopf“ aufspielte. Sein Freitod riss sie 1983 aus ihrem Frieden. Diese bunkernde Lebenswunde trieb die Schöne mit zwei kleinen Töchtern in ein nachdenkliches Alleinsein, aus deren Schmerz mit der Zeit Schmuckstücke wuchsen: Ketten, Broschen, Reifen. Das erste Eigene. Gleich nach der Wende schon wieder passé und, inzwischen in Berlin, schon wieder die Frage. Wovon nun leben? Sie stieß auf das Ginkgomotiv und eine neue Idee: Spiegel und Leder. Ein Kontrastprogramm aus hart und weich, keimte in winzigen Augenspiegeln. Jedes Detail ein aufwendiges Einzelstück. Aber Erwerbszwänge und die bittere Erkenntnis: Du musst billiger werden nötigten sie sehr bald zur Serienfertigung mit drei Stanzeisen. Finanziell ging es nun besser. Doch: jemand hinterfragte den Stolz der Kleinproduzentin: „Und was bitte, ist mit deiner Kreativität?“ Das gab tief innen einen Stich.
Seit 1991 sprudeln nun auch großformatige Arbeiten aus Trillis Phantasie. Sie schaut auf ihren Ginkgo-Engel. Mannsgroß ist das bizarre Sinnbild karibischer Lust. Ginkgoblätter symbolisieren für die Kunsthandwerkerin: „Liebe und Zweisamkeit. Man weiß eben nicht, ob es Eins ist, das sich in zwei teilt, oder zwei, die sich in eins verbinden…“ Mit diesen fächerartigen Blättern der japanischen Silberaprikose hat sie es andauernd. Und Leute, die ihre Ledervarianten mögen, sterben nicht aus. Seit einem Jahr fertigt eine geschützte Werkstatt den zeitlosen Trillhaase-Schmuck. Auch eine Marktfrau wird indes davon satt. Trilli organisiert den Vertrieb, entwickelt neue Stücke und nimmt sich wieder Zeit für große Spiegel-Bilder. Farbenreiche, überschäumende Lebensschreie oder samtige Ruhebilder.
Sie erzählt von ihrem Schaffensgenuss: „Da liegt so eine Kuh, eine große wertvolle Haut vor mir und ich muss mich entscheiden. Wie ein Bildhauer seinen Stein beschlägt. Sobald ich die Aale draufsetze, ist die Linie vorgegeben, unveränderlich. Das ist eine schöne Herausforderung.“
Vom Schneidplatz wechseln wir hinüber in die alte Küche, die heute als Färberei dient. Zwischen gestapelten Töpfen erklärt sie weiter: „Sind die Linien geschnitten, werden die Ornamente, Figuren oder Linien mit Tuschen nachgezeichnet oder gefüllt. Zuletzt kommt ganz normale Holzbeize drauf. Die vermischt sich, die verschwimmt wie ein Aquarell. Oft mache ich Sachen unbewusst und begreife erst hinterher, was da passiert ist. Bei der jüngsten Ausstellung in Templin beispielsweise erfuhr ich, warum ich dunkle Spiegel-Bilder mache: Es war natürlich eins mit Ginkgomotiv. Das dunkle Leder hat etwas Sanftes. Eine Frau tritt davor und sagt: ‘Zum ersten Mal schaue ich beruhigt in einen Spiegel.’ In diesem Werk ist meine Sehnsucht nach Harmonie aufgegangen. Und das ist für mich Erfolg: Anzukommen.“
Sie hält es mit dem Spruch von Böll „Mit Ungeduld auf Geduld setzen.“ Seit die Ginkgo-Frau lernte, den Dingen (nicht untätig) Zeit zu lassen, wuchsen aus ihr unverwechselbare Schmuck- und Beziehungsstücke. Winzige „Selbstbewusstseinsspiegel“ beispielsweise mit liebevollen Texten. „Die großen Spiegel und Spiegel-Bilder“, verrät sie zuletzt, „ergaben sich mit der Zeit aus den kleinen“.
Kennen Sie diese tollen Plakatkalender der Anke am Berg? Ein langgestrecktes Wuselwerk (42 x 119 cm) in knallbunten Farben. So viele Jahrestage, so viele Gestalten, schrullige und sehr zauselige. Den Sonntagen ist ein sinnreicher Spruch zum Bedenken geschenkt. Das Kalendarium der besonderen Art gibt eine Ahnung von dem weiten Bilderkosmos der Zeichnerin, zugleich aber ist es auch ein bildschönes Brandenburger Fenster. Denn unter den erfundenen Gestalten sind natürlich echte Brandenburger – die lauten, aber schüchternen und im Grunde ganz herzlichen Landeskinder.
Anke am Berg Foto: Lutz Reinhardt
Wenn Anke von ihren Flügelwesen erzählt – dem Grübel-Engel, den rüsselnden Wanderern, den brummige, hexigen, trötenden Wesen in Pink oder Tschitscheringrün; den Flatterpiepern, den königlichen Nixchen und dem Ritter, den satten Stubentigern, Schneemännern, wütenden Kerlen und Schneckendödels, Räubern und verliebte Glühwürmchen … – wird sie hippelig wie diese Wesen selbst. Ist es ein Rüsseltier, von dem sie gestikulierend spricht, wächst ihr förmlich (doch unsichtbar) ein langes Nasenteil, so aufgeweckt und herzfroh erzählt sie. Spritzig und glasklar wie Quellwasser. Sie wäre eine prächtige Lehrerin für Kunst und Mathematik in Bernau geworden, doch dann kam die Wende, und alles ließ sich noch einmal neu denken und wählen. Dabei war die Lust auf kreatives Arbeiten lauter.
Zeitgleich zum Pädagogikstudium hatte Anke schon zu DDR-Zeiten das Fach Illustration in Leipzig belegt, extern. Jetzt konnte sie es wirklich werden: Illustratorin, ihr Traum. Zunächst bei „das blatt“ als Grafikerin, dann als Art-Director bei der Kommunikationsagentur PUBLIC. Doch das war noch nicht das wirklich freie Arbeiten. Sie wollte es unbedingt (ein Glück für uns!) und streifte 2001 alle Sicherheiten ab. Seither schafft als freiberufliche Grafikerin und Illustratorin.
Inzwischen unterhält sie ihr Dachatelier im flachen Panketal. Einen Berg ist dort weit und breit nicht in Sicht. Aber weil es in der Umgebung so viele Menschen mit dem Namen Göritz gab, wie die Frau bürgerlich heißt, wählte sie die Übersetzung aus dem Altslavischen. Darin heißt Göritz = am Berg. So kam die Anke zum Berg. Wie Sisyphus? Ein bisschen bestimmt, denn das Ende einer Arbeit ist auch immer wieder Neuanfang. Lange Zeit ohne Pause. Hunderte gezeichnete Wesen gibt es indes aus ihrer Hand. In Kinderbüchern namhafter Verlage (Aufbau, Cornelsen, Herder, Polygraphic, Schott, Westermann) ebenso wie für ein Weihnachtsbuch, das sie mit ihrer Schwester 2012 herausgab. Sie hat Christian Morgensterns berühmte „Drei Spatzen“ (Eulenspiegel) illustriert, „Die Hexe Annabell“ (ArsEdition) oder „Josephs Weihnachten“ im Kreuz Verlag und vieles anderes mehr. Doch es ist ein stilles, konzentriertes Geschäft, das nach 15 Jahren nach Gesellschaft ruft. Deshalb gibt die Frau jetzt Workshops, Kurse und nimmt seit drei Jahren im Barnim am Tag der offenen Ateliers im November teil. Da kann der Interessent entdecken, das sie zwischendurch auch in freier Malerei Leinwände bearbeitet, mal wild, mal verträumt – der Inspiration, nicht dem Kopf folgend – sehr spannend. Das Zeichenwerk wird weiter wachsen und auch zum nächsten Jahreswechsel dürfen wir uns alle auf einen neuen „Krims & Kram“- Kalender von Anke am Berg freuen.
oder in der Galerie Bernau, im Grünbär Bernau, im Fabula Buchladen Zepernick, im Fremdenverkehrsamt Eberswalde und im Buchladen im Helios Klinikum Berlin-Buch.
Es ist drei Jahre her, dass mein Malerfreund Eckhard Böttger nach Qualen
am 25. November 2010 das andere Ufer erreicht hat.
Er war ein Großer und es gibt viele, die ihn vermissen.
Im Gedenken an ihn:
Der Landsucher: Der Boden bebt. Morgens, abends. Solange Eckhard Böttger denken kann. Unweit frisst die Schraube Dörfer. Das Kreischen kommt näher. Böttgers Hof ist verkauft. Für ein Spott-Geld. Das Dorf gähnt verlassen. Selbst der Friedhof ist in ein Massengrab geräumt. Darin die Eltern des Malers. Atemschwere Erde. Alle Wurzeln sind gekappt, doch Phantomschmerz buckert. Der Maler sucht die losen Enden, muss immer wieder nach ihnen fassen, solange es noch möglich: dem Wind, der durch Klingmühl fegt, folgen. Hinter den Braunkohlebaggern wird das Dorf Ödland sein. TABULA-RASA.
Also aufheben, was sich noch findet. Eine Briefmarke, ein Löschblatt – BEWAHREN.
Die Verluste sind es, die uns Lebenswerte spüren lassen. Zwischen Verharren und Aufbruch entsteht Kraft und die Idee zu dem: Wie lebt man nun weiter?
Der Weg begann mit Ton, Erden, Kohlenstaub und Asche. Mit allem was der Boden Klingmühlischer Höfe hergibt. Draußen malen, nur mit Pinseln und Wasserflasche unterwegs. Der Stoff, aus dem Böttgers Tagebau- und Dorf-Bilder sind, findet sich vor Ort. Ein herumwehender Schnittmusterbogen von irgendjemandes verwaistem Nähplatz wird collagenhaft eingearbeitet, Malgrund für jene Erdenwesen, die ohne Land sind. Flüchtige Schattenrisse. LANDSUCHER.
Böttger ist ein Landsucher. Ein Wandler zwischen dem Diesseits und Jenseits. Der erzählt feinnervig prosaische Bildgeschichten. Ist einer, der festhält, dem Schmerz Gestalt gibt, nicht nur als Maler. Aus alten Treppenbohlen schlägt er Figuren. Als würde er jenem, der ein Leben lang die knarrende Treppe auf- und abstieg, ein Zeugnis geben: Du warst hier. Ich kenne dich, halte dich in meinen Gedanken.
Die Weiden von Böttgers Hof hatte ein Fremder beschnitten. Dass daran noch wer dachte in dem totgeweihten Dorf. Ein paar Triebe nahm der Maler mit. „Seine Weiden“ hängen jetzt in seinen Fenstern, gebogen zu Köpfen, bespannt mit Seidenpapier, darauf mit Beize getuschte Gesichter. Die schauen vom dritten Stock eines Plattenbaus in Finsterwalde ins brache Land und bestaunen die Stille. Denn urplötzlich verebbte das Sauriergebrüll.
Die Dorfräumung kam kurz vor der politischen Wende in der DDR, nach letzterer die Krise in der Lausitzer Braunkohle. Klingmühl ist seither ein Nirgendwo. Nur einige trotzige Alte blieben, zum Sterben und geistern derweil durch die Totenstille, die nur das Zirpen der Grillen zerreißt.
Eckhard Böttger kann diesen Ort nicht loslassen. Dort war der Vater Bergmann. In jenen Wiesen lag der Junge himmelschauend oder tollte selbst- und zeitvergessen durch nahe Wälder. Eine Landschaft sehen lernen, die ruhespendende Kraft der Natur in sich aufnehmen. Noch unerklärlich. In diesem Dorf probierte der Heranwachsende sich aus: Imkern, Gitarre spielen, mit einem Lehrerfreund Wettzeichnen. Wer kopiert am besten alte Meister? Beharrlich, ganze Regenferien lang. Restaurator wär der Böttgersohn damals gern geworden. In Klingmühl verdichten sich die Erinnerungsfetzen freudreicher Kindheit. Sorgenfreie, liebevolle Tage. Nur das Kreischen, das Schreien der Erde aus der Ferne dröhnte immer schon bedrohlich. Es kündete vom Ende. Seit sich Böttger malend ausdrückt, wuchs da ein Band, ein inneres, zum Tagebau-Thema. Das ist so straff, fast mörderische Fessel, dass mir beim Betrachten eine Gänsehaut wächst. Aber das muss wohl sein, denn der Stoff hat’s in sich:
„Ich weiß, die Dinge wirken unheimlich düster. Aber, das ist doch auch eine fürchterliche Tragik: Leute gehen zur Arbeit und baggern sich weg. Wahnsinn ist das“, erschaudert der Maler selbst, während er über seine Motive spricht. „Da kommt innerer Druck auf. Wie stellst du das dar? Wie erhältst du den Leuten IHR Stückchen Erde? Das bringt man über Porträts nicht rüber – die Dramatik, wie, sagen wir, eine alte Frau, die mit ihren Tieren sprach, in einen Stadt-Plattenbau ziehen muss. Kann man das malen? Plötzlich hatte ich’s: OBJEKTE zu meinen erdenen Bildern. Da waren jede Menge Milchprüfflaschen im Dorf. Die standen schon lange bei mir. Versteckt. Wusste nicht, was damit werden würde. Schließlich habe ich die kleinen Flaschen mit Sand, Asche und Kieseln von den Häusern und Höfen im Abbruch gefüllt – je nach Beschaffenheit, ohne Gestaltungsidee. 66 Stück, unbeschriftet, einfach zum in die Hand nehmen. Das hier ist Herdasche. Der Herd ist das erste und letzte im Dorf.“
Ich nehme schweigend so eine Flasche in die Hand und fühle plötzlich Traurigkeit, Zorn, Mahnung in mir aufsteigen. Das ist der letzte Rest einer abgerissenen Existenz. Sehe dazu auf Böttgers Aschebilder. Einen Engel, einen Phönix und abermals die Landsucher als sich auflösende Formen in einer sich auflösenden Landschaft. Schaue auf und blicke in zwei hellwache Augen. Darin glänzt Kampf. Der Mann klagt nicht. Er empört sich: „Ich wehre mich dagegen, dass wir hier in der Provinz als Menschen 2. Klasse gelten. Sicher, eine Großstadt ist quirlig. Tausende Möglichkeiten. Ein Dschungel. Aber wo knallt’s denn wirklich?“ Schreit er nun fast. „Stimmt schon, auf die Probleme der Welt bezogen, ist so ein fressender Tagebau nichts. Und vom Flugzeug sieht das Drama auch ganz winzig aus. Aber für mich und die Leute hier ist es ein Thema und ich habe dadurch meine Daseinsberechtigung. Ich hab‘ mir lange überlegt, was das noch mit Kunst zu tun hat. Ob es nicht eher eine Art Dokumentation ist.“
Inzwischen hat er die Zweifel verworfen. Ohne Frage, die Arbeiten zur „Dorfbegehung“ lassen sich nicht verkaufen. Sie haben musealen Wert. Aber in der Abgeschiedenheit, allein in der Auseinandersetzung mit diesem schwerlastigen Thema, auch wegen mangelnder Temperafarben fand Böttger seine expressionistischen Mittel, seine Eigen-Art. Weg von den Vorbildern Georges Rouault bis Karl Hofer, die nach der Hochschulzeit sein Werk beeinflussten. Böttger’s Farbsymbolik ist einzigartig und die reduziert sich nicht von den Stoffen her auf die mit Leim gemischte Erden, Aschen, Kohlenstaub. Ersatzweise Abtönpasten bei großformatigen Gemälden wie dem „Baggergeräusch“ oder zuweilen beidseitig getuschte Beizen auf transparentem Seidenpapier, worauf sich beispielsweise seine „Landsucher“ wiederfinden, ergeben intensive Effekte. Böttger hat auch Farben, es kommt auf das Thema an.
Einer, der sich mit dem Sterben seiner Landschaft, den Ursachen und Folgen, den Deformationen beschäftigt, muss schon ein stückweit lebensbejahenden Optimismus in sich tragen, um daran nicht zu zerspringen.
Der kleine, zähe Mann mit dem Brechtschnitt hat selbstironischen Witz. Sagt der doch zu unserer telefonischen Verabredung. „Also wenn Sie auf dem Finsterwalder Bahnhofsvorplatz eine kleine, graue Maus neben einem roten Auto sehen, die gerade eine Ode an den Mond vorträgt, dann bin ich das.“
Der Mond hat’s ihm angetan. Warum?
„Frauen sind für mich wie Tauben oder wie Mond. Oder besser wie Mondsicheln. Also der Mond – ähm, nehmen wir die Frauen erst mal beiseite. Also wenn der Mond absackt, ist er ganz weit weg, aber nicht kalt. Die Sonne ist für mich schwarz. Der Mond blau. Die Farbe mag ich einfach. Warum lässt sich schlecht erklären, ist eben halb verrückt, einfach irre, so ’ne leuchtende Kugel am Himmel zu haben. Und Mondsicheln sind nach meiner Empfindung wie Frauen. Lange schon. Dann habe ich wirklich in der Literatur einen Hinweis gefunden, der die Sichelform als Symbol für Frauen erklärt. Genauso wie die Form der Vögel. Haben Sie schon einmal einen Vogel in den Händen gehalten? Was man da fühlt: wie das Vogelherz rast, ’ne Angst zu fest zuzudrücken oder, dass er fortfliegt. Fürchterlich, der Gedanke, einer Taube den Hals umzudrehen. Sie haben für mich einfach was mit Freiheit und Sesshaftigkeit zu tun.
Himmelskörper gehören in meine Bilder. Sonne oder Mond. Das hat nichts mit dem Licht zu tun. Die Sonne sticht, ist aggressiv. Mein ‚Sonnenkind‘ strahlt. Für das Tagebauthema suchte ich lange nach dem: Was mache ich mit der Figur? Eine Landschaft ohne Figur steht nicht für mich. Also, ich musste welche erfinden: Mondkinder, Sonnenkinder, Erdenkinder – Landsucher. Landsucher sind für mich ungeheuer wichtig. Leute, die nach einer neuen Heimat suchen. Dass die jetzt darüber hinaus noch die Wendestory assoziieren, dafür kann ich nicht. Aber es kommt dazu.“
Böttger ist dünnhäutig und ein Verletzter, der sich selbst nicht mehr irritiert. Schwere Zeiten, Unwohlsein wie Unbehagen sind für ihn die produktivsten Phasen. Das sagt einer, der kaum Pausen für sich zulässt. Wenn, dann ganz bewusst für die Familie.
Moni und die zwei Söhne – das Wertvollste um ihn. Seine Frau fand er in Meißen, wo beide Porzellanmaler lernten. Sie trug ihn und seine Lasten mit: Die exzessiven Malphasen im Freien mit Lehrlingsfreunden und die daraus rührende Hinwendung zur professionellen Malerei. Die Zeit der Kunsthochschule in Dresden. Die Rückkehr in die Lausitz, wo es für sie keine Porzellanmalerei gab. Moni gab ihm Halt, während seiner Enttäuschung über die Enge der Menschen in der Heimat. – Gartentür zu und keinen reinlassen. – Die Krisen. Die Isolation. Die Aufbrüche und Kontaktsuche. Langsam fanden Böttger’s neue Freunde. Am Ort und überall im Land. In Finsterwalde wäre der Maler verhungert, oder er hätte zarte Aquarelle anbieten müssen. Doch er blieb stur und sich kompromisslos selbst treu. So war der junge Maler schon zu DDR-Zeiten viel unterwegs. Den studentischen Lebensstil behielt die Familie bei. Das macht sie unabhängiger, nur ein Auto musste sein, der Mobilität wegen.
Als Maler hat Eckhard Böttger mit der Wende „nur“ seinen Harlekin verloren. Zirkus, Mensch und Akt ist die grobe Klammer weiterer Themen. Sein Harlekin stand für das Masken-Leben in der DDR. Ironisch bis zynisch. Er, der Maler, selbst in dieser Maskerade ein Clown. Der Moralist. Empfindsam. Der mag Menschen, glaubt nur an sie, obgleich hinlänglich und immer aufs Neue von ihnen enttäuscht. Mit DEM Volk hat er Probleme. Von dem ehemaligen DDR-VOLK fühlt er sich verletzt. Man sollte sich über derartige Gefühle nicht wundern, die jemand hat, der in jenes deutsche Zwischenland hineingeborgen wurde und es für sich als eine unverrückbare Größenordnung empfand. „Ja, die Wende wirkte auch auf mich befreiend. Aber wenn so ein blödes Wortspiel ‚Wir sind DAS Volk! – Wir sind EIN Volk!‘ eine ganze Politik ändern kann, und ein wichtiges Buch, ein gutes Lied oder Bild kann es nicht, weil’s keiner aufnehmen kann oder will, dann ist das für mich ziemlich erbärmlich. Heute würde ich keine Emotionen mehr an irgendeine politische Richtung verschwenden. Mich interessiert DAS Volk nicht mehr. Meinetwegen sitz‘ ich damit in irgendeinem Künstlerhimmel. Bitteschön, aber eben nach meiner Fasson. Es ärgert mich einfach, dass heute jeder primitive Löffel, der sich lieber ’nen Porno als ein Theaterstück reinzieht, und der auch sonst von nichts ’ne Ahnung hat, nur weil er Land besitzt, einen dicken Max schieben kann. Das ist meine Enttäuschung.“
Das kommt bitter aus ihm, umso gewisser ist’s, er wird seinen Harlekin wiederfinden, in irgendeiner Jackentasche, um abermals einigen Zeitgenossen, böse den Spiegel vorzuhalten.
Sein Finsterwalder Atelier musste der Maler inzwischen aufgeben. Die Kosten. Ein paar Monate war die Böttger-Vierraumwohnung mit den Werken des Malers verstellt, unlängst aber gab ihm das Finsterwalder Museum ein neues Arbeitsquartier.
„Hah“, belacht er trocken die vergangene Situation. „Was meinen Sie, was jetzt so losgeht. Die Riesenarbeitslosigkeit hier in dieser Region. Ich kann immer malen, notfalls wieder draußen. Wie oft werde ich gefragt: ‚Und, hast du noch deinen Job?‘ Und ich darauf: Ich war nie, und ich werde nie arbeitslos. Mir nimmt niemand den Job weg. Plötzlich überlegen die Leute. Fragen sich, was macht der eigentlich? Finden schließlich, Künstler seien etwas, die geben sich selbst Arbeit. Da steckt ’ne Menge Anerkennung drin. Das heißt nicht, dass sie die Bilder mögen. Nein, es geht um dieses Aus-Sich-Heraus, was bewundert wird. Zu DDR-Zeiten war es viel schwieriger, sich als Künstler zu bestätigen. Wir haben als Anfänger oft darunter gelitten, dass man uns an dem Haus eines Verbandspräsidenten gemessen hat.“
Heute heißt die „heilige Kuh“ anders: Kunstmarkt. Böttger lässt sich heute wie damals davon nicht beeindrucken. Oder doch? Schon: gelegentlich angewiderter Rückzug. Es beeindruckt den Mann viel mehr, wenn eine Arbeitslose ihm einen Druck abkauft, damit er und seine Familie über den Monat kommen. Restwärme aus der ehemaligen DDR? Vielleicht, vor allem aber: ACHTUNG.
Nicht die Konkurrenz nervt ihn, sondern die Art und Weise, was und wie Kunst in westlichen Galerien gehändelt wird. Das Oberflächliche. Für die Ost-West-Kunstdebatte hat Böttger nur eine Bemerkung: „Seitdem Baselitz uns Ostdeutsche Künstler als Arschlöcher bezeichnet hat, wo er doch selbst von hier stammt, weiß ich, dass er Angst hat.“
Böttger schlägt sich ohne großes Gewese durch. Eine Warnemünder und eine Galerie im Rheinland vertritt ihn. Warum nicht eine Cottbuser?
Er hat’s nicht mit den Klügeln, ist eher ein Einzelgänger und als solcher lieber viel unterwegs, um auf die Menschen zu treffen, die seine Arbeiten spontan und ohne lange Warteschleife annehmen. Nichts gegen die Leute in Cottbus oder Senftenberg. Er mag sie und sie scheinen ihm alle sehr interessant. Nur, er muss fahren, sonst erstickt er an der Finsterwalder Enge. Begraben werden will der Mann hier nicht. Obgleich er mit seinen Erdtönen genau hier im Brandenburgischen wurzelt. Eine Gegend nach seinem Sinn wäre Mecklenburg. Ein Traum, denn er ist nicht einmal für einen Arbeitsschuppen kreditwürdig. Hätte der Maler Geld, würde er eine Töpferei aufbauen, einen Dreher einstellen und mit Moni malen. Aber ist nicht, jetzt noch nicht. Doch die Bilderwelt eines Eckhard Böttgers kennt viele andere Malgründe.
(Buchbeitrag in „Arbeitslos bin ich nie“, 1994, KIRO Verlag)
Ecki Böttger vorne, dahinter (v.l.n.r.) Moni Böttger, Musikclown Jopi, Petra Elsner, Norbert Zallmann bei einem meiner Berliner Atelierfeste. Foto: Lutz Reinhardt
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