… Die Worte hatten einen langen Weg und ein Echo kam über sie, so dass jedes einzelne noch lange in dem Baum nachhallte. „Ist gut!“, rief Ken zu Wallo hoch. „Ich habe verstanden, du kannst wieder herunterkommen. Das wäre mir wirklich angenehmer. Ich gucke dir lieber beim Reden in die Augen als auf deinen großen Zeh.“
Kaum hatte das Ken gesagt, wickelte sich Wallo wieder um ihn. Es sah so aus, als säße der Junge in einem grün leuchtenden Nest. Wenn er nach Wallo griff, fasste Ken immer ins Leere. Wallo war ein Lichtstreif und so nicht zu fassen. Aber ganz offensichtlich war er da, bewegte sich, sprach mit Ken und lebte also.
Wallo blinzelte Ken freundlich zu: „Nein, ich kann keine Wünsche erfüllen. Aber wenn du träumst, dann reise ich mit. Ich sehe, was du siehst, und fühle, was du fühlst, und das ist doch was Besonderes. Wer weiß schon genau um den anderen? Aber das klappt auch nur, wenn du in dieser Höhle sitzt, denn dann bist du einfach in mir, dem Baum. Verstehst du das?“
Ken wusste das nicht genau. Er verstand nicht, wie er in Wallo sein konnte, wenn er doch neben ihm saß. Aber das war nicht so wichtig. Den Umstand, dass er auf jemanden getroffen sein sollte, der genau das mitdenken konnte, was er sich erträumte, fand der Junge umwerfend. Denn es war für Ken oft die größte Schwierigkeit, sich jemandem verständlich zu machen. Meist klappte das nicht. Entweder schlossen sich an solcherart Erklärungsversuche endlose Moralpredigten des Vaters. Danach war von Kens Meinung nichts mehr übrig oder es gab gleich Missverständnisse und Krach. Ohne Worte verstehen – das war ausgesprochen reizvoll. Aber Ken beschäftigte noch eine andere Frage: „Erklär mir das bitte, Wallo, warum soll das Ganze nur in der Höhle klappen?“
„Ich weiß nicht“, antwortete der grüne Lichtstreif, nachdenklich in sich gewunden. Er kringelte sich ein Weile, so, als würde er sich irritiert die Haare raufen, dann schoss er wieder gerade vor Kens Nase und sprach: „Womöglich, weil du nur bei mir Teil meines Daseins bist. Gehst du, kann ich dich nicht sehen, weiß nicht, wem du begegnest und was dir dort draußen, unter den Menschen, geschieht.“
„Na gut, aber warum kannst du dich nicht in meiner Jackentasche ganz klein machen, und so mit mir kommen“, wollte Ken wissen.
„Weil dann der Baum keine Seele mehr hat“, erklärte Wallo geduldig.
„Aber der Baum ist doch tot. Es wird ihm bestimmt nicht schaden, wenn du mit mir einen kleinen Ausflug machst“, drängelte Ken. „Ich kann dir die Stadt zeigen. Wenn du schon solange schläfst, wirst du sie kaum wiedererkennen.“
Wallo wallte hin und her. Er schien regelrecht aufgeregt. Sein Grünlicht leuchtete greller und flackerte dabei. Offensichtlich machte ihm Kens Vorschlag zu schaffen. Schließlich stammelte er Ken zu: „Ich war noch nie außerhalb des Baumes.“
„Hättest du dazu Lust?“, fragte Ken.
„Ich denke schon“, erwiderte Wallo.
„Warum tun wir es dann nicht einfach? Was soll schon geschehen?“, ermunterte der Junge den Geist.
„Es ist schon dunkel draußen. Man könnte mein Leuchten sehen. Und was geschieht meinem Baum? Ich weiß, du möchtest am liebsten gleich mit mir losziehen. Gedulde dich etwas. Ich muss darüber nachdenken. Komm morgen. Morgen sage ich dir, was ich entschieden habe. Jetzt aber geh, es ist spät.“
Bei diesen Worten streichelte der Grüngeist Kens Wange. Daraufhin schob er das Kind zum Höhlenausgang und blickte ihm mit glimmenden Stielaugen nach. Er wollte Ken den Pfad etwas beleuchten. Dabei spähte Wallo einen kurzen Moment in das Draußen. Es war ihm ein wenig unheimlich, so wie Ken zuerst die Dunkelheit in der Höhle. Was würde ihn dort erwarten? Dann schlängelte sich Wallo wieder in den Baum und verfiel in einen grüblerischen Wachtraum.
Ken war richtig aufgeregt auf seinem kurzen Wegstück nach Hause. Er hatte einen Vertrauten gefunden. Irgendwie staunte er sehr darüber, wie schnell sie einander mochten. Schließlich kannten sie sich erst ein paar Stunden. „Stunden. Auweia!“, erschrak sich Ken. Es musste schon nach 21 Uhr sein. Er hatte völlig die Zeit vergessen. Der Vater wird zornig sein. Längst müsste Ken im Bett liegen.
Der Vater war zornig. Er fragte nicht lange. Ken hatte kaum die Wohnungstür hinter sich zu und war von den vier Treppen im Laufschritt noch ganz außer Atem, da hatte er schon eine Ohrfeige abgekriegt. Wortlos. Der Vater zerrte ihn mit hartem Griff ins Kinderzimmer und knallte sogleich wieder die Tür hinter dem Jungen zu. Es würde kein Abendbrot geben. Ken fingerte nach der Gummibärchentüte in seiner Jackentasche. Sie war noch fast voll. Wissend, er würde das Magenknurren beruhigen können, zog er sich aus und kroch unter seine Schlafdecke. Während Ken ausgestreckt lag, schob er ein Gummitier nach dem anderen in sich rein und dachte an Wallo…
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