Das 1. Klausurstück:
Die verlorene Geschichte
Der Traum war greifbar. Elias Kühn wälzte sich verstört durch seine Bettlandschaft. Er war sich ganz gewiss, dass diese Geschichte, die eben noch seinen Traum berührte, irgendwo vergessen auf seinem Schreibtisch lag. Eine abgelegte Geschichte. Aber warum? Noch war ihm so, als müsste er nur tief genug in dem Stapel loser Blätter kramen, dann würde er sie wiederfinden. Worum ging es doch gleich? Der Traum hatte ihn mit einer Zeile verlassen, einer Zeile, die diese Geschichte vervollständigen würde. Aber sie war flüchtig, und der Zettel für Nachtgedanken auf dem Tisch neben dem Bett war leer. Das gibt es doch nicht, so eine wunderbare Zeile war das. Er spürte sie noch, aber wie lautete sie doch gleich? Ähm, er raufte sich die Haare und grübelte: irgendwas mit VERÄNDERUNG. Oh je, dachte Elias Kühn, VERÄNDERUNG konnte so vieles bedeuten. Wo anfangen, wo aufhören? In seinen 60 Lebensjahren hatte sich andauernd etwas verändert, und meistens war dieser Wandel nicht Verbesserung, sondern meist nur schriller, lauter, greller. Er kam aus der grauen Zeit, und heute spürte er, es waren seine goldenen Jahre. Ob seine Geschichte in jenen Tagen spielte? Doch wo war sie? Er schlurfte zu seinem großen Schreibtisch, der seit Einzug des Computers nur noch als Ablage diente, so gewaltig, dass sie mit dem Turmbau zu Babel durchaus mithalten konnte. Davor stand er nun und wuchtete die Stapel umgedreht vom Tisch auf den Fußboden und nahm mit dem ältesten das erste Blatt und las:
2. Januar 1979. Meine Goldfische sind erfroren. Alle. Auch die Guppys. Mutter hat das Aquarium vor die Haustür getragen und umgedreht, da rutschte der Inhalt als Eisblock in den Schnee. Sah schön aus, ist aber traurig. Als wir aus den Bergen zurückkehrten, waren die Wasserleitungen zugefroren und das Klo geborsten. Vor unserer Haustür lag eine mannshohe Schneewehe. Mutter und ich schippten mit knurrendem Magen, denn wir hatten eine 16stündige, verpflegungslose Heimfahrt hinter uns. Es dauerte, bis das Holzfeuer im Küchenofen den Raum erwärmte und Mutter eine Schneewasserbrühe mit eingeschlagenem Ei kochte, die besänftigte das Knurren…
Elias Kühn schmunzelte in seinen Graubart, er hatte schon als Junge alles und jedes aufgeschrieben und dabei gelernt, die Worte zu setzen. Und ja, das war der verrückteste Winter, den er jemals erlebte. Die Küstenorte waren wochenlang eingeschneit, es gab Tote, und in der Kohle liefen die Bagger heiß. Aber das war nicht die gesuchte Geschichte, und deshalb legte er das Stapelblatt zurück auf den großen Schreibtisch, um nach dem zweiten Blatt zu greifen.
Ein flammendes Liebesgedicht. Liebeshunger sprang aus diesen Zeilen. Ein wildes Beben. Ach herrje, dachte der Mann; der Herzschmerz eines Pubertiers. Fast war es ihm peinlich, dieses Gefühlschaos zu überfliegen. Aber dann fand er, weiter unten, diese kleine Geschichte.
Die roten Schuhe
Sie konnte Stiefeltrinken. Halleluja! Besser als die gesamte Fußball-Clique, die in der Kneipe „Zur Mühle“ immer samstags abfeierte, während im großen Saal die Disko aufheizte. Annelie stolzierte in ihren knallroten Clocks an der Tresenriege vorbei und rief dem Kneiper zu „Durst! Ein Potsdamer, bitte!“. Sie schwang sich in ihren hautengen Jeans auf einen Barhocker und warf ihr hüftlanges Weißhaar über die Schulter. Alle Augen berührten die Schöne. „Du kannst auch beim Stiefelsaufen mitmachen“, lud sie Eberhard, der Trainer ein, aber der erntete nur einen verächtlichen Augenaufschlag. Annelie war sich ihrer Wirkung durchaus bewusst, doch nie und nimmer würde sie sich mit einem Fußballer abgeben. Sie trank zügig ihr Bier-Fanta-Gemisch und wollte schon wieder zum Tanzen zurück, als sie der lange Jan anstachelte: „Du traust dich bloß nicht, Zuckerpuppe!“ Da hatte er was gesagt! Sie griff demonstrativ nach dem fast leeren Stiefel. Jan stellte noch klar: „Schwappt das Bier aus dem Schaft, zahlste die nächste Runde, und der Letzte vor dem Leertrinker muss einen Schnaps auf Ex schlucken. Alles klar?“ Annelie nickte und setzte die Neige an. Geschickt drehte sie das Bierglas ganz gleichmäßig und hielt so den Unterdruck im Fußbereich des Glases. Aber der Schluck war zu groß, sie musste absetzen und dass bedeutete: doppelter Wodka. Wie viele es wurden hatte schlussendlich nur der Wirt gezählt. Irgendwann waren alle entschwunden in die Sonnabendnacht. Ich schaffte es nur bis in den nächsten frisch gemähten Straßengraben. Als ich dort Sonntag früh erwachte schlich ich leichenblass nach Hause. Vor der Kirche standen zwei rote Schuhe. Ihre Schuhe! Fein säuberlich, wie vor ein Bett gestellt. Hier wird sie doch keiner klauen, dachte sich die betrunkene Schöne als letztes, und dann rannte sie barfuß heimwärts durch die Nacht. Der stille Verehrer trug sie ihr stillschweigend hinterher und stellte die Schuhe unbemerkt vor die Tür.
Ach, jung sein ist schwer – und so ungewiss. Wie schön wir waren, sahen wir erst später, auf den alten Fotos. Um nichts in der Welt wollte Elias Kühn noch einmal jung sein, und heutzutage schien ihm das noch weniger erstrebenswert. Dieser altkluge und genormte Moralismus, den die Jungen kompromisslos flaggen, für ihn unerträglich. Und die paar Schrillen daneben konnte er nicht ernstnehmen. Immer im Daueralarm, als würde ihnen gleich das letzte Stündchen schlagen. Was ist los mit dieser Zeit? Ausgeplündert, geheimnislos, am Ende aller Ziele? Bestimmt nicht. Er wünschte sich, die jugendliche Empörung würde sich in gestaltende Energie verwandeln, aber sie mündet immer nur im Nebel des Vergessens und dekadenter Langeweile.
Seine Gedanken wurden plötzlich schwer. Wie jäh auf wilde Aufbrüche entwürdigende Niedergänge folgen und die Protagonisten nur noch zu Zeitschatten werden. Kaum ein Blinzeln der Zeit dazwischen. Der Mann atmete tief. Auf das dunkelglänzende Holz seines Schreibtisches fiel spärliches Licht. Vorzeiten war das die Stunde der Großmuttergespräche in den Schulferien. Beschützt vom Dämmerlicht waren all seine kindlichen Fragen möglich. Kein Augenkontakt. Die Stille des Raums hörte ihn sagen: „Oma, gibt es einen Gott?“ und sie: „Ich weiß es nicht.“ Die Antwort der Kirchgängerin verblüffte ihn, und seither ahnte er, die Dämmerung ist das Portal zu den großen Rätseln und wundersamen Geschichten. Doch diese frühen Episoden von den welken Stapeln waren es nicht, nach denen er suchte, sie hatten es in keines seiner Bücher geschafft, er behielt sie nur aus Sentimentalität. Elias Kühn überlegte kurz, ob er sie nun endlich entsorgen sollte, doch dann wuchtete er die Stapel zurück auf das alte Möbel und entschloss sich in eine Wirtschaft zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Loslassen, sonst kreiselst du nur, sagte er sich, während er den Kragen hochschlug und in die Winterkälte trat.
Als er die Tür zum „Blauen Licht“ öffnete, schien die Wirtschaft dahinter zu dampfen. Der Abend war noch jung, aber die erste Gästerunde schien schon gut abgefüllt und tönte laut. Die Mädchenschicht, die hier am frühen Abend bediente, meist Studentinnen, kassierte höflich ab. Während die Belegschaft wechselte, torkelten die angetrunkenen Pärchen, die gleich nach ihrem Wochenendeinkauf mitsamt ihren Tüten hier hängen geblieben waren, nach Hause. Ihnen folgten Stunde um Stunde andere Falter nach. Jetzt hatten die Einzelgänger ihren leisen Auftritt, die gehen würden, wenn die Kino- und Theatergänger und die Freiberufler kamen. Ihnen folgten zur Mitternacht die harten Trinker und die Kiffer. Schichten, die sich nie begegneten oder nur streiften, obwohl sie ein- und dieselbe Kneipe besuchten. Elias Kühn kannte sie alle, denn er betrieb hier gerne beim Schoppen Roten seine Milieustudien. Aber heute suchte er einfach einen zum Reden. Er stand noch neben der Tür, bis sich die Szene entleerte und nur einen Menschen zurückließ, und eben der war der Richtige. Der Traumwanderer. Wolf starrte in den Schaum seines frischgezapften Bieres, als wollte er darin etwas Geheimes lesen, eine Botschaft oder was auch immer. Als er aufsah und Elias entdeckte, klarte sein Blick auf und er winkte ihn zu sich. „N‘abend.“ „Lange nicht gesehen“, begrüßtes ihn Elias Kühn und nahm ihm gegenüber Platz. „Wo hast du gesteckt? Hattest du den Schlüssel in deinem Bücherkabuff verlegt?“ Für Elias war der belesene Mann eine unermessliche Quelle zu seltenen Bücherschätzen, die er hortete, kaum dass er unter ihnen noch einen Lebensplatz fand. Wolfs müde Augen begannen hinter seiner Nickelbrille zu leuchten: „Nein. Ich hatte in Sachsen-Anhalt eine Orgel zu reparieren. Das war…“ Er wurde von der Wirtin Frau Graf unterbrochen. „Schoppen Roten?“ Sie blinzelte Elias Kühn dazu an, wie sie alle Männer anzwinkerte, die in ihr Beuteschema passten. Elias wusste, er würde irgendwann darauf zurückkommen, wenn er in Not wäre, heute nicht. Er bestätigte den Schoppen nur mit einem Nicken und sah wieder zu Wolf: „Hast du schon mal eine Geschichte verloren? Weiß du, ich bin mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob ich diese Geschichte überhaut geschrieben oder nur geträumt habe.“
„Worum ging es darin?“ „Ich habe keinen Schimmer mehr.“ Wolf wippte seinen Zopfkopf, wie immer, wenn ihm eine bedenkliche Situation vertraut war, und sagte dann: „Ja, ja – die Wahr-Träume sind wie Kobolde. Es gibt da in Mannheim einen Schlafexperten, der meint: Wenn wir träumen, denken wir, dass wir wach sind und man müsse deshalb die Realität checken. Genauer gesagt: den Inhalt abklopfen.“ „Na fein“, murmelte Elias, „der ist vollkommen flüchtig, aber es ging um irgendeine Veränderung, glaube ich.“ Selbst darin war sich der Mann nicht sicher. „Mann, bist du nicht alt genug, um einfach darauf zu verzichten?“ „Es geht nicht,“ antwortete der graue Schreiber, „diese verschwundene Geschichte blockiert mich. Sie ist wie eine Warnung: Schau genau hin, diese Veränderung könnte dir gefährlich werden. Etwas in der Art.“ Wolf murmelte: „Steckt nicht in jeder Veränderung so eine Warnung, eine unbestimmte Furcht, aber doch auch der beflügelnde Mut des Aufbruchs? Sie bedingen einander, fließen zueinander, miteinander…“ „Schon, schon, aber, was bleibt am Ende wie auch am Anfang? Ein Verlust. Er gehört zum Wandel, wie der Tag zur Nacht. Weißt du noch, wozu wir 1989 aufgebrochen waren, wir Träumer, und was daraus wurde? Kein neues Land, nur ein größeres, mit Heerscharen von enterbten Kostgängern. Sowas brennt sich tief ein. Mir ist manchmal so, als hörte ich seither wirklich das Gras wachsen im politischen Stimmengewirr, als sehe ich vom Rand aus haarscharf ins Zentrum der Kampfzone. Weißt du was ich meine?“ Der Zopfmann blickte nickend in sein leeres Glas und nuschelte: „Menschlicher Seismograph.“ Er bestellte bei Frau Graf die nächste Getränkerunde, während Elias weitersprach: „Hm, ein Gespür für das atmosphärische Bioklima. Es geht um Teilhabe, Lebensglück, Akzeptanz, Stolz, Wohlbefinden…, es ist, als würde nach solchen gesellschaftlichen Beben der Spürsinn der Gescheiterten messerscharf. Eine Art Selbstbewahrung, die allerdings unbeweglich macht. Wenn man das Haus eines Mannes ausplündert, muss man sich nicht wundern, dass der die Schotten dicht macht.“ Die Männer tranken schweigend, und plötzlich wusste Elias Kühn, es gab diese verlorene Geschichte nicht als spezielle, einzelne Geschichte. All diese verstaubten Blätter auf seinem Schreibtisch und in seinem Herzen enthielten sie, seine verloren geglaubte Geschichte.
© Petra Elsner, 31. Januar 2023
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