Ottilies Nachtwanderung

Zeichnung: Petra Elsner
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Eine Weihnachtsgeschichte

Die Eule Ottilie hockte reglos auf der knorrigen Eiche und seufzte.
Selbst durch das dicke Eis drang das Wehklagen der Nixe Spreele unten im Teich. Lange schon trauerte Spreele um ihren Liebsten, der vor Jahren ausgezogen war, das Glück zu finden. Seinem Ruf folgten bald alle Frauen und Männer, selbst die Alten. Verlassen, verkam der Ort zum Geisterdorf, in dem nur noch die Mäuse, die Nixe und die Eule hausten. An diesem fahlen Dezembermorgen hielt Ottilie das Jammern nicht mehr aus. Lautlos hob sie ihre mächtigen Schwingen und flog davon. Sie wollte einfach nur noch weg, irgendwohin, eben dorthin, wo man noch ein Lachen hört.
Als es dämmerte, erreichte sie eine große Stadt. Ottilie staunte, denn weit und breit war kein Leben in den diffus erleuchteten Straßenfluchten zu entdecken. Oder doch? Dort unten tippelte eine alte Frau, die etwas feilbot. Aber wem? Der Nacht? Die Eule landete dicht hinter ihr und hörte: „Köstliche Weihnachtsplätzchen! Wer will …“ Außer der Alten war niemand in Sicht, aber trotzdem rief die Frau immer wieder denselben Spruch. Ein unglaublicher Duft nach Zimt und Koriander umwehte die einsame Gestalt, die schwer an einer gewaltigen Gebäcktüte trug. Ottilie flatterte auf und landete nun vor der Greisin. Aber die tat so, als müsste sie gerade unzählige Interessenten bedienen. Erst nach einem Weilchen wandte sie sich dem Vogel zu: „Ach, du willst auch ein köstliches Weihnachtsplätzchen?“
Die Eule nickte und dankte. Die Frau war indes ungerührt weitergegangen, doch als sie Ottilie sagen hörte: „In meinem Dorf backt niemand mehr so etwas Wunderbares“, blitzten ihre Augen auf einmal sehr wach. Langsam folgte die Alte der Eule …

An der nächsten Straßenecke begegneten die zwei einem gut betuchten Mann, der kopfschüttelnd im Schein der Laterne seinen Terminkalender wälzte. Die Alte bot ihm sogleich einen Keks an, den er wortlos hinnahm. Dann versenkte er se

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inen Blick abermals in seinem leeren Buch und murmelte dabei: „Ich hatte doch sonst so viele Termine?“
Ottilie fragte ihn verunsichert: „Wenn du Zeit hast, warum besuchst du nicht einen Freund in dieser Nacht?“
Der Mann stutzte: „Ich hatte nie Zeit für Freunde, und so habe ich auch keine.“
Die Eule und die Frau mit der Tüte gingen sprachlos weiter, während der Fassungslose traumwandlerisch dem Duft der Weihnacht nachspürte …

Es begann zu schneien, als vor ihnen ein weinender Postbote auftauchte. Ottilie fragte ihn besorgt: „Was ist mit dir?“ „Ach, seht doch nur, es ist die Heilige Nacht, und meine Tasche ist schon wochenlang vollkommen leer. Kein Mensch verschickt mehr Briefe oder Karten. Alle mailen oder simsen nur noch ihre Wünsche zum Fest. Ich bin überflüssig geworden.“
Die Alte schob ihm tröstend ihre Plätzchentüte unter die Nase. Der Postmann lächelte verklärt und fragte: „Darf ich die für Sie in meiner Tasche tragen?“ Die Alte nickte, und man ging gemeinsam weiter…
An der nächsten Ecke hockte ein dürrer Jüngling im Straßengraben und betete. Ottilie fragte ihn erstaunt: „Weshalb gehst du nicht in eine der vielen schönen Kirchen, da ist man am Heiligen Abend niemals allein?“

Zeichnung: Petra Elsner
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„Oh“, antwortete der junge Mann, „ich gehöre zu keiner, glaube aber trotzdem an Gott.“ Auch der Fromme, der offenbar nicht allein sein wollte, reihte sich andächtig in die stille Nachtwanderung.
Die Eule wunderte sich sehr über ihre merkwürdigen Begegnungen und dachte an Spreele, deren Klagen jetzt niemand mehr vernahm, und sie drückte das schlechte Gewissen …

Nicht sehr lange, denn im Flockenwirbel sichtete sie zwei verhüllte Gestalten. Sie wirkten irgendwie greisenhaft, doch im Herannahen sah Ottilie zwei müde und erbärmlich frierende Kinder.
„Was treibt euch durch die Nacht, habt ihr kein Zuhause?“ Die Halbwüchsigen schüttelten nur stumm ihre Struwwelköpfe und schauten dabei den fragenden Vogel aus großen, leeren Augen an. Die Alte flüsterte Ottilie zu: „Es sind Straßenkinder ohne Obdach. Kleine Ausreißer oder gar Verjagte.“ Indem schob sie die erschrockene Eule beiseite, spannte ihren schönen roten Schirm über die schneenassen Wesen u

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nd steckte jedem eine Handvoll Plätzchen zu. Bedächtig stapfte die unschlüssige Gesellschaft weiter. Deren Ende sah jetzt so aus, als würde ihr ein großer Fliegenpilz mit vier Beinen folgen.
Kaum später keuchte ein Mann durch das Dunkel, der eigenartige Töne von sich gab: „Laaaa, lalalala, momi, momi, mimimimi …“ Das klang wie das Krächzen einer ungeölten Gartenpforte. Ottilie blickte verdutzt auf den Tönenden, der in seinem Anzug wie ein Pinguin wirkte. „Sie haben noch nie einen Sänger ohne Stimme gesehen? Dann schauen sie genau hin, hier steht einer, der eigentlich heute beim Weihnachtsoratorium auftreten sollte, stattdessen wurde er gefeuert“, schnarrte der Verstimmte und verbeugte sich, als würde er den Applaus eines großen Publikums erwarten. Doch das einzig wahrnehmbare Geräusch war das Knistern der großen Papiertüte, in die der unpässliche Sänger erfreut griff …

„Ich nehme auch ein Plätzchen“, hörte die Gesellschaft jemanden sagen. Alle blickten sich um, aber es war niemand auszumachen. „Hier“, kam es als dünner Ton aus einem offenen, aber finsteren Fenster im Hausparterre, keinen Steinwurf entfernt. Ottilie erspähte eine schöne Frau, nahm von der Alten einen Keks und flatterte zu ihr hinauf. Zwei völlig verweinte Augen sagte

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n der Eule Danke. Ottilie sprach: „Warum hockst du so ohne Licht?“
„Weil ich traurig bin. Mein Liebster ist gestorben, und niemand steht mir bei. Alle fürchten meine Trauer und meiden mich. Ist das nicht schlimm?“ „Ja“, erwiderte die Eule und legte tröstend einen Flügel um die Einsame. Sie konnte die Witwe am Fenster nicht einfach so zurücklassen: „Magst du nicht mit uns ein Stück durch diese Nacht wandern?“ Die Frau nickte, schloss das Fenster und trat einen Moment danach ins Freie …

Schon von Weitem hörte Ottilie ihre nächste Begegnung niesen und schnauben, abermals niesen, dann erschöpft stöhnen. Als der Geplagte in Sicht kam, winkte er beschwichtigend der Gesellschaft zu: „Keine Angst, es ist keine ansteckende Grippe, ich habe eine Stadtallergie. Nur wenn Schnee fällt, kann ich halbwegs atmen. Dabei bin ich doch ein Naturfreund und liebe es, draußen zu sein. Darf ich ein wenig mit euch spazieren?“
„Sicher“, lud die Eule den Niesenden ein. „Doch sage mir, weshalb lebt ein Naturfreund in dieser von Feinstaub geplagten Stadt?“
„Auf dem Land gibt es nicht genug Arbeit, deshalb muss ich bleiben und schniefen.“ Schade, dachte die Eule, während der Stadtgeplagte die Frau mit den roten Augen mitfühlend ansprach: „Auch eine Allergikerin?“

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Indessen stieg ein herzhafter Wohlgeruch in die Nasen der Wandernden. Der schwebte aus einem nahen Kiosk, in dem ein Bratwurstverkäufer schon seit Stunden vergebens auf Kundschaft wartete. „Oh, liebe Leute, erzählt mir nicht, der Braten war zu fett und ihr seid restlos gesättigt. Bitte nehmt mir diese Würste ab. Ich schenke sie euch, will nur nicht, dass die leckeren Teile zu guter Letzt noch verderben. Kommt, ziert euch nicht und greift zu.“ Ottilie lächelte, endlich ein launiger Mensch. Doch sie irrte. Als alle Würste verspeiset waren, stand der Kioskmann plötzlich wie versteinert hinter seiner Luke. „Ist dir nicht wohl?“, fragte die Eule. „Doch, doch, es ist nur, na ja, weil Weihnachten ist.“
„Ja, und was ist denn so erschreckend an dem Fest?“, bohrte Ottilie.
„Weihnachten gehört den Familien, ich habe und will auch keine. Nur in der Heiligen Nacht fühlt sich das nicht gut an.“ Die Alte rückte mit ihren Plätzchen näher und sprach: „Wie wär’s denn mit einer netten Schlenderei in dieser illusteren Runde? Lauter stille Menschen, bis auf den Niesenden, die werden keinem Einsiedler zu nahe treten und doch bei ihm sein. Ist das ein Angebot?“ Der Bratwurstverkäufer schmunzelte, schloss sein Geschäft und hakte sich bei der Alten ein …
Gerade wollte man aufbrechen, da ächzte ein Karren um die Ecke, aus dem es kläffte, winselte, grunzte und miaute. „Ist ja gut, gleich bekommt ihr etwas zu futtern“, besänftigte eine Stimme die Menagerie hinter Gittern.

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„Oh je“, rief der Bratwurstverkäufer, „den Tierfreund habe ich heute nicht erwartet!“ Er verschwand noch einmal im Kiosk, um einige Vorräte aus dem Kühlschrank zu holen. Inzwischen rollte der Karren heran, hinter dem nun einer schimpfte: „Nicht einmal zum Weihnachtsfest sind manche barmherzig. Schaut nur! Diese vielen Hunde, Katzen, Meerschweinchen, Zwerghasen und sogar ein chinesisches Hängebauchschwein habe ich heute gefunden. Es gibt doch wirklich Leute, die fahren in die Winterferien und setzen ihre Haustiere einfach aus.“ „Furchtbar“, raunten die Versammelten. „Wohin bringst du die Tiere?“, erkundigte sich Ottilie. „Manche in den Zoo oder in einen Zirkus, die meisten ins Tierheim“, seufzte der Tiersammler. Mit dankbarem Blick nahm er die Futterspende entgegen, und sein Grollen verflog. Irgendwie schien er den gleichen Weg zu haben, denn der Tierfreund schlurfte mitsamt seinem Karren den Stadtwanderern hinterdrein.

Er war nicht der Letzte, der sich ihnen spontan anschloss. Ottilie begegnete noch einem Nachtflüsterer, der sich nur bei Dunkelheit sicher fühlte und dazu einen kaum hörbaren Winterblues sang. Einem Trinker ohne Wein, einer Stadtstreunerin ohne Ziel und einem Musikclown mit defektem Dudelsack. Gemeinsam stapften sie der Reihe nach stumm durch den Schnee. Aber warum und wohin nur? Ottilie dachte bei sich, in diesen Straßen hängt die Einsamkeit wie dichter Nebel. Sie fühlte sich bedrückt von all den traurigen Geschichten, die ihr folgten und wie Blei an ihren Federn klebten, war sie doch ausgeflogen, um der Trübsal zu entkommen.

Zeichnung: Petra Elsner
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Auf einem grell erleuchteten Platz traf die Nachtwanderung auf einen tuckernden Bus. „Ah, endlich, Passagiere!“, rief erfreut der ausharrende Fahrer. Da aber die Gesellschaft dankend abwinkte, sackte der Mann enttäuscht in sich zusammen. Da stoppte plötzlich die Eule und sprach zu den Nachtwandlern: „Wenn euch hier keiner braucht und niemand hält, dann könnt ihr auch mit mir kommen. Mein Dorf ist schon lange menschenleer. Ihr könnt das ändern, wenn ihr wollt.“
Erstaunt schaute man sich einander an und befand schließlich, warum eigentlich nicht? Der Busfahrer war längst in die eigenartige Runde getreten und erbot sich: „Ich fahre euch in dieser Nacht, wohin ihr wollt. Umsonst, versteht sich.“
Während die bunte Gesellschaft den Bus bestieg, verflog die Stille. Jeder sprach mit jedem und machte sich miteinander bekannt. Aufgeregt spähten die Reisenden in die Finsternis vor der Stadt. Das unbekannte Ziel ängstigte nicht, es stimmte heiter, denn sie würden es ja gemeinsam erkunden …

Die Plätzchentüte der Alten war fast geleert, als der Bus spät in der Nacht auf den tief verschneiten Dorfanger fuhr. Wie selbstverständlich trugen die Ankömmlinge erst einmal Brennholz für ein wärmendes Feuer zusammen. Kaum später loderten die Flammen, und den Menschen war in ihrem Schein sehr feierlich zumute. Es war ein so gewaltiges Feuer, dass das Eis des Dorfteiches zu schmelzen begann.
Ottilie lauschte an der Oberfläche des Teiches, aber sie hörte nichts als das Knistern des Holzes, dann räusperte sie sich: „Ich muss euch noch jemanden vorstellen.“ Indem die Eule das sprach, schoss eine lichte Fontäne aus den Tiefen des Wassers, in deren Mitte eine wunderschöne Wasserfrau wirbelte: „Oh, Ottilie, du hast das Leben in unser Dorf zurückgebracht!“

Zeichnung: Petra Elsner
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„Das ist Spreele, die Nixe in unserem Teich, die man eigentlich nur zur Mittsommernacht zu sehen bekommt“, erklärte die Eule den erstaunten Betrachtern die ungewöhnliche Erscheinung. „Ja, und weil ihr alle in dieser Heiligen Nacht meinen Kummer verscheucht habt, will ich euch dafür danken“, sang die Lichtgestalt und drehte sich dazu kichernd wie helles Wasser im Kreis. Das Nass spritzte weit über die Ufer, und Tausende Tropfen besprühten die lächelnde Nachtgesellschaft. Aber es kamen keine schnöden Wassertropfen über sie, sondern edelste Perlen. Und die Alte, der Kalendermann, der Fromme, der Postbote, die Straßenkinder, der Sänger ohne Stimme, die Witwe, der Stadtallergiker, der Bratwurstmann, der Tierfreund und alle, wie sie dort standen, leuchteten plötzlich wie Sternenkinder. Das Geschenk der Nixe würde fortan für eine notlose Zeit sorgen, doch jeder, der in diesem Feuerschein stand, spürte, das eigentliche Glück dieser Stunde war die Ankunft in einem neuen Miteinander.

Schon seit Jahren werde ich immer wieder gefragt, ob nicht endlich “Ottilies Nachtwanderung” eine Nachauflage erfährt. Die illustrierte Geschichte ist 2006 im Messner Verlag als weihnachtliches Geschenkbuch erschienen und seit 2008 vergriffen. Ich denke, genug gewartet, und deshalb stelle „Ottilies Nachtwanderung“ hier ein und hoffe, es freut den einen oder die andere.
Sollte es jemals zu einer neuerlichen Drucklegung kommen, lösche ich diese virtuelle Veröffentlichung wieder …

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