Aus diesem Buch habe ich Euch noch nicht wirklich was vorgestellt: „Wallos seltsame Reise“. Die unglaubliche Geschichte einer Baumseele hab ich 1993 geschrieben als ich meinen Liebsten kennenlernte und er nach sechs gemeinsamen Wochen einen schweren Deprischub bekam. Wir waren damals Scherbenkinder der Wende und ihn hatte der Mut verlassen. Ich schrieb dieses moderne Großstadtmärchen im Grunde für ihn, und es ist ihm auch gewidmet. 2006 hat es der Wiesenburg Verlag veröffentlicht. Aber wie es immer ist mit Kleinverlagen – die dort gedruckten Geschichten und deren namenlosen Autoren bleiben unbekannt. Jede Seite hat zu wenig Kraft. Das ist keine Klage, es ist eine Tatsache. Ein paar Auszüge aus dieser märchenhaften Erzählung stelle ich hier nacheinander vor:
… Es war eben wieder Kens Stunde für den Baum. Das ist immer die Zeit, wo das Viertel sein Nachtgewand überstreift. Es scheint dann ganz so, als fiele der dunkle Himmel über die abgetakelten Mietshäuser wie schwarzer Samt. Zu jener Stunde also huschte Ken gleich einem Schatten durch den Park, unglaublich vorsichtig und fast unsichtbar, denn er wollte nicht den Zugang zu seinem Geheimnis verraten. Kurz vor dem Brennnesselstück schoss es dem Jungen urplötzlich in den Sinn, ob nicht schon irgendjemand vor ihm die Baumhöhle entdeckt haben könnte. Vorzeiten. Und womöglich waren von jenem noch Zeichen im Holz aufzuspüren. Angekommen, entzündete er aufgeregt sein Windlicht, um nach Spuren seiner möglichen Vorgänger zu suchen. Nichts. Oder doch? Sein Blick wanderte hoch hinauf. Nein.
Enttäuscht ließ er sich fallen und sprach halblaut vor sich hin: „Baum, ist denn gar nichts in dir zu finden?“
Auf einmal war es Ken, als bewege sich seine Höhle leicht, so als würde sie schwerfällig atmen. Dann räkelte sich die Höhle ächzend, als wenn sie einen sehr langen Schlaf hinter sich hätte. Unter Ken schlingerte der Boden, während etwas zu ihm ins Innere der Höhle sprach:
„Du hast doch mich gefunden und nun meine Stimme geweckt, ist das etwa nichts?“
Die Stimme grummelte das ganz sacht. Trotzdem erschrak Ken. Er sah sich um, prüfte mit den Händen, ob das Teil um ihn wieder fest war. Nun suchte er nach dem, was da sprach.
„Wo bist du, und wer bist du?“, fragte er mit geducktem Kopf. Aber so konnte er nichts entdecken. Vorsichtig schraubte er sich in die Höhe. Mit weit aufgerissenen Augen spähte er umher. Dort, wo er hockte, war nichts auszumachen. Es musste aber etwas da sein. Er hatte sich die Sache eben doch nicht nur eingebildet. Oder? Der Junge dachte bei sich:
„Ist mir die Fantasie durchgegangen? Es gibt öfter Leute, die meinen, ich spinne zu viel. Na ja, stimmt schon. Nur, das gerade kann ich mir nicht eingebildet haben. Unmöglich!“ Ken suchte weiter und rief dabei den Baum laut an: „Was soll das? Wenn hier wirklich einer ist, dann zeig dich endlich!“
Augenblicklich fuhr den langen Höhlenschlund ein Gebilde aus grünlichem Licht hinab. Das Ganze wirkte wie eine gigantische Gurkennase mit welken Sehschlitzen. Kurz vor Ken bremste das Ding scharf und formte aus dem Nichts einen vollen Mund, der sogleich wieder dröhnte: „Du hast mich eben erst geweckt, was brüllst du so? Da räufeln sich einem ja die Sinne!“
„Ich dich geweckt? Ich wüsste nicht, wie!“, empörte sich Ken. Er war sich keiner Schuld bewusst. Ja, er hatte mit sich gesprochen und wohl ganz, wie nebenher, den Baum dabei angeredet. Nicht laut. Der muss einen sehr seichten Schlaf haben, oder er war eben schon richtig ausgeschlafen, aber dann brauchte er nicht unbedingt so empfindlich zu reagieren.
Wenn Ken morgens erwachte, war er wach, ungeheuer wach, meinte der Vater ständig genervt. Der ist morgens ein Brumm-Monster. Richtig ekelig. Am besten, man weicht dem Mann mit dem eigenen Wachsein aus. Auf den Balkon oder die Straße. Frühaufsteher haben’s schwer. Es irritierte Ken, dass er zu seiner Traumstunde einen Erwachenden um sich hatte. Weniger verwirrte es ihn jetzt, dass es ein Baum war. Traumplätze sind Orte verwunschener Gedanken, darin ist alles vorstellbar.
Inzwischen hatte sich die Höhle noch einmal flach gestreckt, dann wieder aufgerekelt und dabei ganz wundersam gejuchzt. Ken musste in der Flachstreckphase den Kopf einziehen.
So richtig wach geworden, schlängelte sich das Gurkengesicht noch näher hinab zu Ken. Die Sehschlitze hatten sich etwas weiter geöffnet, und es war Ken, als flackerten ihn daraus zwei galaktische Irrlichter an. Warmgelb. Irgendwo auf seinen Traumreisen waren ihm solche schon begegnet. Er wusste nur nicht mehr genau, wo. Aber ihm war gut bei diesem Anblick. Er fürchtete sich kein bisschen mehr.
Ken sah grübelnd in dieses schwimmende Gesicht. Woher kannte er diesen Ausdruck? Wo war er ihm zuletzt begegnet? Es muss dort gewesen sein, wo er seine Mutter traf. Er hatte es so sehr gewünscht, sie noch einmal wieder zu sehen. Und auf einem sehr, sehr fernen und wirklich lichten Planeten traf er sie endlich nach unglaublich langer Suche. Vater erklärte ihm vor drei Jahren, seine Mam sei nun im Himmel und es ginge ihr gut. Ken konnte das erst glauben, als er sie dort antraf. Diese Irrlichter in dem Gurkengesicht hatten etwas davon: milde Wärme, die Ken so vermisste.
Ken staunte sprachlos das grüne Tier an und fragte sich, was es denn sei. Eine Erdschlange vielleicht? Oder ein Lindwurm?
Er hatte noch nie einen gesehen. Er starrte so verwundert auf das Wesen, dass es sich von selbst vorstellte: „Wundere dich nicht, ich bin nur der Geist des Baumes. All deine Träume habe ich miterlebt, wie ich all die anderen kleinen Träumer vor dir auf ihren Reisen begleitet habe. Es waren stets ähnliche Wünsche von Geborgenheit und Glück.“
„Der Geist des Baumes?“, murmelte Ken überrascht. Ein Baumdrache wäre ihm ehrlich gesagt lieber gewesen. Mit dem hätte er gegebenenfalls die Muskelprotze von der Straße vertreiben können. Aber was fängt man mit einem Baumgeist an? „Ich wusste gar nicht, dass Bäume einen Geist haben“, gab Ken ehrlich zu. Hast du einen Namen?“
„Aber ja, jedes Ding hat einen Namen und einen Lebensgeist. Ich heiße Wallo und solange mein Haus, der tote Baum, steht, werde ich in ihm wohnen. Nur gerufen hat mich halt noch keiner und so schlafe ich schon sehr lange in dem alten Holz.“
„Das ist aber eigentümlich“, fand Ken. Geister spuken doch nachts umher und jagen den Leuten gewaltige Schrecken ein.“ Er wusste das aus Gruselfilmen. Die Geister waren meistens ziemlich aktiv und nicht solche verschlafenen Gesellen wie Wallo. Oder sie waren einfach mal eingesperrt, in einer Flasche, damit sie kein Unwesen mehr treiben können. Derjenige, der sie befreite, hatte drei Wünsche frei. Oder wie in der „Unendlichen Geschichte“, worin Fantasien nur durch kindliche Wünsche leben konnten. „Kannst du auch Wünsche erfüllen?“, wollte Ken von Wallo wissen.
„Ich weiß nicht“, gestand Wallo etwas verlegen, weil er bemerkte, dass ihn Ken für so etwas wie ein Spukgespenst hielt. „Vielleicht habe ich mich dir nicht korrekt erklärt.“ Wallo richtete sich gerade, was ihm einigermaßen Mühe bereitete, da er dazu seine schlangenhafte Gestalt, die er um Ken geringelt hatte, aufgeben musste und pfeilartig hinauf in den Baumstamm schoss. Nun stand er und wiederholte richtig offiziell seine Vorstellung: „Ich bin kein Poltergeist, ich bin die Seele des Baumes.“ …
Wallos seltsame Reise, Erzählung von Petra Elsner, Hardcover, 55 Seiten, mit zehn farbigen Illustrationen, 2. Auflage erschienen im Wiesenburg Verlag 2013, ISBN 978-3-939518-02-0
Preis: 16,90 Euro
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Das kannte ich noch nicht von Dir und den Bezug zu L. erst recht nicht. Wir sollten zu viert mal wieder reden.
Lieber Reinhard, das machen wir Mitte Mai, in Ordnung?