Der träumende Nachtwächter

Eine Weihnachtsgeschichte
Der Nachtwächter träumte im Laufen und nur sein Laternenlicht sah ihm dabei zu. Es tänzelte flackernd, wenn sich der alte Mann für ein Weilchen an eine Hauswand lehnte, um sich kurz auszuruhen. Er war heute schon so viele Stadtstraßen auf und ab gelaufen. Bevor er aber wirklich im Stehen einschlief, blitzte das Flämmchen zwischen jedem seiner Wimpernschläge so hell, dass Eduard Morgenstern wieder die Augen aufschlug, seinen amtlich vorgeschriebenen Weg fortsetzte und währenddessen seine Traumgeschichte weiter durch seinen Kopf rangierte. Er träumte zu jeder Nachtwache denselben Wachtraum, wo war er nur abgerissen? Ah, bei dem kantigen Mann mit den rauen Händen, der die schönen Kerzenleuchter schnitzte. Für jedes neugeborene Menschenkind schuf der kleine Beschützer, für die Mädchen einen Engel und für die Jungen einen Bergknappen. Alle diese Leuchter standen in der Weihnachtszeit in den festlich beleuchteten Fenstern und jeder konnte so im Vorbeigehen erkennen, wie viele Kinder zu dieser Familie gehörten. Diesen Seelenlichtern fühlte sich der Nachtwächter Morgenstern immer schon verwandt, schließlich trug auch er sein Laternenlicht durch das Dunkel und beschützte mit seinem Wachen den Schlaf der Stadt. Im Traum war er einer von ihnen.
Doch dieses Jahr geschah etwas Merkwürdiges. Als es Frühling wurde, standen die Weihnachtsleuchter immer noch in den Fenstern der Leute und auch noch zur Sommersonnenwende flackerten ihre Kerzen. Es ging eine Seuche um und die Menschen suchten einfach nach einem Beistand. Kerzenlicht galt seit jeher als ein Sinnbild für das Leben und so erklärte es sich, dass die Weihnachtslichter alle Nächte des Jahres erstrahlten. Mehr als es Kinder gab drängten sich die Figuren hinter dem Glas, denn auch die hilflosen Eltern und die besorgten Großeltern holten ihre alten Schutzleuchter aus den Truhen und stellten sie mit Hoffnungsfunken in den Augen dazu. Und weil es keine Medizin gegen diese Krankheit gab, hatte der Schnitzer Fidelius Waldvogel alle Hände voll zu tun. Jeder wünschte sich ein handgefertigtes Schutzzeichen. Auch um diese nächtliche Stunde brannte noch Licht in der Werkstatt am Markt. Eduard Morgenstern klopfte wie jeden Abend an dessen Fenster und winkte dem Schnitzer freundlich zu. Als der Meister dem Wächter nachsah, beschlich ihn auf einmal eine Idee.
Er holte sich ein schönes Stück Lindenholz herbei, hobelte eine Fläche glatt, besah sich den Verlauf der Maserung und zeichnete mit einem Bleistift einen neuartigen Schutzleuchter. Mit einem Hohleisen begann er eine Form aus dem Holz zu heben. Langsam tastete Fidelius Waldvogel sich an seine Vorstellung heran und arbeite mit einem scharfen Schnitzmesser die Feinarbeiten nach. Erst in der dritten Morgenstunde ruhten die Hände neben seinem Schnitzwerk. Der Blick des Mannes wanderte hinauf zum hellsten Stern am Firmament und lächelte verschmitzt.
Der Advent wehte heran und Eduard Morgenstern fühlte sein Kommen. Auf seiner nächtlichen Runde bestaunte er, wie festlich die Stadt die Ankunft der Weihnachtszeit erwartete. Waldvogels Werkstatt lag dunkel hinter der angestrahlten Fensterauslage. Offenbar hatte er sein Tagwerk vollbracht. Morgenstern besah sich die neuen, herrlichen Engel und Knappen, aber was war das? Er entdeckte eine Reihe von hölzernen Nachtwächtern mit Windlichtern an der Lanze. Und, na so was, „Das bin ja ich!“, raunte er grinsend in seinen Bart. Auf dem Schildchen las er leise: „Der Nachtwächter, ein Schutzleuchter für alle Tage im Jahr!“ Eduard Morgenstern war verwundert und verzaubert, denn er fühlte sich, als wäre er in seinem Wunschtraum erwacht.

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