Grasnelkentag. Wenn im Juni hunderte Grasnelkenköpfchen über dem Grünland kleine Wogen tanzen, beginnt der Hochsommer. Vormittags arbeite ich bis die Hitze kommt, nachmittags verflüchtige ich mich zum Tiefsitz unter der Linde und bewohne unseren Schattenplatz mit einem Buch. Von dort kann man das Grasnelkenfeld schweben sehen. Ich habe nur schmale Wege zu den Gartenplätzen gemäht. Erst wenn die Wiese verblüht ist, kommt der nächste Schnitt. Unter dem mächtigen Lindenbaum sind die Temperaturen erträglich und das Licht etwas gedämpft. Man fühlt sich beschützt. In meiner Familie gab es bis vergangenes Jahr immer einen Lindenhof. Hier sammelten sich nach dem Krieg die Überlebenden und von dort starteten die Schlesier (u.a. mein Vater) und die Vertriebenen aus Böhmen (u.a. meine Mutter) in ein anderes Leben. In den Schulferien war ich immer wieder in Oberreichenbach (Obersausitz) zu Gast und liebte diese Stimmung zum Feierabend unter der Linde. Nach dem Tod meiner Eltern verlor sich die Blutspur. Nur wenige Familienereignisse holten mich noch zur Großcousine unter diese Linde. Letztes Jahr hat sie den Hof verkauft. Allein auf dem einstigen Dreigenerationenhof, dass war nicht zu schaffen. In diesem letzten Sommer streckte sich unsere Linde zu einem großen Mutterbaum. So hat die Familie, die weit entfernten Verwandten, doch irgendwie wieder einen Lindenhof, wenn auch nur einen kleinen.
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