In alten Kamellen gekramt, die ganze Nacht. Die Schweizer Tante bat mich zu suchen, nach alten Urkunden und altem Wissen. Wann ist der Opa Arthur gestorben? Wie war das mit der Flucht? Und die Jugendjahre vom Onkel? Ich war damals noch nicht einmal das Funkeln in den Augen meines Vaters. Und als der Vater ging, blieben die Dokumente bei seiner zweiten Frau. Ich habe die Verbindung zu ihr vor 20 Jahren abgebrochen, muss ich jetzt, wegen dieser Urkunden Kontakt aufnehmen? Und, hat sie das Zeug überhaupt noch? Ich konnte nicht schlafen. Am Abend fand ich beim Kramen mein altes „Unser-Kind-Album“ mit Taufzeitung und Impfnachweisen. Vom Großvater nix. Aber diese Texte meiner Mutter, wie sie über unsere Kinderheimzeiten schrieb. Nichts weshalb, nur das. In dieser Nacht fragte ich mich, weshalb ich mich an meine Lebenszeit zwischen zwei und sechs Jahren nicht entsinne? Nichts, außer ein paar Blitzlichter an Weihnachten. Meine vier Jahre ältere Schwester und ich waren vom dritten Lebensjahr gemeinsam in einem Wochenkinderheim in Eichwalde untergebracht. Zuletzt bewohnten wir sogar ein gemeinsames Zimmer. Erst als sie mit der dritten Klasse auf eine Schule mit erweitertem Russischunterricht kam, verließen wir diesen Ort. Ich kam im letzten Jahr vor Schulbeginn nach Zeuthen in einen Tageskindergarten und hier beginnen meine Wahrnehmungen, die Jahre zuvor stecken in einer Nebelwolke. Was ich allerdings früher zu diesem Thema nie bedacht hatte: Mein Vater war kriegsversehrt und wirklich jedes seiner Lebensjahre wochenlang in Kliniken und Krankenhäusern. Damals gab es nicht ewiglich Krankengeld, die Mutter musste also für uns alle zusammen das Geld ranschaffen. Vollbeschäftigt in einer 6-Tage-Arbeitswoche mit 45 Stunden zzgl. Pausen und einem Arbeitsweg (hin und zurück von zweieinhalb Stunden)… Diese Erkenntnis stimmt mich endlich milde – sie war keine Rabenmutter.
Heute fand ich beim Weitersuchen einen elektronischen Ordner mit „Alten Dokumenten“ – schnauf, darin war vieles, was ich brauchte. Vor der Hochzeit mit meinem Liebsten hatte ich mir wohl vom Vater das alte Familienstammheft geben lassen und vorsorglich kopiert, was ich für wichtig hielt. Das war mir nun wirklich nur entfallen…Der Opa Arthur ist also mit 49 Jahren am 1. Mai 1949 in Oberreichenbach Nr. 23 verstorben. Er lebte nach seiner Rückkehr aus dem Krieg im Siechenhaus am Dorfrand, wo er wegen schwerer Tuberkulose mit einigen anderen Männern unter Quarantäne stand. Meine Lieblingsoma Selma erzählte es mir auf einem langen Sommerspaziergang, als wir an dem verlassenen Katen vorbeikamen. Aber die Flucht bleibt unbesprochen. Nach all den Stunden in der Vergangenheit, musste ich einfach den Kopf abschalten und habe weiter kleine Bücher gebaut. Stoisch. Die Kollektion ist jetzt für den Advent bereit.
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