Morgenstunde (276. Blog-Notat)

Es ist nicht nur im Märchen gefährlich, auf die verfemte Seite der Geschichte zu geraten. Das war ganz schnell nach der politischen Wende für Ostdeutsche klar. Fast alle, die ich kannte, waren plötzlich weg. Irgendwo geschäftig abgetaucht, fortgezogen, umgeschult, unsichtbar für mich in ihren neuen Leben. Jetzt, da wir alle miteinander ein gewisses Alter erreicht haben, taucht mein Jahrgang für mich plötzlich aus der Versenkung auf – als frischgebackene Rentner. Zwanglos schauen sie jetzt auf und riskieren den Blick nach den anderen. Echt, die Häufigkeit solcher Begegnungen hat mich letztes Jahr wirklich irritiert. Wo kommst Du plötzlich her – alter Freund? Wie ist es Dir ergangen? Hätten wir uns nicht die letzten 30 Jahre irgendwie beistehen können? Kein Vorwurf, aber werden wir uns jetzt noch etwas zu sagen haben? Ich weiß es nicht, nur: Frösche sind Frösche geblieben und Prinzen – Prinzen.

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6 Gedanken zu „Morgenstunde (276. Blog-Notat)“

  1. Da hatte wohl jeder mit sich selbst zu viel zu tun. Auch du bist ja nicht hingegangen um nachzuschauen, wie es dem einen oder anderen erging, und ob er Unterstützung brauchte – oder irre ich mich da? Dafür fehlte wohl die Kraft, die dringend gebraucht wurde, um den Schock zu verarbeiten und eine Neuorientierung zu finden. Es wäre doch schön, jetzt im nachhinein und ohne Vorwurf zu erfahren, wie diese Nun-Rentner mit dem Verlust ihres „ersten Lebens“ klargekommen sind. Eine wichtige historische Quelle und vielleicht auch eine nachträgliche Hilfe, um die eigenen Wunden heilen zu lassen.
    Aber nun, ich kann das natürlich nicht beurteilen, rede aus der Entfernung.

  2. Liebe Gerda,
    na sicher, waren diese Jahre, vor allem die 90er eine Herausforderung für jeden. Man konnte gar nicht alle Verwandlungen im Blick haben. Aber einige haben schon einander durch die Zeit geholfen und über die Aufs und Abs. Das schweißt auf Lebzeiten zusammen. Und zu diesen Einigen zählte ich schon. Ich hab aus neuem Wissen und Verbindungen nie Goldstaub gemacht, sondern Kollegen mitgenommen und eingeweiht, wo es irgend ging. Ich hab sogar bei der Gewerkschaft Selbstvermarktungs-Seminare gehalten, worin ich Kollegen, die sich selbstständig machen wollten, die Schritte und Notwendigkeiten erklärte… Dennoch, liebe Gerda, es ist schon seltsam – dieses wieder Auftauchen einer Generation… Ich bin mir sicher, dass sie historische Quelle sein wird. Liebe Grüße, Petra

  3. Hallo liebe Petra,
    Frösche sind Frösche geblieben und Prinzen – Prinzen. Da stimme ich dir zu. Meine Erfahrung sagt: Menschen verändern sich in ihrem Wesen nur selten. Was sie mit auf die Erde bringen wie sie durch ihr Umfeld geprägt wurden und was sie für Strategien erlernt haben um in ihrem Leben zu bestehen bleibt meist ein Leben lang erhalten. Und so bleibt voraussichtlich der Angepasste angepasst, der Ängstliche ängstlich, der im Mittelpunkt stehende genau dort und der Weltverbesserer will weiter die Welt verbessern. Im Laufe seines Lebens stößt er immer wieder auf die Menschen, die zu ihm passen. Die ihm helfen sein System zu erhalten. Es sei denn er sucht aktiv nach anderen Verbindungen.
    Ich werde demnächst Leute treffen, mit denen ich bis zur „Wende“ eine gute Verbindung hatte, die sich in den damaligen Turbulenzen mehr und mehr auflöste. Ich bin gespannt, was sich dann zeigen wird.

    1. Lieber Andre, genau. Nur erlebten wir im Osten mit der Wende diese Erosion der gesamten Verhältnisse und fast aller menschlichen Verbindungen. Das ist es, was so einschneidend war… Ich wünsche Dir gute Begegnungen bei Eurem Wiedersehen.

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