Morgenstunde (873. Blog-Notat)

Das Wochenende war dicke-dicht. Freitagvormittag kamen spontan die ersten Weihnachtseinkäufer ins Atelier. Sie hatten es vor allem auf die „KURTSCHLAGER EDITION“ abgesehen. 18 Künstlerhefte nahmen sie mit! Wunderbar. Das Lyrik-Bändchen „Dunkelschön“ ist so kurzweilig vergriffen, werde es in den nächsten Tagen nachbauen. Es ist für mich immer wieder ein Glück, wenn jemand zu dieser sinnlichen Winter-Lyrik greift.
Ein keines Torgespräch mit M. ließ mich später ahnen, was mein Rückzug mit Corona-Meise so angerichtet haben kann. Also mal schlicht in die Runde: Ich mag Euch alle, es war allein meine Angst, die mich seltsam werden ließ. Ich arbeite daran…
Der Nachmittag gehörte dem Freiräumen von Bad und der Fensterseite des Bilderspeichers für die anstehenden Bauarbeiten am Wochenende. Zwischendurch noch die Layoutbesprechung zum Sandteufel am Telefon. Es geht dabei immer darum, die verschiedenen Vorstellungen in Einklang zu bringen. Nicht einfach, aber es gelang.
Samstagmorgen kam Tilo aus Dölln, um ein neues Fenster in die Giebelfront zum Bilderspeicher einzubauen. Das machte er perfekt und den entstandenen Spalt unter dem Fensterbrett putzte mein Sohn später gleich mit weg. Das Häuschen hat nur endlich ein neues Stirnauge. Das alte ließ sich zu guter Letzt nicht mal mehr öffnen… Jan kam am zeitigen Abend und nahm Quartier im Atelier. Als wir das Abendbrot hinter uns hatten, holte Lutz den „Tafelberg“ aus dem Schlaf-Bücherzimmer… Großer Auftritt: man sah, dass Jan sich unglaublich freute. Danach habe ich das gute Stück in Knisterfolie verpackt und so wurde es im Transporter verstaut. Aktion beendet 😊. Anschließend haben uns einen gemütlichen Skatabend gegönnt. War ewig nicht.
Sonntagmorgen begann mein Sohn den Riss in der Badezimmerdecke abzuklopfen. Schnell wurde klar, die große Lücke ließ sich mit Feinspachtel nicht füllen, also Mauermörtel ansetzen und los gings. Allerdings braucht es nun an diesen Mörtelstellen einen zweiten Putzgang. Jan wird im November noch einmal anrücken und dann auch noch die Seitenwände mit Feinspachtel überziehen. Schon jetzt sieht es schöner aus als vorher.
Für die Männer reichte die Zeit noch für einen Waldspaziergang, während ich die Baustellen reinigte und das Mittagessen bereitete. Indem klingelte das Telefon und ein nächster Wochenendakt kündigte sich an: Die Ortsvorsteherin von Marienwerder. Ihr schlechtes Gewissen trieb sie. Vor drei Jahren hatte ich in ihrem Auftrag für Ruhlsdorf eine Geschichte geschrieben, die als Wendebuch zu ihrem Dorfmuseumsführer erschien. Nur die Rohfassung bekam ich zu sehen, dann kam Corona, die Premiere zu Erntedank fiel aus und der Kontakt riss gänzlich ab. Im Dezember 2020 bekam eine Anzahlung via Konto, dann wieder Stille. Vor ein paar Tagen erzählte mir eine Freundin aus Glienicke, dass zum Geburtstag ihrer Mutter eine Bekannte aus Ruhlsdorf mit stolzer Brust eben dieses Buch zu ihr trug. Ich wusste nicht einmal, wie es schlussendlich aussah… Nach dieser Info raffte ich mich auf, und schrieb dem Heimatverein die dritte oder vierte Mail (unbeantwortet über die Jahre) mit der Anfrage nach einem Belegexemplar… Und da war sie nun, die Bürgermeisterin, dankbar, dass ich sie noch empfing und nicht völlig verschnupft… Sie hatte mich schlichtweg in den Turbulenzen der Zeit vergessen. Aber nun. Das Buch ist wirklich schön geworden und es gibt es ausschließlich im Dorfmuseum von Ruhlsdorf für 10 €. In den Anhang stecke ich Euch eine Episode daraus als Leseprobe. Kommt gut in die Woche, ich mach heut mal langsam 😊.


Wachsende Wasser
Nele Sanders wollte nicht hinaus in die Welt. Schon tagelang kramte sie sich durch das Häuschen ihrer Großmutter. Ganz unerwartet hatte Magdalena Kanzow ihr das kleine Anwesen am Rande von Ruhlsdorf vererbt. Was die 92-Jährige nur dazu bewegte? Nele war eine Stadtpflanze und nicht die Lieblingsenkelin. Aufgewachsen in der Massenarbeitslosigkeit der 90er Jahre, spürte sie allenthalben die große Verunsicherung der Eltern, die in dem ungeheurem Wandel Halt suchten, einen neuen Stolz und darüber früh starben. Zeit, die Großeltern auf dem Lande zu besuchen, fanden sie in diesen unsteten Jahren selten.
Nele Sanders war jetzt 40 Jahre alt, Bankerin, kinderlos und vorsichtig in allem, was sie unternahm. Nur keine Fehler machen oder gar anecken und vielleicht dadurch den Job verlieren. Seit der Bankenkrise saß kein Banker mehr fest im Sattel. Ungewissheit lag in der Berliner Luft, als die Frau ihren Jahresurlaub nahm, weil sie notariell nach Ruhlsdorf bestellt worden war.
An jenem Montagmorgen stieg sie in Berlin-Karow mit Rucksack und E-Bike in die Heidekrautbahn und ließ die Stadt und deren hektisches Tempo hinter sich zurück. Ein kahlköpfiger Zugbegleiter begrüßte sie mit einem lächelnden Blick und bot ihr schon im Anfahren des Zuges einen Becher Kaffee an. So etwas war ihr schon lange nicht mehr begegnet – freundliche Zuwendung. Sie schlürfte Kaffee und schaute neugierig in das Land unter dem großen Himmel. Hinter Klosterfelde tauchte der Zug in einen dichten Kiefernwald und scheuchte eine Herde Hirsche auf, die schnell im Dickicht verschwand. Am Kleinen Lotschesee hockten zwei Angler gemütlich am Ufer unter Laubbäumen. Das Grün und die sichtbare Stille darin flößten der Frau am Zugfenster wohlige Ruhe ein. Es war nur eine Dreiviertelstunde vergangen, als Nele Sanders ihr Rad auf den menschenleeren Bahnsteig Ruhlsdorf-Zerpenschleuse schob.
Die vier Kilometer bis ins Dorf der Großmutter waren mit dem Bike ein Katzensprung. Parallel zur Straße glitt ruhig das Wasser im Finowkanal, Ufer- und Himmelsspiegel verströmten darin romantische Schönheit. Wie lange sie diese Landschaft nicht mehr gesehen hatte.  Nele hielt bei der Schleuse kurz inne und sah einem Lastkahn nach. Wasser nimmt alle Lasten mit sich, sinnierte sie. Kies wurde hier früher nach Berlin verschifft. Das war schon solange sie denken konnte so. Sand und Kies sind der Reichtum der Gegend. Beim Abbau wachsen immer wieder neue Seen. Glasklare Wasser. Weshalb die Eltern immer lieber nach Mallorca wollten? Sie erinnerte sich nur undeutlich an diese wenigen Sommersonntage, die sie mit ihnen in Ruhlsdorf verbrachte. Meist ging es nur darum, sich Geld zu borgen, weil wieder ein Arbeitgeber in die Pleite rutschte und das Gehalt nicht kam. Die Mutter sah in diesen Momenten so erbärmlich aus, dass sich Nele damals entschied, Bankerin zu werden. Sie wollte die Immer-Geld-haben-Frau sein. Das war, was sie seither wollte und was sie nun auch war. Aus der Notlage der Eltern wuchs deren Scham und die entschied wohl später: lieber Mallorca statt Ruhlsdorf. Nele aber mochte dieses Ort am Rande der Schorfheide und sonnenreiche Sommer gab es in der Region inzwischen auch. Gut, dass hier Seen wachsen, dachte sie und radelte schließlich weiter, vorbei am Kieswerk linkerhand, indem gerade der Kranichsee entstand. Im Dorf war weit und breit kein Mensch zu entdecken. Das historische Ensemble aus Bürgerhaus, Kirche und Pfarrhaus schaute ganz ungerührt zurück als Nele Sanders anhielt und sich kurz umsah. Sie fegte sich mit den Fingern die lange braune Haarsträhne aus der Stirn und setzte sich ihre Lesebrille auf ihre zierliche Stupsnase. Ein Plakat am Bürgerhaus lud für Freitagabend zu einem Vortrag für Gäste und Zugezogene ein: Die örtliche Geschichte des Kiesabbaus. Vielleicht würde sie dort hingehen, allein schon, um Menschen kennenzulernen. Ein paar Meter weiter mutete die Gastwirtschaft „Eilhardt“ recht verschlossen an.  An der Tür klebte ein Zettel:
„Liebe Frau Sanders, entschuldigen Sie bitte, ich wusste nicht, dass man hier nur noch Freitagabend öffnet. Ich warte auf Sie im Hotel ‚Schleusenmühle‘. Notar Wendland.“
Nele schnaufte und radelte zurück zum Finowkanal. Der alte Schleusenwirt saß mit dem Notar vertraulich beieinander. Im Kaminofen loderte ein Holzbrand. Draußen strahlte zwar die Frühlingssonne, aber in dem Gemäuer steckte noch die Winterkälte. Wendland erhob sich ungelenk, so als hätte er Rückenschmerzen und ging langsam auf die Eintretende zu.
„Schön, dass sie hergefunden haben.“ Er schob ihr einen Stuhl zurecht und breitete seine Unterlagen aus. „Also Frau Sanders, obwohl sie lange nicht bei Magdalena Kanzow erschienen sind, nicht einmal zu ihrer Beerdigung,“ er sah streng, eine Pause machend auf Nele, „hatte die alte Frau im Drachenkopf-Hospiz verfügt, dass sie die Alleinerbin sind. Es gab da wohl Stress mit den anderen Enkelsöhnen, aber ganz gleich, sie bekommen Haus und Hof und alles was darin ist – unter einer Bedingung: Sie dürfen das Haus nicht verkaufen, sie sollen es nutzen. Wollen sie das nicht, fällt das Erbe an ihre Cousins.“ Wendland blickte aus seinen Papieren auf und sah Nele Sanders verwundert. Sie in Ruhlsdorf? Nicht nur in den Ferien? Dass hatte sie sich noch nie vorgestellt. Sie schluckte und stammelte „Ich weiß nicht. Aufs Dorf ziehen? Für immer? Das muss ich mir erst einmal überlegen.“
„Gut, überlegen sie und geben sie mir nach ihrem Urlaub in Ruhlsdorf eine Antwort.“ Der Mann drückte ihr die Papiere vorsorglich in die Hand. „Unterschreiben können sie sie ja später, hier die Schlüssel und dieses private Päckchen für sie.“ Wendland legte noch seine Visitenkarte hinzu, zahlte und ging.
Die Frau sah ihm verstört hinterher, dann löste sie das Bändchen von der schmalen Schachtel und erblickte ein ledergebundenes Tagebuch. Als sie es aufschlug stand da auf der ersten Seite:
Fürchte Dich nicht, Nele!

Das war drei Tage her. Sie hatte sich eingenistet in eine Burg aus Kissen auf dem mächtigen Gründerzeitbett. Draußen summten die Bienen in der Kornel Kirschblüte. Dieses unschuldige Weiß verzauberte die Frau jedes Frühjahr. Nele nahm sich ein Lächeln von den Blüten und versenkte sich wieder in die vergilbten Tagebuchseiten…

Foto: Lutz Reinhardt

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