… An dieser Stelle möchte ich bis November 2014 eine Handvoll Texte vorstellen, die gelebte Deutsche Teilungsgeschichte nacherzählen …
Grüße vom anderen Stern: … In der Mappe meiner Großmutter fand ich ein sonnengeflutetes Schneeland. Die Karte aus den Alpen stammte aus der Zeit, als die Mauer durch Deutschland noch frisch war. Die Grüße vom Weltenbummler Manfred bewahrte Großmutter gewöhnlich in dicken Fotoalben auf. Vielleicht hatte sie diese Ansicht doppelt und dreifach in jenen Bänden, in denen sie abends oft blätterte, um ihrem Sohn nachzuspüren: Amsterdam, London, Paris, Oslo Stockholm, Zürich, Lissabon, Kairo, Kapstadt … Über die Jahre war mein Onkel Manfred in 28 Ländern, drei Erdteilen, sprach flüssig sechs Sprachen und konnte darüber hinaus in zwei weiteren herzhaft fluchen. Aber wie es ihm ging, wusste hier keiner wirklich. Und auf den vergilbten Fotos auf Großmutters Radio blieb er ewig ein 17-jähriges, sehr smartes Leichtgewicht. Aber 1959 wurde er nicht Deutscher, sondern Schweizer Boxmeister.
Als 1953 Manfreds Sportverein in Görlitz zum Polizeiclub Dynamo mutierte, setzte er sich kurz entschlossen ab. Erst nach Rüsselsheim, dann in die Schweiz. Er träumte von einer Profi-Karriere. Doch ohne Beistand? Fortan kämpfte sich der junge Mann im doppelten Sinne durch – im Ring und auf den weltweiten Montageplätzen der Montanindustrie. Wie das aussah, war der permanent gleich lautenden Grußformel: „Es geht mir gut, Dein Manfred“, kaum zu entnehmen. Großmutter akzeptierte die dünnen Mitteilungen. Wenn aber wochenlang sein Lebenszeichen ausblieb, wurde die Frau unruhig. Jetzt lief sie alle paar Tage zur Post, um aus der Telefonkabine bei meinem Vater in Berlin anzurufen: „Der Junge schreibt nicht. Habt ihr telefoniert? Nein?“ Sie sprach ihre Sorge nicht aus, doch sie war spürbar. Um nachts zur Ruhe zu kommen, schenkte sie uns ein Glas leichten Rotwein ein: „Trink’, Kindchen, da kannst du gut schlafen.“ Da war ich zwölf. Großmutter konnte nach dem Glas wirklich wunderbar schnarchen. Nur ich saß neben ihr hellwach in den Federn, Manfreds Postkartenwelt mit den Orten wie vom anderen Stern im Kopf.
Als mein Sohn Jan 17 Jahre alt war, liefen wieder die Menschen aus dem Osten fort. Es war Spätsommer 1989. Mit seinen Freunden plante er an unserem Küchentisch den Weg über die Grenze. Ich dachte an Großmutter und ihre Alben, und mich gruselte der Gedanke, mir meinen Sohn hinter dieser Mauer vorstellen zu müssen. Unerreichbar. Eine Mutter muss ihren Sohn in die Welt ziehen lassen, aber wenn ein Land seine Jugend verliert, stirbt es. So kam es ja auch …
Aus „Die Mappe meiner Großmutter“, handgebundenes Künsterlerheft,
Eine Haut aus den Farben der Landschaft:
Die „Schorfheide“ – das ist ein alter Mythos und doch nur ein Sammelbegriff für ein größeres Waldgebiet. Der Name entstand im Mittelalter aus „Schorp Weide“, als die Bauern ihre Schafe in den einstigen Eichenwald (Hutewald) trieben, um sie mit Eicheln zu mästen. Lang ist’s her, heute bevorzugen Jäger, Wanderer, Ausflügler oder Pilzsammler dieses Naturparadies. Und wer ein besonderes Markenzeichen der Region sucht, der stößt unweigerlich auf die Schorfheidekeramik von Petra Wessel.
Direkt am Weißen See in Böhmerheide betreibt sie ihr Atelier, aus dem ihre witzigen Tongestalten launig in die Welt spazieren: Mautzende Kater, schmollende Schnecken, blinzelnde Kobolde … eine herzige Gartengesellschaft, deren Besonderheit ihre spezielle Haut ist, die sie zu Markte trägt. Diese Oberfläche assoziiert spontan „Schorfheide“ – das helle Ocker des leichten Dünensandes in dem die Wälder wurzeln, das Umbra der Waldäcker, und das tiefe Braun der mächtigen Baumstämme. Die Töpferin hat diese Farbgebung gewissermaßen der Landschaft abgeschaut und die Spuren darin, die Kratzer und Abdrücke stammen ebenfalls daher – von Erlenfrüchten, Hafer …
Als nach der Währungsunion 1990 alles, was man der Frau bis dahin aus den Händen gerissen hatte, plötzlich wie Blei im Laden stand, begann ihre Suche nach dem Einzigartigen. Während sie experimentierte und entwickelte, entdeckte sie ihre Lust daran, eine regionale Marke zu kreieren, eben eine Keramik, die der Schorfheide entspringt und für sie wirbt. So verwundert es kaum, dass die Töpferin sich zugleich für den Tourismus am Weißen See zu engagieren begann. Sie gründete mit anderen den Tourismusverein Schorfheide-Chorin. „Hilfreich war der damalige Trend ‚Zurück zur Natur’ unter den Westberlinern, die ihr Umland endlich entdecken konnten. Das große Staunen über das wunderbare Waldland mit seinen glasklaren Seen – 50 Kilometer von Berlin entfernt. Man mochte wieder natürliche Hölzer in den Wohnungen und dazu passte auch meine Naturkeramik“, erzählt sie rückblickend und weiß heute: „Letztendlich verkauft man mit seinem Schaffen auch immer das Umfeld mit. Zum Beispiel: ‚Wollen Sie nicht einmal einen Ausflug zum Weißen See in Böhmerheide machen, und mich in meinem Atelier besuchen? Dort gibt es auch ein nettes Restaurant, eine gute Pension …’ Jetzt, wo die Kaufkraft wegen der Krise nachgelassen hat, gebe ich Kurse.“
Und Ferientöpfern kommt gut an. Wer der Frau, die wie ein sprudelndes Quellwasser plaudert zuhört, erfährt neben den praktischen Werktipps auch viel von der Drehscheibe, die sich Leben nennt. Dass Umwege, wie eine falsche Studienwahl (Bauwesen) oder verdrängte Leidenschaften, mitten ins Zentrum führen können; bzw. Mütterzeiten Klärungsprozesse einleiten. Mit 25 Jahren schenkte sie Tochter Jana das Leben und zeitgleich wuchs der Drang, die eigene Kreativität auszuleben, was schlussendlich 1983 in die Selbstständigkeit führte. Nichts lief bis dahin spurgerade in ihrem Leben dieser couragierten Frau, und doch, oder gerade deshalb wohl, ist heute ihre Aufbaukeramik aus schrägen Teilen inzwischen ein krönendes Ganzes. Hier zeigt sich eine langsam erworbene Selbstgewissheit, die spürt, wer mit oder neben der Frau arbeitet.
Kontakt: Keramikwerkstatt Petra Wessel, Buchfinkenweg 4, 16244 Schorfheide OT Böhmerheide, Telefon: 033393 495, Mail: p.wessel@online.de
… das Schlimmste am Malen sind die Trockenphasen … kaum auszuhalten. Man möchte am liebsten zaubern, aber dann könnte man das Motiv auch versauen … Das Geheimnis 63 trocknet leider ganz besonders langsam …(pe)
Zum Wochenende mal eine klitze-kleine Vorlese-Geschichte für die kindlichen Zwerge …
Schwapper-Jule und Krümel-Max waren die besten Freunde. Immer, wenn sie an einem Tisch saßen und aßen, schwapperten und krümelten sie jedes Tischtuch voll. Oma schimpfte, Mama ärgerte sich, die Kinder verdarben einfach jede schöne Festtafel. Nur Tante Rosa schmunzelte nachsichtig. Ihre Augen blickten listig, als sie ein neues Tuch auflegte. Schwapper-Jule hatte heute Geburtstag und es gab Erdbeertorte, heiße Schokolade, zuckersüße Himbeerlimonade und prickelnde Apfelschorle. Kaum war der Deckenwechsel vollzogen, kleckerte Schwapper-Jule wieder rote Flecken auf den Tisch. Nur was war das? Wie von Zauberhand verwischt, waren die sogleich verschwunden. Schwapper-Jule stutzte und träufelte mit dem pinkfarbenen Trinkhalm viele kleine Tröpfchen auf den Tisch, aber schwuppdiwupp waren sie wieder weg. Das Mädchen holte sich eine dicke Lupe und untersuchte die ihren Tischplatz: Wo waren nur die Kleckse geblieben? Schwapper-Jule tropfte mit Limonade und beobachtete über der Lupe, was nun geschah. Oh, wie staunte das Kind, zwei durchsichtig schillernde Wichtel trugen den Tropfen einfach davon. „Fleckendiebe!“, schrie Schwapper-Jule. „Sie mausen einfach meine schönen roten Tropfen!“ Tante Rosa lächelte verschwiegen, nur sie allein wusste um das Geheimnis der Fleckendiebe, die nun unter dem Tisch saßen und mit Jules Limonade ein schönes Bild auf Papier malten, das niemand mehr wegwischte. Das fanden Schwapper-Jule und Krümel-Max nun auch viel spannender und malten fortan viel, viel lieber auf feinem Zeichenkarton.
Versteckt zwischen den Buschkiefern, dort, bei Klein Dölln, wo das Döllnfließ einen weiten Bogen zieht, wächst seit einigen Jahren ein Überraschungsort in der Schorfheide. „Flatternde Forke“ könnte man diese Vogelfantasie von Siegfried Haase nennen, die er aus altväterlichem Landarbeitsschrott entwickelt und verschweißt hat. Die witzige Skulptur hat das Groß Döllner Urgestein für die geneigte Öffentlichkeit als Überraschung aufgestellt. Im Zauberwald zwischen Kurtschlag und Klein Dölln kann der Spaziergänger sie neben all den anderen hintersinnigen und heiteren Gestalten betrachten und sich an dem herzhalfen Mutterwitz des Künstlers erfreuen. Eben dort findet man beispielsweise auch diesen umweltfreundlichen Autoturm vom Bildhauer Lutz Kittler aus Friedrichswalde. Bei diesem milden Wetter ist der unbeschriftete Kunstwald ein lohnendes Ausflugsziehl.
… An dieser Stelle möchte ich bis November 2014 eine Handvoll Texte vorstellen, die gelebte Deutsche Teilungsgeschichte nacherzählen. Diesmal kommt hier ein Romanauszug, der die Ereignisse rund um den 7. Oktober 1989 in der damaligen DDR aufgreift …
Die Nacht: … Mittlerweile stieg in Matze Zorn auf. Er hasste diese Klagetour.
„Kannst du dich nicht einfach mal nur darüber freuen, dass ich hier bin. Musst du mich dauernd mit deinen Norm-Predigten belasten. Ich habe mich doch auch zurück gehalten, obwohl ich sah, wie du dich wieder hübsch opportunistisch eingerichtet hast. Wenn du ein schlechtes Gewissen hast, musst du dich selbst fragen: warum.“
„So, einfach freuen. Wie könnte ich das? Ich weiß nicht, wie du zurechtkommst. Ich mache mir Sorgen und dein Schweigen ist wie ein schreiender Vorwurf“, steigt die Mutter darauf ein.
„Und wenn. Vielleicht ist es einer. Drückt das dein Gewissen? Mag sein, du hast Zwänge. Aber das du die noch gutheißt, jetzt statt sozialistische, marktwirtschaftliche Verhaltensweisen preist, das kühlte mich ab. Was ich für dich tun konnte, hab‘ ich getan.“
„Ach, ja?“, fragt die Rothaarige gereizt zurück. „Was hast Duuu schon für mich getan?“
„OOh, das ist dir entgangen? Na ja, warst ziemlich zu, als man eure DDR-Gerichte schloss. Da hab ich fast jeden Abend dein Händchen gehalten und dir zugehört. Weißte nicht mehr?“ Und seit dem du wieder obenauf bist, klopfst du diese Sprüche. Ich kann’s nicht ertragen.“ Matze wurde mit jedem Wort heftiger. Nun konnte er sich nicht mehr stoppen.
„Alles wär‘ heut‘ anders! Pah! Nur anders angepasst! Wirklich toll, was du da so faselst! Das mag für solche Gewohnheits-Angepasste wie dich gelten. Aber für mich? Was weißt du denn schon“, dröhnte es aus ihm heraus. „Während du am 8. Oktober 89 morgens brav-bieder in der S-Bahn die Zeitung aufgeschlagen hast, und dich vielleicht noch über die Krawalltypen mokiertest, ist dir da nicht die Frage in den Sinn gekommen, was das für junge Leute sind? Wo sie herkamen? Kannst du dir vorstellen, was ihnen in jener Nacht widerfuhr? Hast du nur einmal deinen Schatten übersprungen und wolltest es wirklich wissen? In die Gedächtnisprotokolle der Inhaftierten konnte man ein paar Wochen später im Ausstellungszentrum am Fernsehturm einsehen. Warst du da? Was meinst du, wie es jetzt in denen aussieht, und was die für ne Lust haben, sich anzupassen.“
„Was schreist du denn so, Junge?“, unterbricht sie ihn verletzt und erschrocken. „Warum sollte ich denn? Waren doch, wie sich heute herausstellt, alles Traumtänzer. Ist Geschichte. Vorbei. Und was erregt dich das heute noch?“
„Weil ich auch dabei war“, gibt Matze kaum hörbar, aber erlösend von sich.
Die Mutter saß mit aufgerissenen Augen und halb geöffnetem Mund, in dem das Entsetzen steckenblieb. Und weil sie still war, sprach er langsam weiter:
„Du weißt gar nichts und ich glaube, du wolltest auch nicht behelligt werden. Ja, ich war damals im ersten Studienjahr und schlief ab und zu auswärts. Aber es hat dich ja nicht einmal stutzig gemacht, dass ich gerade in diesen heißen Tagen nicht nach Hause kam. Dann war da die Frau-Freundin, und das war dir Erklärung genug. Hast du nicht gesehen, dass ich mich verändert hatte. Oder meintest du wirklich, Liebe macht so krank und hart, wie ich damals war? Nichts kam dir in den Sinn, und ich habe dir zuerst wegen deiner Position bei Gericht nichts gesagt. Ich wollte dich nicht ängstigen und noch mehr verunsichern. Es war ja in den paar Tagen nicht klar, ob es Folgen haben würde. Niemand wusste, wie das ausgeht. Niemand. Und später konnte ich es einfach nicht mehr aus dem Ärmel schütteln. Die ganze Wandlizscheiße, die unzähligen moralischen Verfehlungen, die da jeden Tag hochkamen und die Gemüter erhitzten. Dein Mitläufertum, ich wollte dir das bei all deinen Existenzängsten nicht auch noch aufdrücken. Aber dein unbekümmerter Übergang nach ein paar Wochen, den hab ich kaum ertragen, als hättest du nichts verloren.“
Matze versucht, seine vor Erregung zitternden Hände vor ihr unter dem ornamentenschweren Tischtuch zu verbergen. Indem richtet er die schmalen Schultern nach vorn und beginnt sich ruhig zu reden:
„Wir, ein paar Kumpels, waren an diesem Abend einfach unterwegs. Ein Feiertag – wie ein verkehrter Ball. Überall knisterte es. Du weißt ja, viele Leute saßen auf gepackten Koffern nach Prag und Budapest und wie viele schon weg waren. Es hatte sich herumgesprochen, dass abends in Alex-Nähe etwas losgehen würde, was die obskure Situation bloßlegt. An der Humboldt-Uni brodelte es: Illegale Treffs. Wir wollten Studentenräte bilden. Es ging uns um Mitsprache und gewerkschaftliche Vertretung. Die Strukturen der FDJ taugten nicht dafür. Aber der Zentralrat wehrte sich noch bissig. Die Rädelsführer der Studenten wurden beobachtet. Man versuchte uns von den anderen zu isolieren, drohte mit Exmatrikulation. Wir waren hoch politisiert. An jenem Abend am Alex aber, gehörten wir nicht zu den Akteuren, waren einfach mal nur neugierig und dann plötzlich mittendrin in dem Schlamassel: Auf der Seite der Demonstranten Freiheit-Rufe und auf der Front der Bullen große Technik und Schlagstöcke. Die bekamen wir augenblicklich zu spüren. In Nullkommanichts wurde ich mit vielen auf so nen Laster verfrachtet. Meine Kumpel konnten entkommen. Die Bullen griffen alle, die sie kriegen konnten. Auch Passanten. Mir gegenüber kauerte eine junge Frau. Die machte sich heulend gerade und schrie: `Seid ihr verrückt, das ist ja wie ein Alptraum, ihr sperrt die eigenen Leute ein – Genossen!‘ Ein Schlagstock flog ihr über den Schädel. Sie presste ihre Hände auf den Schmerz und wimmerte nur noch, ‚Das kann doch alles nicht wahr sein‘. Über das, was dann kam, kann ich immer noch nicht richtig reden. Während ich an der Wand in irgend so einer Großgarage mit gespreizten Beinen und Armen die Nacht durch stand, waren meine Kumpels bei Lisa. Sie klopften sie um ein Uhr morgens heraus, und verschafften sich mit dem dramatischen Satz ‚Matze ist verhaftet!‘ Einlass. Lisa war in Pankow Pionierleiterin. Jo’s kleiner Bruder war in ihrer Gruppe. Jo, das ist einer meiner Freunde noch aus Pankow. Erinnerst du dich noch an ihn? Na, egal. Im Sommer trafen wir die Frau zufällig im Bürgerpark und quatschten lange miteinander über neue Strukturen für mehr Demokratie, Schichtenparlamente und so. Sie lud uns zum Tee ein, und seitdem waren wir oft bei ihr, um über Problemen zu brüten. In ihrer Angst wussten meine Leute nicht wohin. Sie hofften, dass Lisa helfen könnte. Als Genossin – vielleicht. Sie soll da im Nachthemd gestanden haben, ganz ungläubig. Dachte, die Jungs übertreiben. So was tun ihre Leute nicht. Dann sind sie losgelaufen. Erst zu uns in die Florastraße. Sie haben sich am Sims hochgezogen und schauten in mein Zimmerfenster. Das Bett war leer. Erst jetzt begann Lisa die Sache ernst zu nehmen. Diese Nacht hat ihr Leben erschüttert. Alles, woran sie glaubte. Sie stand in einer Telefonzelle und hat Polizeireviere angerufen und sich als meine Mutter ausgegeben. Hörte, wie sie in Listen blättern und sagten: ‚Nein, hier nicht! Warten Sie ab. Sie bekommen Bescheid.‘ Sie hasteten nach zwei Stunden zurück zu meinem Fenster. Nichts. Jo und Chris sind ihr dann nicht mehr von der Seite gewichen und Lisa spürte in der wahnwitzigen Forderung meiner Kumpel: ‚Wir müssen ihn da rausholen‘ ihre Verantwortung. Zuletzt waren sie alle nur noch von Ohnmacht gedrückt. Lisa war erschüttert und das trieb sie an, sich um die jungen Leute dieser Nacht zu kümmern. Zusammen mit der Jugendfürsorge hat sie im Jugendklub eine ‚Sprechstunde des Vertrauens‘ eingerichtet, damit solche wie ich ihren Schock verarbeiten können. Ich kam vier Tage später aus dem Knast. Frag‘ nicht wie. Ich hatte echt ’nen Knacks weg. Ich war doch kein Staatsfeind, aber man verfuhr mit mir so. Zuerst ging ich zu Jo. Der mir das alles erzählte und danach brachen wir zu Lisa auf. Dort blieb ich. Eine Woche hab ich mich nicht aus der Bude gewagt. Ich war total verstört. Irgendwann nachts ist Lisa in das Gästezimmer gekommen, hat meine Hand genommen und sie unter ihren Bademantel rumgeführt. Am Morgen danach floss wieder Blut in mir, und ich konnte nach Hause gehen. – Das ist zwei Jahre her.“
Matze räuspert sich, und er sagt nur noch: „Wir leben nicht mehr miteinander, aber ich bin noch ab und zu bei ihr – zum Reden …
Mit geborgten Flügeln abheben,
um dem Moloch ohne Himmel zu entfliehen.
„Nicht zu hoch und nicht zu tief segeln“
raunt eine alte Stimme dem Stadt-Ikarus zu.
Er kommt nicht sehr weit,
denn im Morgengrauen muss er
das mystische Lichtgewebe der Nacht zurückgeben.
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