Der Landsucher

Es ist drei Jahre her, dass mein Malerfreund Eckhard Böttger nach Qualen
am 25. November 2010 das andere Ufer erreicht hat.
Er war ein Großer und es gibt viele, die ihn vermissen.
Im Gedenken an ihn:

Der Landsucher: Der Boden bebt. Morgens, abends. Solange Eckhard Böttger denken kann. Unweit frisst die Schraube Dörfer. Das Kreischen kommt näher. Böttgers Hof ist verkauft. Für ein Spott-Geld. Das Dorf gähnt verlassen. Selbst der Friedhof ist in ein Massengrab geräumt. Darin die Eltern des Malers. Atemschwere Erde. Alle Wurzeln sind gekappt, doch Phantomschmerz buckert. Der Maler sucht die losen Enden, muss immer wieder nach ihnen fassen, solange es noch möglich: dem Wind, der durch Klingmühl fegt, folgen. Hinter den Braunkohlebaggern wird das Dorf Ödland sein. TABULA-RASA.
Also aufheben, was sich noch findet. Eine Briefmarke, ein Löschblatt – BEWAHREN.
Die Verluste sind es, die uns Lebenswerte spüren lassen. Zwischen Verharren und Aufbruch entsteht Kraft und die Idee zu dem: Wie lebt man nun weiter?
Der Weg begann mit Ton, Erden, Kohlenstaub und Asche. Mit allem was der Boden Klingmühlischer Höfe hergibt. Draußen malen, nur mit Pinseln und Wasserflasche unterwegs. Der Stoff, aus dem Böttgers Tagebau- und Dorf-Bilder sind, findet sich vor Ort. Ein herumwehender Schnittmusterbogen von irgendjemandes verwaistem Nähplatz wird collagenhaft eingearbeitet, Malgrund für jene Erdenwesen, die ohne Land sind. Flüchtige Schattenrisse. LANDSUCHER.
Böttger ist ein Landsucher. Ein Wandler zwischen dem Diesseits und Jenseits. Der erzählt feinnervig prosaische Bildgeschichten. Ist einer, der festhält, dem Schmerz Gestalt gibt, nicht nur als Maler. Aus alten Treppenbohlen schlägt er Figuren. Als würde er jenem, der ein Leben lang die knarrende Treppe auf- und abstieg, ein Zeugnis geben: Du warst hier. Ich kenne dich, halte dich in meinen Gedanken.
Die Weiden von Böttgers Hof hatte ein Fremder beschnitten. Dass daran noch wer dachte in dem totgeweihten Dorf. Ein paar Triebe nahm der Maler mit. „Seine Weiden“ hängen jetzt in seinen Fenstern, gebogen zu Köpfen, bespannt mit Seidenpapier, darauf mit Beize getuschte Gesichter. Die schauen vom dritten Stock eines Plattenbaus in Finsterwalde ins brache Land und bestaunen die Stille. Denn urplötzlich verebbte das Sauriergebrüll.
Die Dorfräumung kam kurz vor der politischen Wende in der DDR, nach letzterer die Krise in der Lausitzer Braunkohle. Klingmühl ist seither ein Nirgendwo. Nur einige trotzige Alte blieben, zum Sterben und geistern derweil durch die Totenstille, die nur das Zirpen der Grillen zerreißt.
Eckhard Böttger kann diesen Ort nicht loslassen. Dort war der Vater Bergmann. In jenen Wiesen lag der Junge himmelschauend oder tollte selbst- und zeitvergessen durch nahe Wälder. Eine Landschaft sehen lernen, die ruhespendende Kraft der Natur in sich aufnehmen. Noch unerklärlich. In diesem Dorf probierte der Heranwachsende sich aus: Imkern, Gitarre spielen, mit einem Lehrerfreund Wettzeichnen. Wer kopiert am besten alte Meister? Beharrlich, ganze Regenferien lang. Restaurator wär der Böttgersohn damals gern geworden. In Klingmühl verdichten sich die Erinnerungsfetzen freudreicher Kindheit. Sorgenfreie, liebevolle Tage. Nur das Kreischen, das Schreien der Erde aus der Ferne dröhnte immer schon bedrohlich. Es kündete vom Ende. Seit sich Böttger malend ausdrückt, wuchs da ein Band, ein inneres, zum Tagebau-Thema. Das ist so straff, fast mörderische Fessel, dass mir beim Betrachten eine Gänsehaut wächst. Aber das muss wohl sein, denn der Stoff hat’s in sich:
„Ich weiß, die Dinge wirken unheimlich düster. Aber, das ist doch auch eine fürchterliche Tragik: Leute gehen zur Arbeit und baggern sich weg. Wahnsinn ist das“, erschaudert der Maler selbst, während er über seine Motive spricht. „Da kommt innerer Druck auf. Wie stellst du das dar? Wie erhältst du den Leuten IHR Stückchen Erde? Das bringt man über Porträts nicht rüber – die Dramatik, wie, sagen wir, eine alte Frau, die mit ihren Tieren sprach, in einen Stadt-Plattenbau ziehen muss. Kann man das malen? Plötzlich hatte ich’s: OBJEKTE zu meinen erdenen Bildern. Da waren jede Menge Milchprüfflaschen im Dorf. Die standen schon lange bei mir. Versteckt. Wusste nicht, was damit werden würde. Schließlich habe ich die kleinen Flaschen mit Sand, Asche und Kieseln von den Häusern und Höfen im Abbruch gefüllt – je nach Beschaffenheit, ohne Gestaltungsidee. 66 Stück, unbeschriftet, einfach zum in die Hand nehmen. Das hier ist Herdasche. Der Herd ist das erste und letzte im Dorf.“
Ich nehme schweigend so eine Flasche in die Hand und fühle plötzlich Traurigkeit, Zorn, Mahnung in mir aufsteigen. Das ist der letzte Rest einer abgerissenen Existenz. Sehe dazu auf Böttgers Aschebilder. Einen Engel, einen Phönix und abermals die Landsucher als sich auflösende Formen in einer sich auflösenden Landschaft. Schaue auf und blicke in zwei hellwache Augen. Darin glänzt Kampf. Der Mann klagt nicht. Er empört sich: „Ich wehre mich dagegen, dass wir hier in der Provinz als Menschen 2. Klasse gelten. Sicher, eine Großstadt ist quirlig. Tausende Möglichkeiten. Ein Dschungel. Aber wo knallt’s denn wirklich?“ Schreit er nun fast. „Stimmt schon, auf die Probleme der Welt bezogen, ist so ein fressender Tagebau nichts. Und vom Flugzeug sieht das Drama auch ganz winzig aus. Aber für mich und die Leute hier ist es ein Thema und ich habe dadurch meine Daseinsberechtigung. Ich hab‘ mir lange überlegt, was das noch mit Kunst zu tun hat. Ob es nicht eher eine Art Dokumentation ist.“
Inzwischen hat er die Zweifel verworfen. Ohne Frage, die Arbeiten zur „Dorfbegehung“ lassen sich nicht verkaufen. Sie haben musealen Wert. Aber in der Abgeschiedenheit, allein in der Auseinandersetzung mit diesem schwerlastigen Thema, auch wegen mangelnder Temperafarben fand Böttger seine expressionistischen Mittel, seine Eigen-Art. Weg von den Vorbildern Georges Rouault bis Karl Hofer, die nach der Hochschulzeit sein Werk beeinflussten. Böttger’s Farbsymbolik ist einzigartig und die reduziert sich nicht von den Stoffen her auf die mit Leim gemischte Erden, Aschen, Kohlenstaub. Ersatzweise Abtönpasten bei großformatigen Gemälden wie dem „Baggergeräusch“ oder zuweilen beidseitig getuschte Beizen auf transparentem Seidenpapier, worauf sich beispielsweise seine „Landsucher“ wiederfinden, ergeben intensive Effekte. Böttger hat auch Farben, es kommt auf das Thema an.
Einer, der sich mit dem Sterben seiner Landschaft, den Ursachen und Folgen, den Deformationen beschäftigt, muss schon ein stückweit lebensbejahenden Optimismus in sich tragen, um daran nicht zu zerspringen.
Der kleine, zähe Mann mit dem Brechtschnitt hat selbstironischen Witz. Sagt der doch zu unserer telefonischen Verabredung. „Also wenn Sie auf dem Finsterwalder Bahnhofsvorplatz eine kleine, graue Maus neben einem roten Auto sehen, die gerade eine Ode an den Mond vorträgt, dann bin ich das.“
Der Mond hat’s ihm angetan. Warum?
„Frauen sind für mich wie Tauben oder wie Mond. Oder besser wie Mondsicheln. Also der Mond – ähm, nehmen wir die Frauen erst mal beiseite. Also wenn der Mond absackt, ist er ganz weit weg, aber nicht kalt. Die Sonne ist für mich schwarz. Der Mond blau. Die Farbe mag ich einfach. Warum lässt sich schlecht erklären, ist eben halb verrückt, einfach irre, so ’ne leuchtende Kugel am Himmel zu haben. Und Mondsicheln sind nach meiner Empfindung wie Frauen. Lange schon. Dann habe ich wirklich in der Literatur einen Hinweis gefunden, der die Sichelform als Symbol für Frauen erklärt. Genauso wie die Form der Vögel. Haben Sie schon einmal einen Vogel in den Händen gehalten? Was man da fühlt: wie das Vogelherz rast, ’ne Angst zu fest zuzudrücken oder, dass er fortfliegt. Fürchterlich, der Gedanke, einer Taube den Hals umzudrehen. Sie haben für mich einfach was mit Freiheit und Sesshaftigkeit zu tun.
Himmelskörper gehören in meine Bilder. Sonne oder Mond. Das hat nichts mit dem Licht zu tun. Die Sonne sticht, ist aggressiv. Mein ‚Sonnenkind‘ strahlt. Für das Tagebauthema suchte ich lange nach dem: Was mache ich mit der Figur? Eine Landschaft ohne Figur steht nicht für mich. Also, ich musste welche erfinden: Mondkinder, Sonnenkinder, Erdenkinder – Landsucher. Landsucher sind für mich ungeheuer wichtig. Leute, die nach einer neuen Heimat suchen. Dass die jetzt darüber hinaus noch die Wendestory assoziieren, dafür kann ich nicht. Aber es kommt dazu.“
Böttger ist dünnhäutig und ein Verletzter, der sich selbst nicht mehr irritiert. Schwere Zeiten, Unwohlsein wie Unbehagen sind für ihn die produktivsten Phasen. Das sagt einer, der kaum Pausen für sich zulässt. Wenn, dann ganz bewusst für die Familie.
Moni und die zwei Söhne – das Wertvollste um ihn. Seine Frau fand er in Meißen, wo beide Porzellanmaler lernten. Sie trug ihn und seine Lasten mit: Die exzessiven Malphasen im Freien mit Lehrlingsfreunden und die daraus rührende Hinwendung zur professionellen Malerei. Die Zeit der Kunsthochschule in Dresden. Die Rückkehr in die Lausitz, wo es für sie keine Porzellanmalerei gab. Moni gab ihm Halt, während seiner Enttäuschung über die Enge der Menschen in der Heimat. – Gartentür zu und keinen reinlassen. – Die Krisen. Die Isolation. Die Aufbrüche und Kontaktsuche. Langsam fanden Böttger’s neue Freunde. Am Ort und überall im Land. In Finsterwalde wäre der Maler verhungert, oder er hätte zarte Aquarelle anbieten müssen. Doch er blieb stur und sich kompromisslos selbst treu. So war der junge Maler schon zu DDR-Zeiten viel unterwegs. Den studentischen Lebensstil behielt die Familie bei. Das macht sie unabhängiger, nur ein Auto musste sein, der Mobilität wegen.
Als Maler hat Eckhard Böttger mit der Wende „nur“ seinen Harlekin verloren. Zirkus, Mensch und Akt ist die grobe Klammer weiterer Themen. Sein Harlekin stand für das Masken-Leben in der DDR. Ironisch bis zynisch. Er, der Maler, selbst in dieser Maskerade ein Clown. Der Moralist. Empfindsam. Der mag Menschen, glaubt nur an sie, obgleich hinlänglich und immer aufs Neue von ihnen enttäuscht. Mit DEM Volk hat er Probleme. Von dem ehemaligen DDR-VOLK fühlt er sich verletzt. Man sollte sich über derartige Gefühle nicht wundern, die jemand hat, der in jenes deutsche Zwischenland hineingeborgen wurde und es für sich als eine unverrückbare Größenordnung empfand. „Ja, die Wende wirkte auch auf mich befreiend. Aber wenn so ein blödes Wortspiel ‚Wir sind DAS Volk! – Wir sind EIN Volk!‘ eine ganze Politik ändern kann, und ein wichtiges Buch, ein gutes Lied oder Bild kann es nicht, weil’s keiner aufnehmen kann oder will, dann ist das für mich ziemlich erbärmlich. Heute würde ich keine Emotionen mehr an irgendeine politische Richtung verschwenden. Mich interessiert DAS Volk nicht mehr. Meinetwegen sitz‘ ich damit in irgendeinem Künstlerhimmel. Bitteschön, aber eben nach meiner Fasson. Es ärgert mich einfach, dass heute jeder primitive Löffel, der sich lieber ’nen Porno als ein Theaterstück reinzieht, und der auch sonst von nichts ’ne Ahnung hat, nur weil er Land besitzt, einen dicken Max schieben kann. Das ist meine Enttäuschung.“
Das kommt bitter aus ihm, umso gewisser ist’s, er wird seinen Harlekin wiederfinden, in irgendeiner Jackentasche, um abermals einigen Zeitgenossen, böse den Spiegel vorzuhalten.
Sein Finsterwalder Atelier musste der Maler inzwischen aufgeben. Die Kosten. Ein paar Monate war die Böttger-Vierraumwohnung mit den Werken des Malers verstellt, unlängst aber gab ihm das Finsterwalder Museum ein neues Arbeitsquartier.
„Hah“, belacht er trocken die vergangene Situation. „Was meinen Sie, was jetzt so losgeht. Die Riesenarbeitslosigkeit hier in dieser Region. Ich kann immer malen, notfalls wieder draußen. Wie oft werde ich gefragt: ‚Und, hast du noch deinen Job?‘ Und ich darauf: Ich war nie, und ich werde nie arbeitslos. Mir nimmt niemand den Job weg. Plötzlich überlegen die Leute. Fragen sich, was macht der eigentlich? Finden schließlich, Künstler seien etwas, die geben sich selbst Arbeit. Da steckt ’ne Menge Anerkennung drin. Das heißt nicht, dass sie die Bilder mögen. Nein, es geht um dieses Aus-Sich-Heraus, was bewundert wird. Zu DDR-Zeiten war es viel schwieriger, sich als Künstler zu bestätigen. Wir haben als Anfänger oft darunter gelitten, dass man uns an dem Haus eines Verbandspräsidenten gemessen hat.“
Heute heißt die „heilige Kuh“ anders: Kunstmarkt. Böttger lässt sich heute wie damals davon nicht beeindrucken. Oder doch? Schon: gelegentlich angewiderter Rückzug. Es beeindruckt den Mann viel mehr, wenn eine Arbeitslose ihm einen Druck abkauft, damit er und seine Familie über den Monat kommen. Restwärme aus der ehemaligen DDR? Vielleicht, vor allem aber: ACHTUNG.
Nicht die Konkurrenz nervt ihn, sondern die Art und Weise, was und wie Kunst in westlichen Galerien gehändelt wird. Das Oberflächliche. Für die Ost-West-Kunstdebatte hat Böttger nur eine Bemerkung: „Seitdem Baselitz uns Ostdeutsche Künstler als Arschlöcher bezeichnet hat, wo er doch selbst von hier stammt, weiß ich, dass er Angst hat.“
Böttger schlägt sich ohne großes Gewese durch. Eine Warnemünder und eine Galerie im Rheinland vertritt ihn. Warum nicht eine Cottbuser?
Er hat’s nicht mit den Klügeln, ist eher ein Einzelgänger und als solcher lieber viel unterwegs, um auf die Menschen zu treffen, die seine Arbeiten spontan und ohne lange Warteschleife annehmen. Nichts gegen die Leute in Cottbus oder Senftenberg. Er mag sie und sie scheinen ihm alle sehr interessant. Nur, er muss fahren, sonst erstickt er an der Finsterwalder Enge. Begraben werden will der Mann hier nicht. Obgleich er mit seinen Erdtönen genau hier im Brandenburgischen wurzelt. Eine Gegend nach seinem Sinn wäre Mecklenburg. Ein Traum, denn er ist nicht einmal für einen Arbeitsschuppen kreditwürdig. Hätte der Maler Geld, würde er eine Töpferei aufbauen, einen Dreher einstellen und mit Moni malen. Aber ist nicht, jetzt noch nicht. Doch die Bilderwelt eines Eckhard Böttgers kennt viele andere Malgründe.

(Buchbeitrag  in „Arbeitslos bin ich nie“, 1994, KIRO Verlag)

Ecki Böttger vorne, dahinter (v.L.N.R.) Moni Böttger, Musikclown Jopi, Petra Elsner, Norber Zallmann bei einem meiner Berliner Atelierfeste. Foto: Lutz Reinhardt
Ecki Böttger vorne, dahinter (v.l.n.r.) Moni Böttger, Musikclown Jopi, Petra Elsner, Norbert  Zallmann bei einem meiner Berliner Atelierfeste.
Foto: Lutz Reinhardt

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