Zeitzeugen (2)

… An dieser Stelle möchte ich bis November 2014 eine Handvoll Texte vorstellen, die gelebte Deutsche Teilungsgeschichte nacherzählen. Diesmal kommt hier ein Romanauszug, der die Ereignisse rund um den 7. Oktober 1989 in der damaligen DDR aufgreift …

Zeichnung: Petra Elsner
Zeichnung: Petra Elsner

Die Nacht: … Mittlerweile stieg in Matze Zorn auf. Er hasste diese Klagetour.
„Kannst du dich nicht einfach mal nur darüber freuen, dass ich hier bin. Musst du mich dauernd mit deinen Norm-Predigten belasten. Ich habe mich doch auch zurück gehalten, obwohl ich sah, wie du dich wieder hübsch opportunistisch eingerichtet hast. Wenn du ein schlechtes Gewissen hast, musst du dich selbst fragen: warum.“
„So, einfach freuen. Wie könnte ich das? Ich weiß nicht, wie du zurechtkommst. Ich mache mir Sorgen und dein Schweigen ist wie ein schreiender Vorwurf“, steigt die Mutter darauf ein.
„Und wenn. Vielleicht ist es einer. Drückt das dein Gewissen? Mag sein, du hast Zwänge. Aber das du die noch gutheißt, jetzt statt sozialistische, marktwirtschaftliche Verhaltensweisen preist, das kühlte mich ab. Was ich für dich tun konnte, hab‘ ich getan.“
„Ach, ja?“, fragt die Rothaarige gereizt zurück. „Was hast Duuu schon für mich getan?“
„OOh, das ist dir entgangen? Na ja, warst ziemlich zu, als man eure DDR-Gerichte schloss. Da hab ich fast jeden Abend dein Händchen gehalten und dir zugehört. Weißte nicht mehr?“ Und seit dem du wieder obenauf bist, klopfst du diese Sprüche. Ich kann’s nicht ertragen.“ Matze wurde mit jedem Wort heftiger. Nun konnte er sich nicht mehr stoppen.
„Alles wär‘ heut‘ anders! Pah! Nur anders angepasst! Wirklich toll, was du da so faselst! Das mag für solche Gewohnheits-Angepasste wie dich gelten. Aber für mich? Was weißt du denn schon“, dröhnte es aus ihm heraus. „Während du am 8. Oktober 89 morgens brav-bieder in der S-Bahn die Zeitung aufgeschlagen hast, und dich vielleicht noch über die Krawalltypen mokiertest, ist dir da nicht die Frage in den Sinn gekommen, was das für junge Leute sind? Wo sie herkamen? Kannst du dir vorstellen, was ihnen in jener Nacht widerfuhr? Hast du nur einmal deinen Schatten übersprungen und wolltest es wirklich wissen? In die Gedächtnisprotokolle der Inhaftierten konnte man ein paar Wochen später im Ausstellungszentrum am Fernsehturm einsehen. Warst du da? Was meinst du, wie es jetzt in denen aussieht, und was die für ne Lust haben, sich anzupassen.“
„Was schreist du denn so, Junge?“, unterbricht sie ihn verletzt und erschrocken. „Warum sollte ich denn? Waren doch, wie sich heute herausstellt, alles Traumtänzer. Ist Geschichte. Vorbei. Und was erregt dich das heute noch?“
„Weil ich auch dabei war“, gibt Matze kaum hörbar, aber erlösend von sich.
Die Mutter saß mit aufgerissenen Augen und halb geöffnetem Mund, in dem das Entsetzen steckenblieb. Und weil sie still war, sprach er langsam weiter:
„Du weißt gar nichts und ich glaube, du wolltest auch nicht behelligt werden. Ja, ich war damals im ersten Studienjahr und schlief ab und zu auswärts. Aber es hat dich ja nicht einmal stutzig gemacht, dass ich gerade in diesen heißen Tagen nicht nach Hause kam. Dann war da die Frau-Freundin, und das war dir Erklärung genug. Hast du nicht gesehen, dass ich mich verändert hatte. Oder meintest du wirklich, Liebe macht so krank und hart, wie ich damals war? Nichts kam dir in den Sinn, und ich habe dir zuerst wegen deiner Position bei Gericht nichts gesagt. Ich wollte dich nicht ängstigen und noch mehr verunsichern. Es war ja in den paar Tagen nicht klar, ob es Folgen haben würde. Niemand wusste, wie das ausgeht. Niemand. Und später konnte ich es einfach nicht mehr aus dem Ärmel schütteln. Die ganze Wandlizscheiße, die unzähligen moralischen Verfehlungen, die da jeden Tag hochkamen und die Gemüter erhitzten. Dein Mitläufertum, ich wollte dir das bei all deinen Existenzängsten nicht auch noch aufdrücken. Aber dein unbekümmerter Übergang nach ein paar Wochen, den hab ich kaum ertragen, als hättest du nichts verloren.“
Matze versucht, seine vor Erregung zitternden Hände vor ihr unter dem ornamentenschweren Tischtuch zu verbergen. Indem richtet er die schmalen Schultern nach vorn und beginnt sich ruhig zu reden:

„Wir, ein paar Kumpels, waren an diesem Abend einfach unterwegs. Ein Feiertag – wie ein verkehrter Ball. Überall knisterte es. Du weißt ja, viele Leute saßen auf gepackten Koffern nach Prag und Budapest und wie viele schon weg waren. Es hatte sich herumgesprochen, dass abends in Alex-Nähe etwas losgehen würde, was die obskure Situation bloßlegt. An der Humboldt-Uni brodelte es: Illegale Treffs. Wir wollten Studentenräte bilden. Es ging uns um Mitsprache und gewerkschaftliche Vertretung. Die Strukturen der FDJ taugten nicht dafür. Aber der Zentralrat wehrte sich noch bissig. Die Rädelsführer der Studenten wurden beobachtet. Man versuchte uns von den anderen zu isolieren, drohte mit Exmatrikulation. Wir waren hoch politisiert. An jenem Abend am Alex aber, gehörten wir nicht zu den Akteuren, waren einfach mal nur neugierig und dann plötzlich mittendrin in dem Schlamassel: Auf der Seite der Demonstranten Freiheit-Rufe und auf der Front der Bullen große Technik und Schlagstöcke. Die bekamen wir augenblicklich zu spüren. In Nullkommanichts wurde ich mit vielen auf so nen Laster verfrachtet. Meine Kumpel konnten entkommen. Die Bullen griffen alle, die sie kriegen konnten. Auch Passanten. Mir gegenüber kauerte eine junge Frau. Die machte sich heulend gerade und schrie: `Seid ihr verrückt, das ist ja wie ein Alptraum, ihr sperrt die eigenen Leute ein – Genossen!‘ Ein Schlagstock flog ihr über den Schädel. Sie presste ihre Hände auf den Schmerz und wimmerte nur noch, ‚Das kann doch alles nicht wahr sein‘. Über das, was dann kam, kann ich immer noch nicht richtig reden. Während ich an der Wand in irgend so einer Großgarage mit gespreizten Beinen und Armen die Nacht durch stand, waren meine Kumpels bei Lisa. Sie klopften sie um ein Uhr morgens heraus, und verschafften sich mit dem dramatischen Satz ‚Matze ist verhaftet!‘ Einlass. Lisa war in Pankow Pionierleiterin. Jo’s kleiner Bruder war in ihrer Gruppe. Jo, das ist einer meiner Freunde noch aus Pankow. Erinnerst du dich noch an ihn? Na, egal. Im Sommer trafen wir die Frau zufällig im Bürgerpark und quatschten lange miteinander über neue Strukturen für mehr Demokratie, Schichtenparlamente und so. Sie lud uns zum Tee ein, und seitdem waren wir oft bei ihr, um über Problemen zu brüten. In ihrer Angst wussten meine Leute nicht wohin. Sie hofften, dass Lisa helfen könnte. Als Genossin – vielleicht. Sie soll da im Nachthemd gestanden haben, ganz ungläubig. Dachte, die Jungs übertreiben. So was tun ihre Leute nicht. Dann sind sie losgelaufen. Erst zu uns in die Florastraße. Sie haben sich am Sims hochgezogen und schauten in mein Zimmerfenster. Das Bett war leer. Erst jetzt begann Lisa die Sache ernst zu nehmen. Diese Nacht hat ihr Leben erschüttert. Alles, woran sie glaubte. Sie stand in einer Telefonzelle und hat Polizeireviere angerufen und sich als meine Mutter ausgegeben. Hörte, wie sie in Listen blättern und sagten: ‚Nein, hier nicht! Warten Sie ab. Sie bekommen Bescheid.‘ Sie hasteten nach zwei Stunden zurück zu meinem Fenster. Nichts. Jo und Chris sind ihr dann nicht mehr von der Seite gewichen und Lisa spürte in der wahnwitzigen Forderung meiner Kumpel: ‚Wir müssen ihn da rausholen‘ ihre Verantwortung. Zuletzt waren sie alle nur noch von Ohnmacht gedrückt. Lisa war erschüttert und das trieb sie an, sich um die jungen Leute dieser Nacht zu kümmern. Zusammen mit der Jugendfürsorge hat sie im Jugendklub eine ‚Sprechstunde des Vertrauens‘ eingerichtet, damit solche wie ich ihren Schock verarbeiten können. Ich kam vier Tage später aus dem Knast. Frag‘ nicht wie. Ich hatte echt ’nen Knacks weg. Ich war doch kein Staatsfeind, aber man verfuhr mit mir so. Zuerst ging ich zu Jo. Der mir das alles erzählte und danach brachen wir zu Lisa auf. Dort blieb ich. Eine Woche hab ich mich nicht aus der Bude gewagt. Ich war total verstört. Irgendwann nachts ist Lisa in das Gästezimmer gekommen, hat meine Hand genommen und sie unter ihren Bademantel rumgeführt. Am Morgen danach floss wieder Blut in mir, und ich konnte nach Hause gehen. – Das ist zwei Jahre her.“
Matze räuspert sich, und er sagt nur noch: „Wir leben nicht mehr miteinander, aber ich bin noch ab und zu bei ihr – zum Reden …

© Petra Elsner

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(Auszug aus: „Glatze & Palituch“, der Roman erschien 1993 bei  Delfini in Athen (in Griechischer Sprache)

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