…„Weil die Chancen ungleich sind. Vor allem für Intellektuelle und Bildende Künstler. Für satte zwei Generationen. Selbst Filme über die DDR-Zeit drehen nicht Ostdeutsche, ausgenommen natürlich Andreas Dresen mit seinen Filmperlen. Diese von Westdeutschen nacherzählten Geschichten sind selten stimmig und stecken voller Unterstellungen. Noch leben Menschen, die mit ihrem Wissen jene neuen Erzählungen stören könnten. Was für ein Wahnsinn, aber die biologische Lösung ist schon in Sicht. Für die Jüngeren wird es inzwischen besser, ich hingegen habe mich 30 Jahre lang wie jemand aus der Schattenelite gefühlt, nicht zugehörig und ungesehen. Immer nur klein-klein und regional. Miniauflagen mit Kleinverlegern, die Erlöse ein Witz…“ Elias drehte das Glas, als wollte er den Goldrand abreiben. Er wirkte auf einmal alt und mürrisch.
Maja dachte sich, so sieht Verletzung aus. Sie stand auf, nahm ihm das Glas ab, zog ihn hoch und umarmte ihn, wie man schützend einen Freund in den Arm nimmt. „Ich weiß doch, es erging mir nicht anders, aber ich habe das Klagen inzwischen aufgegeben. Es ändert nichts, und die Zeit lässt sich nicht für uns korrigieren. Nur, wenn dann manch Zugezogener medial wirksam fragt, wann man ihn endlich als Ostdeutschen betrachtet, bin ich angefressen. Neulich hat sich doch wirklich einer entblödet, dass im Zusammenhang mit einer Studie zu fragen. Diese Studie besagt, dass nur 5 Prozent der Ostdeutschen bisher in Führungspositionen gelangt seien. Beides macht mich ärgerlich: Der Fakt an sich, und dass da einer glaubt, er überschreibt durch seinen Zuzug die mageren Zustände. Aber Hallo! Durch Zuzug bekommen die im Osten plötzlich höhere Renten? Das ist eine Denke, die ist so dreist, ach, ich will mich nicht in Rage reden.“ Sie setzten sich wieder und tranken die Neigen langsam aus. Doch etwas war plötzlich anders, sie hatten sich berührt.
Auf der Rückfahrt in die Stadt spürte er sie noch, ihre Umarmung. Ihm war seltsam aufgewühlt zumute. Er konnte sich nicht erinnern, in den vergangenen Jahren einem Menschen begegnet zu sein, der ihm urplötzlich so nah war. Sie wusste, woher er kam, verstand seine Verletzungen, seine Müdigkeit. Nein, sie waren nicht Gleiche, aber schaffensverwandt. Oder war es mehr als das? Elias Kühn wollte es nicht weiter bedenken. Als die Bahn den Grünauer Forst mit seinem abendlichen Schneeleuchten verließ, zog er seinen „Spiegel“ aus der Manteltasche und überflog die Themen der Seiten, ohne sich zu vertiefen…
Views: 378