Am Morgen des 24. Dezembers hastete Leons Mutter Eleonore von Stand zu Stand. Sie war wohl die Letzte, die hier noch Geschenke suchte. Den ganzen Monat über hatte sie im Krankenhaus Doppelschichten arbeiten müssen, weil viele Kollegen wegen Erkältungen ausgefallen waren. Die Frau drückte ein schlechtes Gewissen, denn für Leon war da kaum noch Zeit gewesen. Und wer war nur dieser Rudi Sonne? Auf Leons Zettel stand „Es kann später werden, bin bei Rudi Sonne, Am Markt 4.“ Als die Händler langsam mit dem Abbau ihrer Stände begannen, trat Eleonore voll beladen mit Einkaufstüten vor das Haus hinter der Tanne. Sie klingelte bei „Sonne“. Aus dem Lautsprecher flüsterte es: „Wer da?“ „Eleonore Winter! Leon?“ „Pssst, ja, komm rauf Mama, aber leise“, wisperte das dünne Stimmchen aus dem Messingschild. Zugleich summte die Eingangstür und sprang auf. Im Treppenhaus duftete es aus allen Ritzen nach Braten und Süßspeisen. Hier tönte fröhliche Weihnachtsmusik bis auf den Flur, dort ein Orgelkonzert. Die Atmosphäre knisterte vor feierlicher Spannung. Im vierten Stock stand eine Wohnungstür offen. Eleonore Winter trat in den Flur, legte alle Beutel und Pakete ab und schnaufte etwas außer Atem. Dann suchte sie nach Leon. Der starrte gemeinsam mit Rudi Sonne aus dem Fenster. Stocksteif saßen sie beieinander, nur Leons Zeigefinger deutete ihr an, dass sie näher kommen soll. Sie schlich sich auf den freien Stuhl und schaute ebenfalls aus dem Fenster hinaus. Draußen auf dem Balkontisch lag ein großer Sack und in dessen Mitte eine Nuss. Eleonore sah Leon fragend an, der ihr zutuschelte: „Das ist meine Zaubernuss, es wird bestimmt gelingen!“ Die Frau nickte zustimmend, wusste nur nicht, was ihr Sohn meinte. Sie saß wie auf Kohlen: Kein Braten im Ofen, kein Geschenk eingepackt. Sie fühlte sich festgenagelt und wurde unruhig. „Psst, Mama!“, ermahnte sie das Kind, als endlich Fridolin erschien. Schon einige Tage hatte er sein Futter auf diesem Stoff vorgefunden, aber diesmal zog Rudi Sonne an einer Schnur, und der Sack schnellte blitzartig mitsamt dem Tier in die Höhe. „Geschafft!“, jubelten der kleine und der große Mann.
Leon erzählte nun seiner Mutter von den 300 Goldnüssen, dem diebischen Eichhörnchen, den unzähligen Fangversuchen und von der einen Zaubernuss, die den Fridolin nun in den Sack befördert habe. Dann telefonierte der Maler wie vereinbart mit dem Naturbeamten.
Eine Stunde später startete Bodo Grünlich seinen Jeep und rüttelte und schüttelte mit Fridolin im Sack, Leon, Rudi und Eleonore über altes Kopfsteinpflaster und Sandstraßen zu Willi und Frieda am Waldrand. Die beiden Alten warteten schon, denn Grünlich hatte sie informiert und streng nachgefragt, ob denn alles gut vorbereitet sei. „Gewiss, doch! Der Willi hat sogar die Höhle im Pflaumenbaum mit dem Kompressor ausgepustet und dann darin ein weiches Moosnest bereitet“, erzählte Frieda noch und der Beamte klang zufrieden. Als Bodo Grünlich den zappelnden Sack leicht geöffnet vor den Höhleneingang hielt und der kleine Nager in sein neues Quartier entschlüpfte, schaute Leon hinauf in die dürre Baumkrone. Unzählige Nüsse und Tannenzapfen hingen an dünnen Fäden im Geäst. „Das ist ja ein richtiger Weihnachtsbaum für Fridolin“, freute sich das Kind. Es dämmerte langsam, und die Schritte der kleinen Gesellschaft knirschten durch den Schnee davon. Alle waren sehr erleichtert und konnten nun ihren Heiligen Abend beginnen.
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