12. Klausur-Schnipsel – der Schluss

zu “Die verlorene Geschichte”:
… Sie hatte ihn gebeten, falls er wieder einmal so einen Bedenk-Schnipsel aufstöberte, ihn ihr zu schicken. Es würde ihr helfen, sich zu erinnern. Maja Hügel hatte den Übergang von einem Land zum anderen verdrängt; oder war er nur überlagert von ihrem damals beschädigten Sein? Wahrscheinlich. Sie saß gerade an sehr aufwändigen Kinderbuchillustrationen, als die Mail von Elias aufploppte. Sie las alles in einem Rutsch und musste immerzu schlucken. Bei Hajos Bericht kamen ihr die Tränen. Er erinnerte sie an die wütenden Übergriffe ihres Ex-Mannes. Not verändert, Not zerstört. Als Maja damals zu ihrer Mutter floh, war sie nur noch ein Wrack, abgemagert, fahrig, ängstlich, ohne Stolz. Es hat Zeit gebraucht, sich aus dem Zustand der Apathie zu erheben. Der mütterliche Schutzraum und die feinsinnige Arbeit halfen dabei. Denn jedes gestaltete Blatt, das zu einem schönen Buch verhalf, nährte einen neuen Stolz. Die Mutter bekochte sie und nähte ihr weite gemütliche Patchwork-Kleider. Es war eine Art Langzeit-Reha, nach der der bunte Vogel wieder sang, nur nicht mehr im Duett. Vor ein paar Jahren erkrankte Majas Mutter an Krebs. Er wurde erst im Endstadium diagnostiziert, und so starb sie nach sechs Wochen. Maja pflegte sie und blieb nach dem Tod der Mutter allein. Bis vor ein paar Tagen gab es nie einen Mann in diesem Häuschen. Die gutsituierten Großeltern hatten es für ihre verlassene Tochter bauen lassen, die in ähnliche Bedrängnisse geraten war. Maja wusste noch nicht, ob sie das Weiberexil für etwas Gemeinsames öffnen könnte, aber sie war dabei, es zu überdenken. Besucher kommen und gehen, er könnte bleiben wollen.

Der Mann schlenderte durch seinen Kiez. Er war eine seltene Spezies geworden. Natürlich hatte er den Wegzug der vertrauten Nachbarschaft sehr wohl bemerkt, aber die Arbeit ließ ihn kaum aufblicken. In Zeiten spürbarer Einschnitte, dem Sparzwang bei den klassischen Medien, waren es die Freiberufler, denen man zuerst die Honorare kürzte und Pauschalverträge aussetzte. Elias Kühn war, wie viele seiner Artgenossen, im Älterwerden zu immer mehr Arbeitsleistung genötigt, um sein Leben zu finanzieren. Maja erging es ähnlich. Sie kämpfte schon lange gegen die Konkurrenz der glatten, preisgünstigen und fixschnellen Computer-Grafik. Mit Stift und Pinsel konnte sie den neuen Sehgewohnheiten kaum noch entsprechen. Zwei Hamster im Laufrad. Erst als Elias sich Zeit gönnte, erfühlte er den urbanen Wandel seines Stadtquartiers, und auch, dass ihm dieser Ort nicht mehr so viel bedeutete wie einst, als die Kunstszene, die Punks und all die schrägen Falter hier noch steppten. Er fühlte sich wie ein gealtertes Überbleibsel. Ein Faktotum, das seine Geschichte irgendwo vergessen hatte.  Aber die Suche hatte ihm Maja beschert. Er trug diese stille Freude in sich, und jeder, der es sehen wollte, bemerkte diese Verzauberung. Natürlich war dem Mann klar, dass Maja mit ihrer Vorgeschichte vor schwierigen Entscheidungen stand. Er wollte es ihr etwas leichter machen und sie zugleich überraschen.

Elias Kühn fuhr mit einem Mietwagen in den Norden Brandenburgs. Gegen Mittag betrat er den väterlichen Dreiseitenhof, den seine Stiefmutter mit ihrem neuen Mann weiter bewohnte. Sie wusste sofort, weshalb er kam. Die Frau von Mitte Siebzig trat vor die Tür, überreichte ihm wortlos einen Schlüssel, dann schloss sie die Tür. Manche Brüche heilen nicht. Sie hatten sich im Streit voneinander gelöst und vereinbart, irgendwann würde er Vaters Wohnwagen QEK Junior – sein kleines Erbe – abholen. Er schloss die alte Scheune auf, und sein Gedächtnis schickte ihm sofort beklemmende Spukbilder: Der Vater am Seil. Langsam wandte er sich ab von diesem Totenplatz. In einem dunklen Winkel unter dem Heuboden stand das verhüllte Gefährt. Elias zog die mächtige Plane ab. Der weiße Lack war noch tadellos. Drinnen sah alles aus, wie er es erinnerte: Kochnische, Einbauschänke, Klapptisch, Klappstühle, Doppelliege. Er schob das Mobil schnaufend auf den Hof, schloss die Hänger-Kupplung des Mietwagens an, stieg ein und startete. Jeden Meter Abstand, den er zwischen sich und den Hof brachte, machte ihm das Herz leichter.

Drei Wochen später. Das Wohnmobil parkte im Hinterhof seiner Stadtwohnung. Es war inzwischen in der Werkstatt durchgecheckt worden, und ein Tischlerfreund aus dem „Blauen Licht“ hatte den Innenausbau modernisiert. Elias kaufte neues Bettzeug, schicke Decken, Kissen und Akku-Lampen. Neues Besteck sollte die stumpfen Alulöffel ersetzen. Als er den hölzernen Besteckkasten aus der Lade hob, fand er einen Umschlag. Sein Hellgrün war inzwischen gräulich und roch alt. Er öffnete ihn vorsichtig und fand darin eine karierte Schulheftseite, auf der stand „Verzeih mir“. Elias atmete schwer. Der Vater. „Was, um Himmels Willen, soll ich dir verzeihen?“, brummte der Sohn. Noch ein Geheimnis. Er schüttelte den Kopf. Nicht einen neuen Albtraum bitte. In diesem Moment entschied Elias Kühn, nicht seiner dunklen Ahnung nachzugehen und nach möglichen Stasiakten zu suchen. Genug, fand er. Dieser Teil der Geschichte hat so grell im Licht der Öffentlichkeit gestanden und alles andere überschattet, er durfte sich langsam abnutzen. Jedenfalls die Gefühle dazu. Der Mann kippte den kompletten Kasteninhalt in die schwarze Hof-Tonne und warf die Zettelnachricht in die Blaue. Elias Kühn interessierte die andere Geschichte.

Für das Osterwochenende war er in Eichwalde angekündigt. Der Frühling schüttete seinen Glanz aus und alles drängte zum Licht. Elias kutschierte sein Gespann über die Landstraßen, im Konvoi mit unzähligen anderen, die es Ostern in die Landschaft zog. Tempo 40, es war ihm egal. Er sah das leuchtende Forsythiengelb, das helle Blattgrün der Sträucher, Vogelzüge am Himmel, klappernde Störche auf Dachhorsten. Frühjahrsromantik beschlich den Mann am Steuer. Als Maja ihn begrüßte, sah sie verwundert auf das Gespann vor ihrer Gartentür. Elias legte den Arm um die Frau und fragte erwartungsvoll: „Was hältst du von einer Nacht am Meer?“ In der Dämmerung standen sie an einem wilden Strand. Zeit für wundersame Träume und Lustbarkeiten.

Im Morgengrauen verschwanden sie von diesem illegalen Platz an der Düne. Maja hatte für das Osterfest mit Elias vorgesorgt, und sie wollten nicht die überfüllte Küste bei Tag erleben. Während sie heimfuhren, fragte Maja: „Weißt du, was aus deinen ‚Insulanern‘ geworden ist?“ Er schüttelte den Kopf: „Fast alle weg, irgendwo in der Welt. Sie waren ja damals schon von ihrer Insel abgeschüttelt worden. Jetzt sind sie etwa 50 Jahre alt und stecken in neuen Bündnissen. Ihre Welt von damals gibt es nicht mehr.“ „Bitter?“, fragte Maja nach. „Nein, nicht bitter. Sie sind irgendwo angekommen, denke ich. Ich sammele derweil nur brüchiges Wissen, falls sie mich irgendwann mal danach fragen.  Und du, wie geht es dir jetzt? Maja schweigt ein paar Sekunden lang: „Ich nehme meine Zeit an. Sie gehört mir. Gelegentlich binde ich mich an Projekte, klare übersichtliche Aktionen. Meine Weltsicht wandelt sich so wie sich die Welt wandelt, die lässt sich nicht in ein Parteienkorsett quetschen. Das hatte ich mal in dem alten Land, ist mir nicht gut bekommen. Deswegen bin ich auch von den Forum-Leuten weg, als die politischen Einfluss anstrebten. Aber wir sind stets das, was wir waren. Das können wir nicht abstreifen, wer auch immer das von uns verlangt.  Ein Malerfreund aus der Lausitz malte in den 90er Jahren mit der Herdasche seines für die Kohlebagger leergezogenen Hofes. Das war extrem und so gar nichts fürs Wohnzimmer. Aber er musste seinem Verlustschmerz Gestalt geben. ‚Landsucher‘ nannte er seine abstrakten Aschefiguren. Ich habe für meine Verluste ein ähnliches Bild gefunden: Die Zeitschatten. Verstehst du, was ich meine?“
Elias nickte und legte sich das Wort noch einmal auf die Zunge: „‘Zeitschatten‘, das ist es wohl, was ich suchte, ein Wort, für ‚Die verlorene Geschichte‘. Schenkst du es mir?“ Maja hob die Brauen, als wollte sie das erst einmal gründlich bedenken, dann prustete sie: „Aber ja doch, es passt zu dir.“

                                                                            ENDE

Danksagung

Ich danke meinem Liebsten für die Geduld mit mir, dass ich nun schon zum zweiten Mal eine Winterklausur für ein schwergewichtiges Thema verwandte. Für etwas, das bleibt – vielleicht.
Dankbar bin ich ganz besonders meiner Freundin Ines Wagenbreth, die mein Schreiben ermutigend begleitete und während des Schreibprozesses Korrektur las. Sie hat manchen Gedankenknoten gelöst. Sei umarmt dafür!
Dank gilt auch meinem Künstlerfreund Micha Seidel, der mich aufforderte, meine fünfseitige Kurzgeschichten-Idee auszuweiten und mir als Entschädigung für den erneut durchlebten Erinnerungsschmerz eine Kiste Wein und ein langes Gespräch schenkte… das hat geholfen 😊.
Und auch allen Lesern und Leserinnen des Blogs, die mir während der Klausur Zuspruch spendierten, sei herzlich gedankt.

Mancher wird sich vielleicht fragen, ob es meine Geschichte sei, die hier verhandelt wurde. Nein, die Hauptfiguren sind erfunden, sie sind auch zehn Jahre jünger als ich, aber sie nehmen natürlich mein Zeitenwissen in sich auf. Andere, die in kleinen Szenen auftauchen, sind hier und da reale Menschen, wie beispielsweise die Aufwindleute. Auch die Lisa-Runde erzählt mit veränderten Namen wahres Leben. Aber manches durfte in meiner Novelle noch ein kleines bisschen länger leben, was in Wahrheit gar nicht mehr existiert, wie das „Blaue Licht“. Es war einmal…

Nachtland

Komm leg‘ dich in meinen matten Schatten.
Die Nacht tanzt voller Gespenster
wild und uferlos.
Komm feg‘ deine Furcht aus meinem Nacken
und mach‘ die Leinen los.
Die Zeit nimmt Fahrt auf – gegen Gischt und Sturm.
Der Kurs heißt: Nachtland,
auf dem der Schatten thront.
Komm pflück‘ dir einen Stern aus meinem Himmel,
und steck‘ ihn dir an deinen Hut.
Er leuchtet durch die längste Nacht
und gibt dir wieder Mut.

Spende? Ja, gerne.
Hat Ihnen diese Geschichte gefallen? Vielleicht möchten Sie mich und mein Schaffen mit einem kleinen Obolus unterstützen? Sie können das ganz klassisch mit einem Betrag Ihrer/Eurer Wahl per Überweisung tun. Die Daten dafür finden sich im Impressum. Dankeschön!

Stimmen zur Novelle und zum handgefertigten Künstler-Heft:

Andre Jahr, 1. März 23: Danke Petra!
Es passt für mich und es sollten noch mehr Menschen lesen. Erinnern, Klarheit bekommen und an die Jüngeren weitergeben, denn sie bekommen kein reales Bild der Zeiten vermittelt. Dazu können aber wir etwas tun. 💕

Barbara Liebrenz, 1. März 23: Sehr, sehr emotional und stimmig.

Ines Wagenbreth, 8. März 23: Meine liebe Petra, ui, da hab ich mich aber gestern gefreut, als ich deine Post öffnete! So eine schöne Ausgabe. So feines Papier! Es machte Freude, darin zu blättern. Sehr edel!

Reinhard Gundelach, 8. März 23: Heute bekam ich Post, eine wunderbare Novelle. Kann das Büchlein nur empfehlen! Wer daran Interesse hat, sollte die Autorin Petra Elsner kontaktieren.

Bianca Tiedt, 18. März 23: Hab’s mit Freude gelesen. Bin auch sehr gut reingekommen (lese ja sonst nicht so oft). Besonders gut hat mir die Geschichte zwischen Elias und Maja gefallen 🥰 hab mir da irgendwie immer dich und Lutz vorgestellt GRINS… Auf jeden Fall sehr spannendes Thema!!! Hab ja von der Zeit nu nicht wirklich was mitbekommen, um so interessanter finde ich es immer, wenn Leute davon berichten, wie sie das so erlebt haben! Also dicken 👍🏻 nach oben!!! Hat mir sehr gut gefallen 😊

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11. Klausur-Schnipsel

zu „Die verlorene Geschichte”:

… Er hatte seinen Terminjob erledigt und etwas Zeit, wieder nach dieser flüchtigen Geschichte zu suchen. Vielleicht auch nur nach einem Textstück, dass die Zeit authentisch festgeschrieben hatte. Wie viele Wahrheiten wohl nebeneinander abliefen? Er konnte nur die eigene wiedergeben oder alte Niederschriften sprechen lassen. Aber wie war das damals? Das Bild verschwimmt, man erinnert sich kaum noch. Der Schreiber durchforstete seine Stücke, Porträts, Erzählungen und fand, diese Romanpassage hielt die Situation junger Menschen jener Tage gut fest:

Frühjahr 1991
Da saßen sie wieder um den großen mattgescheuerten Eichentisch in Lisas Küche: Chris, Jo und Hajo, der harte Kern eines Freundeskreises. Hier, zwischen Abwaschbecken, Kartoffelkorb und irdenen Gefäßen; auf unegalen, knarrenden Holzstühlen, schufen sie sich im Kopf die „Flora-Insel“, ihr Selbsthilfeprojekt. Das war im Frühjahr 1990, eine Zeit, jenseits von Gut und Böse, in der die Wohnungen nicht mehr genug Platz für die vielen Ideen und der daran klebenden Leute boten. Eine verlassene Kneipe in der Florastraße war das Objekt ihrer Begierde. Heute scheinen ihnen Welten dazwischen zu liegen. Nein, sie trinken nicht wie damals Indische Teemischungen für eine Mark und zwanzig mit ein bisschen Zucker und Zimt, damit das Getränk überhaupt Aroma bekam. Lisa verbreitete immer einen Zauber um den Tee in der dickbauchigen Steingutkanne. Es war ihr Tun und Machen, das der Teestunde so etwas Zeremonielles verlieh. Das hatte Seele. Matze erinnert sich an so ’nen typischen Gedanken von ihr: „Die Dinge mit Freude und Muße verrichten, dann werden sie wertvoll, weil Liebe drinsteckt. Du kannst den billigsten Apfelwein auf den Tisch bringen, wenn du ihn achtungsvoll kredenzt – in polierten Römern, bedächtig, voller Genuss, begleitet von geistreichen Worten, dann nehmen ihn deine Gäste an wie ein reiches Geschenk.“
Lisa machte aus ihrer schon damals bescheidenen Lebenssituation eine Tugend. Damit lebt es sich zufriedener, als immerfort unerfüllbaren Wünschen hinterher zu hasten. Als die D-Mark kam, spielten ihre beiden Mädchen verrückt. Sie wollten auch gerne so viele schillernde Sachen, wie sie etliche Schulfreundinnen jetzt bekamen. Die alleinerziehende Pionierleiterin hätte gerne nachgegeben, konnte es jedoch nicht. Sie war – noch vor dem Parteisekretär der Schule – ihren Job los. Eines Tages nahm die stolze Frau ihre Kinder bei der Hand und setzte sich mit ihnen geradewegs vor das Metropol-Hotel in der Friedrich-/Ecke Mittelstraße. Nobelkutschen mit Geschäftsleuten fuhren hier unentwegt vor. Sie wählte eine Parkbank gegenüber dem Eingang und forderte Jenny und Fanny auf, eine Stunde lang genau in die Gesichter der Eintreffenden zu schauen. Sollte nur einer unter ihnen richtig glücklich aussehen, könnten sie sich etwas wünschen. Die Mädchen entdeckten keinen.
Lisas Gäste hatten sich verändert. Hajo studierte jetzt an der TU in Dresden, Chris im katholischen Bamberg. Es war der reinste Zufall, dass Jo’s Telefonrundruf alle in der Pankower Altbauwohnung zusammenbrachte. Doch bereits an der Tür, als sie die mütterliche Freundin wie immer umarmten, spürte jene eine merkwürdige Verlegenheit. Bis auf Matze hatte sie die anderen fast ein Jahr nicht mehr gesehen. Sie sah in den forschenden Blicken der drei Verschollenen leichte Enttäuschung – alles noch beim Alten. Kein neues Buch, keine neue Technik, nirgends etwas modernisiert, und Lisas Augen: gerötetes Grau, ohne das bekannte Funkeln. Als Matze seinen Ökobeutel auspackte: Weißbrot, Leberwurst, Teebeutel, Weintrauben und einen Pappkarton roten Tafelwein, wussten sie, mit ihren Mitbringseln lagen sie völlig daneben. Fast peinlich berührt, stellten die drei je eine teure Flasche Wein dazu. Lauter als notwendig begannen sie sich über ihre Studienbedingungen auszutauschen.
Lisa dachte kopfschüttelnd: „Dafür hätte ich glatt ein Wochenende bestreiten können.“ Die zarte Frau ging an ihren alten Küchenschrank und suchte in einer Lade laut scheppernd zwischen metallenem Küchengerät nach einem Korkenzieher. Matze trat unauffällig daneben, legte seinen Arm um sie und flüsterte ihr zu: „Sei nicht sauer. Sie haben einfach nicht nachgedacht und wollten Dir ’ne Freude machen. Okay?“ „Hm“, gab sie ihm mit dünnem Lächeln zurück. Chris schob sich zwischen die beiden, griff nach den Gläsern im Vertiko, und Jo nahm Lisa mit einem „lass mich mal“ den Korkenzieher ab. Sodann saßen sie beim Wein, doch das Gespräch wollte nicht richtig anlaufen. Taktik kannten sie früher untereinander nie. Sie hatten sich damals sogar einen Kurzzeitwecker auf den Tisch stellen müssen – statt Glocke – damit jedem Redezeit zufiel und das Recht, gehört zu werden. Wie einst in der Volkskammer. Ein Spiel, das ihnen gefiel, und doch war es nur Lisas Mittel, sie ausreden und zuhören zu lehren. Und wenn ihnen die Anstrengung zu herb im Gesicht stand, spielten sie mit Würfeln oder Karten, auf dass der Druck des Tages von ihnen wich und sie wieder sein konnten, was sie waren – große Kinder.

Man war sich seinerzeit sehr nahegekommen. Zu nahe? Die Zeit ließ hohe, unsichtbare Hecken wuchern; jeder versiegte Traum – ein Stachel am Gestrüpp; jeder Neubeginn trieb einen steilen Ast zum Licht, der das innere der Hecke tötet. Sie hatten Unmengen an Neuigkeiten auf Lager, doch wo anfangen, wo aufhören? Diese Nacht reichte ohnehin nicht, und getrennte Zeit gebiert getrennte Wege, und dann sind noch die ungleichen Chancen. Schlimmer noch war; sie hatten keine gemeinsamen Träume mehr. Matze wusste plötzlich, das war der Knoten, der sie noch lose verband – der verbrauchte Insel-Traum. Die Erinnerung. Aber mit Anfang zwanzig will man nicht rückwärts leben. Wenn diese Gruppe sich nicht gänzlich verlieren wollte, brauchten sie neue Gemeinsamkeiten. Anders kann man füreinander nicht da sein.
Matze holt entschlossen den Kurzzeitwecker vom Herd, zieht ihn demonstrativ auf: „Also, liebe Insulaner! Wovon träumt ihr noch? Jeder hat fünf Minuten.“ Er stellt das tickende Ding vor sich und mustert schlitzohrig die Freunde wie die Spieler einer Pokerpartie. Er war der Zeit-Banker.
Chris verliert augenblicklich seine keck-fröhlichen Züge. Allein das Wort „Insulaner“ bohrte sich in sein Inneres und traf dort auf eine immer noch wunde Stelle, die er sonst, unter Fremden, mit Ironie bis Zynismus verbarg. Er war nicht umsonst nach Bamberg, diese kleine, puppige, aber langweilige Studentenstadt gegangen. Weg von all den Verlusten, dem Frust der gescheiterten, der Depression. Es war eine Flucht auf Zeit in eine heilere Welt. Abstand, damit die Trauer ihn nicht noch mehr zerstört. Weg von der Drehscheibe Deutschlands, Berlin, wo die sozialen Konflikte ungefiltert aufeinanderprallen, die Alternativen westseits schon alle gelebt und gestorben sind und der unverbesserliche Rest dessen nur noch militant seine Projekte durchzuführen glaubt. Das ließ den friedlichen Ost-Versuchen keinen Raum. Besatzermentalität auch in dieser Szene. Die Ossis sind überall in der Minderheit, auch bei den Alternativen. Chris‘ Gesicht ist auf einmal wieder so aschfahl und von traurigen Falten durchkerbt, wie in jenen Tagen, als ihr Traum zerplatzte: Ein Haus in Pankow für alle, die darin aktiv sein wollen, von links bis rechts, ohne politische, soziale Ausgrenzung, friedlich, offiziell und doch selbstbestimmt. Das war sein, ihr Traum von einem gemeinsamen Ort, wo man ausprobieren kann, auf neue Art miteinander zu leben. Die Flora-Insel, ihre erste gegenständliche Wende-Hoffnung – Toleranz sei praktizierbar. Dann, wenige Wochen später, nur noch der Wunsch, sich dort einzuigeln, zu überwintern – ein Nachwendesyndrom. Sie sind zusammen alle amtlichen Wege gegangen. Ihre Konzepte fand man im Rathaus gut. Die letzten Volkskammerwahlen der DDR am 18. März 90 kippten die Meinungen von Amts wegen. Auswege bot man ihnen nicht. Stilles Sterben mit siebzehn, achtzehn. Erst dann kochten wütende Gedanken. Radikalere! Einfach reinsetzen in so’n lebloses Haus, wie in der Hamburger Hafenstraße. Barrikadenträume, gezeugt aus der Ohnmacht. Im Mai 90 dann der Aufruf der Westberliner Autonomen, in die Mainzer zu kommen. Dort sammelten sich viele, und war vielleicht noch eine Möglichkeit. DIE Welt hatten sie alle längst als Denkradius aufgegeben – kein Einfluss. Was sollten da ihre Gedankenspiele um das Große? Sie wussten nicht, was und wer sie waren, und die Zeit lief nicht beständig, sondern glich einem Vulkanausbruch.
Chris fühlte sich nicht als Autonomer. Er wollte nur nicht gleich wieder in eine Zwangsjacke für die Gedanken gesteckt werden. Die Medien nannten sie linke Chaoten. Stand er links? Nein, er befand sich nur in einer Bedenkpause – nirgendwo im rechtslosen Zwischenland.
Es rasselt der Wecker und durchreißt die gedankenschwere Szene. Matze zieht die nächsten fünf Minuten auf und Chris beginnt:
„Da haben wir seinerzeit unsere Ideen ganz kleingemacht. Überschaubar, weit weg von den großen, kaputten Visionen. Doch selbst diese Kleinstvariante hat man uns nicht gelassen. Nach der Vertreibung aus der Mainzer sind wir alle irgendwohin geflüchtet, und streunen heute dort als zahnlose, einsame Wölfe herum. Wir bauen nicht mal mehr Schutzwälle gegen die Kälte des Systems. Wissen kaum noch, wie man mit dem Kummer, dem Ausgegrenzt-Sein des Nebenmenschen umgeht. Wie schnell das geht. Man gibt sich wessigemäß und baut an seiner standessuggerierten, bürgerlichen Inselvariante: Traumjob, Haus, dickes Auto oder sonst etwas, ganz für sich allein zu besitzen. Besitzen! Kohle! Darauf reduziert sich letztlich alles, auch wenn wir dem Traumding andere Namen geben, weil man’s so banal nicht sagen will. Für diese Inselvariante schuften wir und passen uns an. Ich würd‘ gern als Weltbürger leben. Verschiedenste Kulturen in mir aufnehmen, überallhin Verbindungen aufbauen. Mich erdrückt die Enge in Bamberg. Aber auch für so eine Lebensart braucht man Kohle, Kopf allein reicht nicht.“
„Mag sein,“ wirft Matze ein, obwohl Chris‘ Redezeit noch nicht verstrichen war. „Aber zum Weltbürgerdasein brauchst du nicht unbedingt viel Geld. Das kannst du auch als Entwicklungshelfer erlangen.“
„Blödsinn!“, Chris wirft sich ungehalten an die Stuhllehne zurück und winkt ab: „Da stülpst du auch nur Leuten etwas über. Bringst wieder in Europa ausgediente Lebensvorstellungen zu ihnen, die nicht die ihren sind, so wie die Westberliner Autonomen den Ostberlinern. Nee, Matze, das sind missionarische Einsätze – immer noch. Gut, es ist eine Möglichkeit, Deutschland zu verlassen, aber mehr nicht.“
Matze schaut entgeistert in Chris‘ ernstes Gesicht. So hatte er die Sache noch nie betrachtet. Chris rüttelte damit ungewollt an seiner zusammengezimmerten Zuflucht. „Aber es muss doch einen Weg geben, der beispielsweise ausschließt, dass europäische Kultur afrikanische Lebensweise zerstört“, sammelt sich Matze. „Wenn man gleichberechtigt mit ihnen zusammen lebt und arbeitet, um in ihre Welt einzutauchen, und ihre Kultur erfahren will – das ist doch ein Ansatz, oder?“
Jo gießt gelangweilt Wein in die Gläser nach, und Lisa zündet weiße schlanke Kerzen und sich dann nachdenklich eine Zigarette an. „Merkwürdigerweise ist aber der Mensch wie ein Tier, das sich nach dem stärksten seiner Art orientiert“, setzt Lisa dunkel hinzu. Während sie ruhig Weißbrot in Scheiben schneidet und mit Leberwurst beschmiert, hält sie die Zigarette lax im Mundwinkel, dabei kneift sie ein Auge schützend vor dem aufsteigenden Qualm zu, schaut kurz auf Matze und murmelt: „Kennst du doch: Peterprinzip und Hackordnung. Ich glaube nicht, dass sich so etwas außer Kraft setzen lässt. Nirgendwo. Aber behalte deinen Traum, du hast wenigstens einen, und bist jung genug, so etwas auch durchzuziehen.“
Da ist Fernweh in ihrem nochmals flüchtig erhobenen Blick. Als huschten vor ihrem inneren Auge Bilder aus Afrika vorbei: Die Weite eines unscharfen Horizonts, wo flaches Buschland und südlicher Abendhimmel flimmernd ineinander tauchen – und einsam in diesem Bild ein gigantischer Baum im Gegenlicht – apokalyptisch. „Dorthin komm ich nie“, denkt die Dreißigjährige. „Es reicht kaum für den Tag. Mein Gott, die ABM-Stelle im Frauenzentrum bringt mir wenigstens 1200 DM. Zu wenig für drei. Ich kann mich kaum bewegen. Was wird, wenn die Maßnahme in einem halben Jahr ausläuft? Wieder ein kurzlebiges Projekt? Nach ein paar Monaten Arbeitslosengeld: Sozialhilfe?“ Lisa kann nicht mehr für die Wirklichkeit träumen, ihre Gedanken sind ohne Flügel. Im Frauenzentrum sieht sie, wie das Elend wächst. Frauenarmut. Die perlt nicht ab von ihr, wie das Wasser auf einer gutgefetteten Haut, sondern dringt tief in ihre Poren und wird dort zu Angst. Lebensangst, die sie heute vor den Jungs am Tisch versteckt hält. Nicht aus Scham. Nein, weil sich nicht jedes Wissen ertragen lässt. Man verdrängt es unweigerlich, indem man ihm ausweicht. Dabei ist sie doch so froh darüber, dass die Jungs endlich mal wieder zu ihr gefunden haben. Sie will die Situation festhalten, solange sie kann. Deshalb schweigt die Frau. Denn wenn sie auf irgendeine Vision hoffen kann, dann glaubt sie, diese Vision nur noch durch diese jungen Männer zu empfangen, transfusionsartig. In ihr ist keine gestalterische, visionäre Kraft mehr, nur noch die Zähigkeit, die monoton das Leben fortsetzt.
Jo saß die ganze Zeit über unruhig in dieser Runde. Er kippelte sich mit seinem Stuhl immer weiter vom Tisch, lehnte nun bereits in der Ecke zwischen Fenster und Schrank, als er seinen Sitz krachend wieder in die Normalstellung bringt, und gleichzeitig in für ihn bedeutungsträchtigem Hochdeutsch ausstößt: „Es reicht! Ich kann die ‚Weißt-du-noch-Geschichten‘ oder die ‚Wenn-dann-Geschichten‘ nicht mehr hören! Diese Leidensminen nicht mehr ertragen! Hört auf damit! Es gibt keine großen Träume mehr. Wir leben jetzt! Nicht jeder lebt gut. Aber eben jetzt! Ich will nicht ständig das Haar in der Suppe suchen, sondern die Suppe essen. Ich will schöne Klamotten tragen und mich von Lebenslust treiben lassen, ohne mir von solchen wie euch diesen abwertenden Seitenblick einzufangen. Ich will, dass die Stadt schön wird. Einfach licht, freundlich, sauber, und nicht gleich hinter jeder neuen Fassade das schmarotzende Kapital entdecken, welches mir die Illusion nimmt. Ich weiß von den Spekulanten, aber ich muss es nicht immer wissen. Ich will kein schlechtes Gewissen haben, weil‘s mir jetzt besser geht als Lisa. Vielleicht ist schon übermorgen alles vorbei, und ich bin ganz unten. Das geht doch alles so verdammt schnell. Lasst endlich jeden wie er ist! Ich sag euch ja auch nicht immerzu, ihr müsst das positiv sehen, die neuen Dimensionen und so. Seid nicht sauer, aber das gibt mir hier nichts mehr. Ich hau‘ ab.“ Er springt auf, steckt sich sein im Kreuz zusammengewurschteltes, schwarzes Seidenhemd wieder korrekt in die Hose, streicht mit der linken Hand eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn, mit der rechten klopft er verabschiedend auf den Tisch und verdrückt sich hinaus ins Freie. Nur weg, keine Erwiderung abwartend.
Man hörte das Atmen am Tisch. Der unverhoffte Szenenwechsel erwischte die anderen kalt. Hajo saß verkrampft mit geschlossenen Augen da. Ihm war, als müsste er augenblicklich losheulen. Doch es war dann nur so ein sachtes Beben in seiner Stimme: „Ich versteh‘ ihn. Im Dauerkonflikt lebende Menschen werden krank. Und er will sich nicht infizieren. Wisst ihr, meine beiden Alten und meine vierzehnjährige Schwester haben sich vor ein paar Tagen total gekeilt. Ich war derart erschrocken, als ich gestern von dem ganzen Schrott erfuhr. Seit Monaten läuft das Papiergeschäft meiner Eltern nicht mehr so gut. Sie haben furchtbar viel investiert, sich dabei hoch verschuldet, und jetzt bleiben die Kunden aus. Die Zinsen, die Gewerbemieten und was weiß ich belasten sie. Mutter ist durchgedreht. Wollte aussteigen. Die beiden anderen haben sie als Verräterin beschimpft und traktiert. Sie war plötzlich an allem schuld. Und da hat sie Susi für deren schlimme Anfeindungen eine gescheuert. Aber die schlug zurück. Stellt euch das vor: Meine kleine Schwester sprang unserer Mutter an die Kehle und drückte völlig enthemmt zu. Sie hätte Mutter umgebracht, wenn nicht Vater dazwischen gegangen wäre. Der hat zuletzt auf Mutters Schlag mit der Vase nicht mehr reagiert – und so hörte es endlich auf. Niemals gab’s auch nur seichte Schläge in unserer Familie. Sie sind unter dem existentiellen Druck entgleist. Mutter soll dann ins Frauenhaus gerannt sein, wo man sie eigentümlich musterte: ‚Wie bitte? Sie haben ihren Mann und ihre Tochter verprügelt und nun trauen SIE sich nicht nach Hause?‘ Meine Mutter blieb nur die eine Nacht, während Vater sich im Krankenhaus den Kopf nähen ließ und Susi einem Kinderpsychologen vorstellte. Sie hat echt ’n Ding weg seit diesem Abend. Ich weiß nicht, ob sie das je verwindet. Jetzt läuft die Scheidung an. Eine von den neuerlichen 60 Prozent-Scheidungen, in der die ostdeutschen Eheleute mit der Axt aufeinander losgehen. Das ist doch alles irre, zum Weglaufen. Man kann es erklären, aber aushalten kann man es nicht.“
Nun brechen doch Tränen aus Hajo. Lisa war längst aufgestanden und seitlich neben ihm. Sie strich ihm sacht, fast zögernd über seine langen, aschblonden Haare, die übers rot-weißgepunktete Stirnband fielen. Da ruckte sich Hajo zu ihr herum, klebte an der flachbrüstigen Frau und weinte sich aus. Der erste milde Frühlingsabend hing im Raum, und die Menschen darin hatten ihre Kummerbrücken gespannt. Über die würden sie auch weiterhin zueinander finden. Gesprochen wurde nicht mehr viel, es gab keine helfenden Antworten. Stattdessen nahm Lisa ein Märchenbuch zur Hand und las ihnen eine lange, besänftigende Geschichte vor…

Meine Güte, dachte Elias, was für ein Gefühlschaos. Er kopierte die Zeilen, schickte sie per Mail an Maja und war gespannt, was sie dazu sagen würde…

E wie Ende.

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In der vierten Klausurwoche

Morgenstunde (774. Blog-Notat):

Endlich milder draußen. Neben der Schreiberei kann ich wieder täglich etwas im Garten arbeiten. Letzte Blätter aufnehmen und unter die Sträucher geben, als wasserspeichernde Drainage, hoffe ich. Später kommt Grünschnitt obendrauf und dann rüsselt wieder der Dachs… ☹. Alle bewusst angelegte Blätterteppiche durchstöbert er regelmäßig und zieht die Anhäufungen in die Breite. Ich versuche es zuzulassen…und greife zum Laubbesen 😊.

Hier der nächste Klausur-Schnipsel zu „Die verlorene Geschichte“:

… Er fuhr mit der S-Bahn nach Eichwalde, um dort Maja Hügel in ihrem Häuschen zu treffen. Sie hatte einen erneuten Aufstieg unters Stadtdach rigoros abgelehnt und lockte stattdessen mit einer scharfen Soljanka. Hinter Grünau durchzog die Bahn ein großes Waldgebiet, fünf Minuten lang nur schneegepuderte Kiefernstämme. Elias spürte im flackernden Licht das Zurücklassen der Stadt. Viel zu selten gönnte er sich eine Auszeit im Grünen. Stets und ständig hatte er einen Berg Arbeit vor sich, und keinen, der ihn in den Feierabend einlud. Mit diesem Lebensstil hatte er über die Jahre alle Freundinnen sehr schnell verschreckt, was ihn nicht mehr verwunderte. Seinen natürlichen Charme hatte der schlanke Mann darüber nicht verloren. Er war ein unverbesserlicher Workaholic und hatte mit den Jahren sein Interesse an Frauen verloren. Vor dem Bahnhof wartete Maja. „Es sind nur ein paar Schritte, dann bist du gleich wieder in Berlin.“ Elias hob fragend die Brauen. „Na, Eichwalde und Köpenick sind mit der Zeit zusammengewachsen. Was hier von der Waldstraße links liegt ist Brandenburg, und was rechts abgeht ist Berlin.“ Maja Hügel war nach ihrer Scheidung Anfang der 90er in das Häuschen der Mutter gezogen. Man könnte sagen, sie war dorthin geflohen. Denn seit ihre
beiden Künstlerleben mit der Wende wirtschaftlich eskalierten, schlug der Mann plötzlich zu. Sie wollte und konnte ihn nicht mehr durch die Zeit tragen. Unter dem mütterlichen Schutz gelang ihr ein Neuanfang, sogar ein Studium an der Hochschule der Künste absolvierte die bis dahin ungelernte Zeichnerin noch.

Elias sah sich in dem winzigen Häuschen mit Garten um. Hinter der gelb getünchten kuschligen Wohnküche mit Aufstieg zur Schlafmansarde öffnete sich der größte Raum hell und weit. Regale, ein Zeichenschrank und meterlange Arbeitsplatten vor der hausbreiten Fensterfront. Alles wirkte klar und aufgeräumt, aber das war es nicht. Die Blättertürme, die von uferloser Arbeit zeugten, kamen ihm irgendwie bekannt vor. Lächelnd fragte er Maja beiläufig „Hast du schon mal eine Geschichte verloren?“ „Eine? Hunderte,“ erwiderte sie und grinste. „Meinen wir das Gleiche?“ „Wer weiß das schon.“

Beim Essen erfuhr Maja, wie es beruflich mit ihm weiterging. Er hatte im Sommer 1989 gerade sein Journalistik-Studium abgeschlossen und eine Stelle in der „Jungen Welt“ bekommen. Doch schon 1990 wurden die Reihen ausgedünnt und ganze Redaktionen des Verlages geschlossen oder verkauft. Elias Kühn wurde entlassen, und somit wusste er, sein Studienabschluss würde bald nichts mehr wert sein. Also begann er zum Wintersemester Germanistik an der FU Berlin zu studieren und nebenher freiberuflich zu schreiben, und dabei war es geblieben. Und Frauen? Gab es – und auch wieder nicht.

Er sah sich Majas neue Entwürfe an, als sie aus der Küche heiter rief: „Roten oder Weißen?“ Aber da kam sie schon mit zwei Schoppen und ließ ihn wählen. Er also rot, sie weiß. Nun versank jeder in einem gemütlichen Ohrensessel, zwischen ihnen ein Teetischchen mit ziselierter Messingplatte, als sie fragte: „Was für eine Geschichte hast du denn verloren?“ „Wenn ich das wüsste,“ antwortete Elias, „es treibt mich seit Wochen um, je länger ich krame, kommen Geschichten zum Vorschein, von denen ich fast vergessen hatte, dass ich sie jemals geschrieben habe. Zu dicht ist die Zeit, sie überschreibt sich andauernd, verstehst du?“ Sie nickte nur stumm und trank. Er fingerte in seiner Innentasche und holte ein gefaltetes Blatt hervor. „Zum Beispiel sowas. Der Text ist aus dem Jahr 1992 und stammt aus einem Roman, den damals keiner haben wollte. Aber da sind Passagen wie diese drin, die mir die Erinnerung erwachen lässt. Sie nahm die Seite und las laut vor:

… Alles, was zweieinhalb Jahre im Osten Deutschlands in der Schwebe blieb, gleicht einem Trauma, das die Menschen mürbe machte. Die Tatsache, mehr Abstiegs- als Aufstiegschancen zu haben, bricht in diesem Frühjahr 1992 endgültig auf. Zum Jahreswechsel waren rund fünf Millionen Menschen ihre vertraute Arbeit oder Perspektive los. Die Statistiken schönen die Realität wenig geschickt. Man unterlässt es tunlichst, Umschüler, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Vorruheständler, Jugendliche ohne Lehrstelle, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose zusammenzuzählen. Aber die Verhältnisse explodieren. Wären die Deutschen nicht von Grund auf so ungeheuer fügsam, es reichte ein Zündholz und der Sozialknall wäre da. Stattdessen wächst in Ost und West der Hass aufeinander, und der Frust auf die Fremden, als “die alles verursachenden Sündenböcke“. Nichts daran ist neu. Auch die zugrundeliegenden Irrtümer nicht, und auch nicht die Sorglosigkeit der Mächtigen. Dennoch, junge Leute wittern klarer, was in der Luft liegt. Aber bei denen, die nicht über den Nebenmenschen nachdenken, muss das Unrecht erst in die eigene Familie oder den Freundeskreis einschlagen, bevor sie erwachen. Die Frage: Was kann man tun? beantworten die meisten Ostdeutschen erst aus der Rückenlage. Es ist eine dumpfe Wehr, eine ohnmächtige, auch feige, die unterschwellig, doch latent nur nach geordneten, gleichberechtigt-satt-deutsch-stolzen Verhältnissen ruft. Vergessen, was war, woher sie kamen, die Erinnerungen gelöscht, freiwillig oder dazu genötigt nach der Wende. Was bleibt ist eine Tabula-Rasa-Situation. Zurückgeworfen auf einen Null-Punkt, füllt sich bei vielen Ostdeutschen die innere Leere zu etwas braunem. Bei Jungen, auch Alten. Die etablierten Politiker geringschätzen diesen Trend noch als ein Jugendsyndrom. Aber die einst isolierten Rechten Lebenszellen haben sich jahrelang gegen die Intervention der Gesellschaft resistent gemacht. Jetzt assimilieren sie mit ihr, wo deren Werte angeschlagen sind. Wer kennt einen Arzt?

Die zersplitterten Jungen Linken in der Stadt sind depressiv. Ihre Vision ist zerpflückt und verdorben. Sie sind verlassene Rufer im Wind. Ausgegrenzt durch die Umkehr der Verhältnisse, Mut- und Fantasielosigkeit, wiewohl durch ihre eigene intolerante Arroganz. Ein Teil von jenen schlägt mit Rollkommandos gegen die Rechten Aktionen zurück. Das Ost-Volk hält verstört die Fenster geschlossen, und fast jeder Zweite steigt in ärmere Gefilde ab. Und so geht die Angst um…“

„Ui“, pustete Maja nach. „Es war einmal und ist wieder so. Nun, nicht ganz so, aber tendenziell. Der dunkle Osten, oder wie Bundespräsident Gauck mal meinte ‚Dunkeldeutschland‘. Mann, war ich darüber sauer.“ Sie kippte den Schoppen hinter, als wollte sie etwas wegspülen, und schenkte sich nach. Maja grummelte: „Warum reden eigentlich immer alle von dem Osten, als wäre er ein einheitliches Ganzes? Es gib nicht DEN Osten. Zu jeder Zeit gab es hier die verschiedensten Spielfelder und Nischen. Leben, die nichts verband, außer der Verortung. Deine Situationsschilderung dieser Zeit stimmt, aber was ist mit jedem Ersten gewesen? Wir saßen nur auf jenen Inseln im Osten, die mit der Einheit keiner mehr brauchte oder wollte. Es gab auch die anderen, die fast nahtlos weiterlebten und sich was schaffen konnten, die Handwerker, die Beamten, die meisten Lehrer, selbst die Berufssoldaten. Sie alle verstehen schon lange nicht mehr, weshalb wir noch jaulen.“ …

V – wie Veränderung…

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