Morgenstunde (561. Blog-Notat)

Moin allerseits! Keine Zeit, der Garten ruft nach einer letzten Kurzgrasfrisur im Jahr, also ran an den Rasenmäher… Ich spendiere derweil ein weiteres Stückchen aus „Die Zeit der weißen Wälder“, meinem aktuellen Romanprojekt:

…Im Anrufbeantworter steckten nur Notrufe von Herzog, die Emilia nach ihrer Ankunft in der Heide ignorierte.  Sie hing das Sonnenblumenbild von Fredi über ihrem Schreibtisch auf. Platzierte die geschliffenen Becher auf dem Küchentresen und legte die Künstlerbroschüre aus dem Reichenbacher Museum zu ihrem Leseplatz und suchte nun nach dem Schlüssel für das Nebengelass. Den Schuppen im Hof hielt sie seit Jahren verschlossen. Nichts darin schien von Bedeutung zu sein. Aber das stimmte sogar nicht. Sie hatte sich den Dingen nur entzogen. Während sie die Metalltür aufschloss, begann ihr Herz schneller zu schlagen und sie fühlte, am liebsten wäre sie jetzt nicht allein. Aber da war niemand, aber auch das stimmte nicht, denn als sie eintrat in den Raum aus Kistentürmen, spürte sie sie. Ein Anflug, ein Hauch von Nähe und in Emilias Kopf flüsterte es: „Endlich kommst du!“.  Als die Mutter starb und sie das Häuschen erbte, hatte sie es vollkommen entkernen lassen und grundsaniert: Neue Heizung, neues Bad, neue Fenster und Türen, neue Dielen, das Dachgeschoss ausgebaut und das Wohnzimmer zum Dachgeschoss geöffnet. Das geduckte Haus bekam so Weite und modernen Schick. Kurz vor der Corona-Krise verließ Emilia Bach Berlin und zog allein in den Norden Brandenburgs. Da hatte gerade Marks Sabbatjahr begonnen und sie konnte nicht ahnen, dass er niemals nachziehen würde.
Durch Corona-Regeln lernte sie im Dorf nach ihrem Zuzug niemanden wirklich kennen. Die Menschen blieben verborgen in ihren Bauernkaten, keine Chance für ihre Aufnahme ins Dorfleben.  Es gab einfach keins mehr. Hier ein grüßendes Zuwinken, dort ein sorgenvoller Blick, mehr wurde ihr nicht zuteil.
Alles, was zuvor in dem Mutterhaus steckte und von Wert war, hatte die Erbin in diesen Schuppen umgelagert, oder besser gesagt versenkt. Denn sie betrat diesen Abstellraum seither nicht mehr. Die Dinge störten, verströmten eine andere Art zu leben, die ihr gefährlich schien. Die Krise verschärfte diesen Eindruck sogar noch.
Die Künstler – die Unrelevanten, die man einfach verhinderte, viele bis sie aufgaben. Manche brachten sich lautlos um. Berufsverbot, das kannte Emilia nur vom Hörensagen. In den alten Ländern betraf das Beamte, die beispielsweise Mitglied in der verbotenen DKP waren. In der DDR bekamen etliche systemkritische Künstler Berufsverbot. Aber im geeinten Deutschland wegen einer Seuche? Warum die Künstler? Warum nicht dann auch die Profisportler? Die Politiker meinten wohl, auf Kunst ließ es sich am leichtesten verzichten. Das hatte Emilia empört. Und diese Empörung war es wohl gewesen, die sie auf ihre unwirkliche Suche trieb. Die Suche nach den abgeschnittenen Wurzeln.
Wo anfangen? Emilia strich mit der flachen Hand über die Kisten und las die Aufschriften: „Bücher“, „CD’s“, „Belege“, „Manuskripte“, „Fotos“, „Zeichnungen“. Unmengen Kisten mit „Illustrationen“. Die Mutter war keine schnelle Zeichnerin, aber eine emsige. Emilia erinnerte sich, dass an einem Neujahrsmorgen, an dem die meisten Menschen noch verkatert in den Federn dösten, die Mutter schon wieder an ihrem Zeichenplatz saß und arbeitete: Neujahr, 9 Uhr morgens. Dieses permanente Arbeiten, diese strenge Disziplin, die von Sylvia Bach ausging, hatte Emilia abgeschreckt sich auf ihre Talente einzulassen. In Gedanken sah sie die Mutter zeichnend am Schreibtisch. Gebeugt, mit konzentriertem Blick und um den Mund: ein Lächeln. Es ging Liebe von ihr aus. Es war eine besondere Art des Lächelns, eine, die das innere Glück nach außen kehrt. Ebendiese Aura hatte Emilia auch bei Hans während seines Puppenspiels gesehen. Ein Leuchten…“

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