Teetassen (Abschnitt 4)

Eine Kurzgeschichte in Arbeit:

… Die kompakten Männer traten vor das Dienstabteil und baten höflich um einen weiteren Tee. Sie flirteten mit der hantierenden Schaffnerin. Sie schien an den Worten der Reisenden zu wachsen. Tom lächelte in sich hinein und dachte bei sich, jeder braucht so seine Streicheleinheiten. Erst jetzt fiel ihm wieder seine Mutter ein. Ach herrje, wie konnte ihm das nur passieren? Er sah nach der schönen Lika am Samowar und wusste weshalb. In Frankfurt an der Oder verabschiedete er sich von ihr, dankte für die Teestunde und sie schenkte ihm das bewunderte Glas im fein ziselierten Halter. Wenn Russen einen ins Herz schließen, verschenken sie glatt ihr letztes Hemd. Tom nahm das Glas gerne an und winkte der Frau in dem anfahrenden Schnellzug noch einen Moment lang nach. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig stand die Regionalbahn der Linie R1, die den Teetrinker ein paar Minuten später zurück nach Berlin brachte. Leider war das Begleitpersonal dieses Zuges nicht annähernd so charmant wie die schöne Lika. Er fing sich erst einmal einen schroffen Rüffel ein, weil er die Bahn ohne Fahrschein betreten hatte. Nur sein Ein-bisschen-enttäuscht-Blick rettete ihn vor einer satten Strafzahlung. Der Spielraum dieser Menschen in Uniform ist mächtig.
Am Ostbahnhof war der ICE aus Hamburg noch immer nicht eingetroffen. Irgendein Stellwerk auf der Strecke funktionierte nicht. Ein Glück für Tom. Was hätte er seiner Mutter erklärend sagen sollen: Ich war im Nachtzug nach Moskau ein Stündchen Teetrinken? Das hätte sie ihm nie geglaubt…

© Petra Elsner
15. Juni 2019

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