Morgenstunde (552. Blog-Notat)

Das ganze Häuschen duftet nach trocknenden Steinpilzen. Zauber oh Zauber für die Fantasie, aber das Märchen von der Raupe Nimmersatt gibt es ja schon… Heute wird Zeit sein für ein paar neue Romanzeilen, denn die Hexe ist abgesprungen – endlich, ich kann wieder länger am Computer sitzen! Abends gibt es ein kleines Spätsommerfest in Krohnhorst, und morgen kommt mein Sohn mit Freundin zum Pilze suchen, da gibt’s Nachschub für die Trockensiebe auf der Fensterbank und den Duft.

Zum Wochenende kommt hier eine weitere Leseprobe aus “Die Zeit der weißen Wälder”, mein aktuelles Roman-Projekt:

… Scheitern macht ungelenk und Marks Spruch „Du trägst den Tod mit dir!“ hatte Emilia emotional schwer verunsichert. Sie gab sich seither ruppiger und fegte zuweilen wie eine Böe durch den Tag. Aber jetzt, hier am Feuer erwärmte sich ihr Herz. Sie hatte jemanden gefunden, der aus ihrer Zeit kam und sich offenbar auch dem neuen Rhythmus entzog. Sie gerade eben erst, aber er schon Jahre. Wie stolz er da saß. Dieser Stolz verriet innere Balance, nicht übermäßiges Ego. Hans, dachte sie, war die freie Variante des Gauklers. Ein Ungebundener, der jetzt nur die Feuerfunken zu zählen schien. Doch da schlich vorsichtig der Kasper aus seiner Jackentasche und räusperte sich. „Mit den Toten zu sprechen ist Gabe Emilia, aber es ist auch Fluch. Denn nur wenige verstehen das. Viele fürchten sich stattdessen vor solchen Menschen. Harry erzählt ihm manchmal, wie er mit dem geerbten Schatz hantieren muss. Wenn Harry zu Hans spricht, zerfließen die Grenzen. Verstehst du das?“
Emilia nickte und sah den Kasper an: „Weißt du, ich glaube, dass alles beseelt ist. Jeder Stein und jedes Blatt. Das Göttliche ist in allem und nichts geht verloren in der Welt, neben der es auch noch andere Welten geben kann. Für die Toten gibt es keine Grenzen, nur für die Lebenden. Aber manchmal ist es anders. Dann lässt das Band der Liebe sie miteinander sprechen, wenn man es zulässt und sich nicht fürchtet.“
„Du bist ein kluges, spätes Mädchen“, hauchte der Kasper. „Die Geheimnisse allen Lebens – wir kennen sie kaum, aber einige berühren wir und sind verwundert.“ …

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Morgenstunde (162. Blog-Notat)

Die 90er Jahre wuseln derzeit immer öfter durch meine Gedanken. Und manchmal suche ich heute aus ihnen einen Menschen, den ich in all dem Gewimmel verlor. Eine alte Freundin aus Zeuthen, einen Studienkumpel von anno knips, einen entfernten Verwandten… Die Zeit war so eilig und so dramatisch überlagert von Ereignissen, dass es mich manchmal nicht einmal erreichte, dass jemand verstorben war. Da kam vielleicht eine Nachricht zum Vater, der in einem neuen Leben steckte und er gab sie an mich nicht weiter. Warum auch immer. Zum Beispiel die Sterbenachricht von Frieda, Großvaters zweite Frau. Ich weiß nicht, wann und wo und kann es auch niemanden fragen.  Irgendwann – fast 30 Jahre später blitzt so ein Stück verschollenes Leben in meinen Gedanken auf und bohrt sich zurück in mein Herz.  Ich klicke mich dann bei Facebook oder Wikipedia durch das Menschengewimmel, aber bei Frieda bringt das nichts, sie hat die Sozialen Netzwerke nicht mehr erlebt. Umso älter ich werde, desto dringlicher treten diese Verluste im Gedächtnis an und ich staune, wie viele es sind, wie viele verschwundene, verlassene Lebensplätze, spurlose Lebensenden, Nachwendeschäden in der Seele. Manchmal habe ich Glück und ich finde einen, eine wieder und es gibt dieses eine Nachtgespräch, dass eine neuerliche Verbindung herstellt, aber das ist doch eher selten. Wie oft denke ich beispielsweise, wenn ich die Stimme von Tom Böttcher auf „radio 1“ höre, ist das nicht einer der Söhne meiner Freundin Karen, aus Zeuthen? Aber in Zeuthen ist sie nicht mehr zu finden, vielleicht lebt sie gar nicht mehr. Ich würde gerne ihre großartigen Gedichte aus den 80er Jahren noch einmal lesen, aber zuweilen kommt man eben nicht mehr an… so entstehen die Geheimnisse des Lebens.

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