Wäre sie nicht in diese süße Wolke geraten, bestimmt hätte Frieda pünktlich den Bus genommen und ihr altes Leben weitergeführt. Aber mitten in dem berauschenden Fliederduft erwachte ihre Sinnlichkeit. Die hatte den ganzen Winter geschlafen, vielleicht auch länger, aber jetzt, Mitte Mai spürte sie sie wieder, wie ein Kitzeln im Bauch. Als der Wind die Duftwolke aufnahm und mit sich trug, lief Frieda ihr nach. Durch die Gärten, die Straße entlang bis ein Wald den Asphalt verschlang und sich der Duft im Dunkelgrün der Tannen fast verlor. Dort, wo Frieda Gefahr lief, sich zu verirren, stand plötzlich ein Mann am Wegesrand. Er hielt die Arme wie ein Wegweiser, auf denen sich erstaunlicherweise rot-grüne Lettern wanden. Auf dem Einen stand kurzweilig „Zum rechten Weg“ und auf dem Anderen: „Zum schönen Leben“. Frieda staunte und indem verloschen die farbigen Buchstaben wieder. Führt der rechte Weg nicht auch zum schönen Leben, frage sich Frieda. Offenbar gab es da einen Unterschied. Aber welchen Pfad sollte sie nun wählen? Der Mann stand dort noch einen Gedanken lang, dann war er verschwunden. Wohin? Frieda hatte es nicht gesehen, aber es war ihr, als hätte sie noch eine winzige Woge des Fliederdufts dort wahrgenommen, wo der linke Weg hinführte. Man soll dem Leben entgegen gehen, sagte ihre Großmutter immer. Die Mutter wollte hingegen, dass sie stets auf dem rechten Wege bleibe. Was war richtig und gut für sie? Frieda musste sich entscheiden. Schwer, denn die Wege weckten keine Erinnerung in ihr, nur der schwache Duft lenkte sie nach links. Unter schütteren Kronen und einem glasblauen Himmel säumten Hundsrosen den Weg, der zu einem stillen Pavillon führte. Darin grübelte ein Mann an einem Tisch über einem weißen Blatt. Ein Schmerzlied umwehte seine dürre Gestalt. Der Mann blickte nicht auf, als ihn Frieda fröhlich grüßte. Sie sah indem, es hatte keinen Sinn, den Erstarrten zu stören, aber sie ahnte, dass sie dem Grübler ein Wort schenken musste, bevor sie ihn zurückließ. Leise trat sie neben ihn, grifft in seine Stifte-Schatulle und schrieb die Aufforderung „lebe“ auf das Papier. Dann lief sie weiter. Der Mann hob seinen leeren Blick und rief ihr nach: „Tue ich das nicht?“ Frieda drehte sich noch einmal um, zuckte mit den Schultern und schüttelte verneinend ihren Kopf. „Aber ich schreibe doch, also lebe ich!“, sprach er verwundert. Er hatte sich wieder über seinem Blatt versenkt, da lief Frieda noch einmal auf ihn zu und flüsterte über die Schulter: Ich sehe nicht, dass du etwas schreibst.“
„Ich bin einfach zu müde“, gestand der Mann und schaute sie aus stumpfen Augen an.
„Aber du wohnst doch am Weg „Zum schönen Leben“, da muss es doch etwas geben, das dich erfreut und ermutigt?“ Sie setzte sich zu ihm, er nickte und erzählte: „Das habe ich auch gedacht, als ich diesen Weg einschlug, aber ich bin ihn wohl nicht weit genug gegangen.“ „Willst du mich ein Stück begleiten?“, fragte ihn Frieda. Ich bin fröhlich und kann etwas von deinem Schmerz tragen. Der Mann erhob sich, rollte sein weißes Blatt zusammen und steckte seine Stifte in seine Jackentasche. Nun folgten sie beide der Spur des Fliederdufts. Der Mann wurde mit jedem Schritt leichter und die Frau mit jedem Schritt gebeugter. Sie trug schwer an seiner Last, nur was auf ihren Schultern lag, konnte sie nicht benennen. Viele Jahre liefen sie so miteinander durch die Zeit, bis Frieda erschöpft bei einem Fliederbusch niedersank. Sie war so traurig und leer, dass es einen jammern konnte. Aber sie sah auf einen lebensfrohen Mann, der sich zu ihr setzte, die weiße Rolle Papier aus seiner Jacke zog und langsam die Geschichte vom geschenkten Wort aufschrieb.
© Petra Elsner
1. Juni 2018
Zeichnung: Petra Elsner
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