Die Kamera (1)

Eine Geschichte entsteht öffentlich:

Die Kamera war ihr perfektes Alibi, an diesem wilden dunklen Ort zu sein, dem Kesselhaus der Kulturbrauerei. Hinter ihr konnte sie unter all den jungen Menschen, die allesamt ihre Kinder hätten sein können, leicht sein. Es war stickig, überfüllt und laut, aber die Frau in den schwarzen Klamotten war in diesem Moment glücklich, wie schon lange nicht mehr. Die Canon gab ihr die Möglichkeit, unauffällig wieder jung zu sein und sei es nur für diese gewisse Zeit. Sie schob die umgedrehte Bierkiste lässig mit dem weißen Leisetreter an der Bühnensohle entlang, um ihrer kleinen Gestalt mehr Höhe geben und sich so einen besseren Sichtraum zu schaffen. Gundermann röhrte „…unter der Fahne der Grünen Armee…“
Klick, klick. Letztes Bild. Sie ging für den Rollenwechsel in die Hocke. Ihr Herz stolperte. Nicht wegen Gundermann. Der Film saß, Klappe zu, Herzaussetzer. Anne dachte seltsam gelassen: schöner Ort zum Sterben. Das Herz fand seinen Takt, sie erhob sich und fotografierte weiter. Das nervte Gevatter Tod. Keinen Respekt, diese Frau?
Hatte sie schon. Nur war sie es müde geworden über all seine Stöckchen zu springen. Was ihm die Spielfreude nahm. Also ließ er jetzt von ihr ab und suchte sich einen anderen Zeitvertreib. Anne zoomte durch das Gedränge und sah durch ihren Sucher, wie hinten rechts eine Gestalt im Bühnennebel zu Boden ging…

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Memory 6 – Hoyerswerda

Ich fuhr heut Nacht durch wirre Träume zurück ins Jahr 1969. Der Gundermann-Film, gestern im Templiner Kino, hat mich dorthin gebracht – auf die Straße nach Hoyerswerda. Am Vortag endete die 9. Werkstattwoche der Singeklubs in Brandenburg, wo ich mich in der Texter-Werkstatt ausprobierte. Auf dem Fernbahnhof griff ich beim Einsteigen in den Zug nach Hause die falsche Gitarre. Dumm gelaufen. Zuletzt hatte ich bei den Magister-Brüdern (angesagte Liedermacher aus der Stadt im Tagebau) gestanden und gequatscht, es war eine ihrer Gitarren. Am anderen Morgen, wir hatten kein Telefon, bin ich einfach losgetrampt, Daumen raus und ab gings. Ich war schlapp 15 Jahre alt und kein Mensch kam auf die Idee, mir das auszureden. Bis zur Autobahnabfahrt Hoyerswerda ging alles gut, dann, auf der Landstraße hielt kein Auto mehr an. Ziemlich sture Typen – diese Lausitzer – fand ich, es war ein Trecker mit einer Ladung Zwiebeln im Hänger, der mich schließlich gemächlich in die Plattenhausstadt zum Gitarrentausch brachte. Von Gerhard Gundermann hatte ich damals noch nie etwas gehört, der war seinerzeit 13 Jahre jung, der Nachwuchs eben. Erst später wurde er Chef der Brigade Feuerstein. Fan wurde ich erst in den 80er Jahren. Ich mochte seine raue, schwermütige Stimme, die Poesie und den Tiefgang seiner Texte. Schwermut trugen viele Künstler in der DDR mit sich. Traurig wegen der Zustände. Mit seismographischen Gespür hatte er seinerzeit Texte für Scheibe „Februar“ von Silly geschrieben. Gekannt habe ich Gundi nicht. Aber damals im Kesselhaus im Prenzlauer Berg, Anfang der 90er, holte sich meine verletzte Seele an der Bühnenrampe bei seinem Konzert ein paar Streicheleinheiten ab. Dass er IM war, fand ich echt scheiße, aber, wie er dazu stand – nach der Wende, wie er das verdeckte Verdrängte wieder ausgegraben hat, das hat mir auch imponiert. Der Gundermann-Film von Andreas Dresen hat versucht diese Konstellation einzufangen und Alexander Scheer hat den sperrigen Typen ganz gut rübergebracht, aber musikalisch gesehen, war ich doch enttäuscht. Weit hinter dem Original, nur die Optik war etwas schöner…Und die echte Band „Die Seilschaft“ kam zu knapp weg. Da fehlten einfach mal kontroverse, auch kreative Dialoge… Dennoch. Dieser Film trifft ins Mark, alle jene, die dabei oder in der Nähe waren und dass ist wohl seine Stärke. Er schiebt eine Gedankenreise an, zurück in der Zeit, eine Traumsequenz lang oder auch mehr.

Gundermann im Kesselhaus in der Berliner Kulturbrauerei 30. Januar 1993

Gerhard Gundermann im Kesselhaus. Fotos: Petra Elsner

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1016. Blogbeitrag

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