Die dunkle Seite der Zeit ist die Nacht,
und in ihr wohnen die märchenhaften Gestalten.
Holle ohne Schnee
Tief im Wald von Metzelthin wohnt die Frau Holle. Die Echte aus der Uckermark, versteht sich. Eine schlichte Natur, die als Kinderschreck schon mal die Hexe aus „Hänsel und Gretel“ in der offenen Landschaft gibt. „Zeig Deinen Finger, Hänsel!“ herrscht sie, aus dem Gebüsch springend, einen mageren Jungen vom Wegesrand an. Der verdrückt sich, leicht schockiert, in die Deckung der Kindergruppe. Märchen können immer noch schrecken. Sie wohnen in der Ewigkeit, in der es weder ein Gestern noch ein Heute gibt. Manchmal spielt diese knorrige Rolle auch die erwachsene Holle-Tochter, denn so federleicht ist Muttern nicht mehr. Frau Holle ist mollig und zuweilen gedankenschwer.
Herr Holle baut unentwegt die Kulissen für ihre Spiele, die sie sich im Winter für die Sommerferienkinder ausdenkt. Er schafft und schafft und doch ergeht es ihm gleich dem Mann in Grimms Märchen „Von dem Fischer un syner Frau“. Ihre Wünsche überwuchern ihn, und wie er sich auch müht, seine Holla begnügt sich nicht.
Im sonnigen Mai hockte Herr Holle zwischen Brunnen und Backhaus und zermarterte sich das Haupt: Er seufzte, jammerte und sprach schließlich leise in den Wind: „Sie wünscht sich Schnee. Jetzt, wo es endlich Sommer wird! Herrje!“
Der Wind strich als sachte Briese über die Märchenwiese und sah sich noch einmal um, als hätte er sich verhört. Verdutzt machte er kehrt und lauschte noch einmal dem Manne. Nein, er hatte sich nicht geirrt, so nahm er den Wunsch auf seine wehenden Schultern und trug ihn nach Norden.
Es sollte nicht lange dauern, da tönte es aus dem Radio: Schnee sei im Anmarsch. Die Allgemeinheit war entsetzt und man munkelte, die Schneezeit käme auf Wunsch einer einzigen Frau. Wie maßlos.
Ende Mai erfror das Blütenweiß und der Sommer blieb aus. Frau Holle hatte zwar ihr perfektes Frau-Holle-Schauspiel im Märchenland, aber keiner sah ihr zu, wie sie statt Federbetten zu schütteln, Schnee schippte. Die Kinder blieben einfach zu Haus oder fuhren mit ihren Eltern nach Süden, der Sonne entgegen.
Frau Holle war beleidigt. Sie schlürfte missmutig über ihren Märchenacker, der in diesem Jahr komplett fruchtlos blieb. Das war eine dürre Zeit ohne Kinderlachen. „Gewünscht ist gewünscht, bist selbst schuld“, murrte Herr Holle seine Frau an, während das Leben sie mit vielen Wartezeiten strafte, und die Zeit nur langsam darüber einen dichten Mantel des Vergessens webte.
Doch jedes Übel hat auch etwas Gutes: Frau Holle besann sich und erfand ihre Rolle neu. Sehr bald galt sie nicht mehr nur als die Chefin vom Märchenwald, sondern als die Holla im Busch – die wetterfeste, hohe Frau, die Kräuterkunde als Ferienfach anbot. Der alte Glaube an die Göttin im Holunder kam ihr dabei zupass. Die Legende vom beschützenden Hausgeist muss in der Uckermark schon vorzeiten weit verbreitet gewesen sein, denn wohin das Auge auch schaut, jeden Waldrand säumen Holunderbüsche, sie fehlen in keinem Bauerngarten oder lehnen sich an die alten Scheunen. Das selbst die Gebrechlichsten unter
ihnen unberührt ins Land schauen, mag daher kommen, dass sich die Menschen scheuten, solch‘ einen Strauch zu fällen, weil der Frevel mit Krankheit geahndet wurde. Holla hatte ihren Lieblingsstrauch besonders wohlwollend ausstaffiert. Blüte, Beere, Blatt, selbst die Rinde ist mit Heilkraft beseelt und die Märchen-Holle hatte inzwischen alles darüber gelernt und weiß nun: Holle ohne Schnee? Das geht.
Diese Geschichte findet Ihr in: „Vom Duft der warmen Zeit“
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