Berlins alte Haut

Meine damaligen Milieustudien gaben später der Handlung die stimmige Kulisse. Hier mal ein kleiner Auszug aus dem Frühwerk und drei Fotos dazu, es ist 1. Mai im Kiez:

Hinterhofidylle 1 Foto: Petra Elsner
Hinterhofidylle 1
Foto: Petra Elsner

„… Die beiden tippeln von Mitte den seichten Anstieg hinauf zum Prenzelberg: Wilhelm-Pieck-Straße, Bergstraße, über den Pappelplatz, weiter rechts entlang auf der Invaliden, Veteranen, Fehrbelliner bis zur Kastanienallee, die auf die Dimitroffstraße/Ecke Schönhauser stößt. Sie pilgern gerne dort entlang, wo die zwei Kieze sich optisch kaum etwas nehmen und unmerklich ineinanderfließen. Es ist der Teil der Stadt, der immer noch nach Widerstand riecht. Ein Mythos schon fast, der stetig aus tausenden Essen quillt, unter denen die Menschen ihn weitergeben.
Obgleich kriegsentkernt, blieb die Enge. Sind die zwei-, dreifach geschlichteten Hinterhöfe, die lichtlosen, modrigen Orte, die ein gewisses Milieu gebären. Aber das weckt nicht in den beiden Stadtwanderern jene wehmütige Sympathie, die sie wieder und wieder hierher treibt.
Die Spuren der Bauspekulationen, die um die Jahrhundertwende wucherten, sind hier noch besonders krass allgegenwärtig. 1910 war Berlin die dicht besiedelte Stadt der Welt. Aber im Prenzlauer Berg hausten die Arbeiter, Handwerker, Schlafburschen, Logierer und Kostgänger hinter den schmuckreichen Vorderhauszeilen so zusammengepfercht wie nirgendwo: 30 000 Einwohner kamen hier auf einen Quadratkilometer. Als die späteren DDR-Städte überall monotone Betonquartiere umrändelten, zogen Intellektuelle in die vornehmlich dem Abriss geweihten verlebten Viertel. Und es gab Wohnungsbesetzungen, unspektakuläre, stille, weil das Warten auf eigene vier Wände den Menschen eine Geduld abverlangte, die selbst für ein betuliches DDR-Gemüt zu viel war.
Die Wehmut der jungen Männer rührt aus der Erinnerung an die sagenumwobenen Rotweinfeten bei Freunden, irgendwo in den Seitenflügeln und Hinterhäusern, meist vierter Stock. Uferlose Debattierabende, illegale Ausstellungen und Lesungen nie gedruckter Manuskripte. Matze und Hajo erlebten davon nur die trotzige Spätlese. Die Zeit war weit über ihren Zenit und doch stieg auch in diesen, in die DDR spät Hineingeborenen, besonders hier, die Lust auf, zu verändern, außerhalb des Gegebenen.
Darüber reden sie heute nicht. Matze fotografiert unterwegs. Er lugt in die Höfe, schaut verzückt auf die abgetakelten Fassaden und schwärmt immerzu.
„Diese Häuser leben noch richtig. Schau doch mal, die Kontraste, dort. Das glatte, frischgestrichene Haus sieht aus, als hätte es nichts gesehen. Aber dies hier, mit dem abblätternden Putz, das hat die Schönheit eines faltigen Gesichts. Jede Kerbe eine Geschichte.“

Hinterhofidylle 2 Foto: Petra Elsner
Hinterhofidylle 2
Foto: Petra Elsner

Er sucht nach Prachtstücken originaler Haustüren und deutet auf die Rundbögen darüber.
„Kannst du dir vorstellen, dass darin Leute gehaust haben?“
Hajo äugt hinauf und wundert sich. „Nee, kann man denn darin überhaupt stehen?“

Hinterhofidylle 3 Foto: Petra Elsner
Hinterhofidylle 3
Foto: Petra Elsner

„Na, du nicht! Aber das war den Leuten, die diese Entresol’s über den Toreinfahrten an Bedienstete vermieteten, wohl auch egal. Und wer weiß, wo wir in den nächsten Jahren mal landen werden. Ich kann mir ja jetzt schon meine Bude eigentlich gar nicht mehr leisten. Weißt du, einer meiner schlimmsten Alpträume ist die Vorstellung, einmal so zu enden, wie die Obdachlosen am Bahnhof Zoo.“
Hajo nickt stumm. Er kennt diese Furcht. Die Zukunft ist nicht berechenbar.
Auf dem Helmholzplatz sammeln sich eben etwa 500 Kids. Matze ist erstaunt: „Was wird denn das?“ Hajo zuckt ebenso verwundert mit den Schultern. Sie bleiben beobachtend am Rand, während Vierzehn- bis Sechzehnjährige mit schwarzen Sprayflaschen bewaffnet irrwitzig flink hin- und herhasten und die angrenzenden Straßenschilder übersprühen. Minuten darauf sind sie wieder bei dem Kids-Pool, der sich langsam und gemütlich die Schliemannstraße hinunter bewegt. Kichernd, albernd, sehr dicht beieinander.
Die drei BGS-Wagen bleiben am Platz. Plötzlich rennen die Kids los. Auf der Schönhauser krachen Fensterscheiben, dann scheppert es überall in der Allee. Durch die Straße ergießt sich augenblicklich eine Wutwelle, die einen wüsten Scherbenteppich hinterlässt. Dann Stille und der Asphalt ist menschenleer.
Hajo und Matze sind den Massen langsam gefolgt und stehen unbeweglich und völlig verdattert.
„Gibst doch gar nicht! schreit Hajo. „Kiek doch mal, die haben die ganzen Westläden plattgemacht.“
Sirenen heulen auf. Da die Schönhauser durch Baustellen verstellt ist, mussten die drei BGS-Wagen einen riesigen Bogen fahren und waren nun auf der Kopenhagener Straße vernehmbar. Es wird höchste Zeit, dass sich die beiden Augenzeugen verdrücken. Sie wetzen in den nächsten Hauseingang hinauf zum Dachboden und klettern schnaubend hinaus ins Freie, balancieren zum nächsten Schornstein des Eckhauses und beobachten, was in den zwei tiefen Straßenschluchten geschieht. Die Kidsdemo hat sich in die Stargarder zurückgezogen und prophylaktisch ein paar kleine Barrikaden aus Bauschutt hinterlassen. Von der Dunkerstraße steigt inzwischen Rauch auf. Matze und Hajo steigen wieder ab. Sie können die Szene nicht mehr einsehen. Die Polizisten stehen jetzt am Anfang der Dunker und zögern einen Moment. In der Straße brennen Benz‘ und Porsches.
Die Polizei hatte die Kiezankündigung nicht ernstgenommen. Meinte offenkundig, in der üblichen Kreuzberger Erste-Mai-Schlacht Einsatzpriorität. Nun, da sie sahen, was hier zu Bruch ging, fordern die Männer in West-Grün Verstärkung an. Die kommt prompt. Man rückt ein in die graue Stadtzeile. Aber auch diese Straße ist inzwischen verwaist. Wo ist der Feind? Der kindliche Feind ist über die Höfe geflitzt und taucht über jahrhundertalte Insider-Schleichwege im Rücken der Uniformierten mit Indianergeheul auf: „Blilülülülüühhh!“ dröhnt es frech-vorwitzig und zugleich bersten überall im Kiez die Scheiben der Westläden. Verkümmerte Ost-Konsum-Verkaufsstellen, Trabis und die Wohnungsfenster bleiben einzig im Ganzen.
Die grünen Männer kriegen das Kommando: „Kehrt und Laufschritt!“ Und ihre Stiefel übertönen den Krach in der Ferne, wo schlagartig Ruhe und niemand mehr auszumachen ist. Das Polizeikommando reagiert nervös, man fühlt sich verarscht und genau das werden sie auch. Außerdem können sie der weiter nachrückenden Verstärkung nicht mitteilen, wo sie sich derzeit befinden, denn Schilder tropfen auskunftslos schwarz vor sich hin.
Indes haben sich die Kids dezentral in Richtung Kolli zurückgezogen, wohin auch Matze und Hajo auf verschwiegenen Wegen unterwegs sind.
„Tja, eindeutig Heimvorteil!“, kommentiert das Matze aufgekratzt. Am Kolli eingetroffen, gähnen die Caféhausstühle unter freiem Himmel noch vor sich hin, doch die zwei haben kaum ihre Bestellung aufgegeben, da huschen von überall her kleine, abgehetzte Gestalten und bevölkern verschnaufend die Straßen-Cafés. Ein Aufatmen weht über den Kolli.
Zehn Minuten später, als alles gelassen Cola, Fanta oder Tee trinkt, ist der Platz von 2000 Polizisten abgeriegelt. Wasserwerfer und Räumtechnik schinden starken Eindruck.
Ein Stadtreporter von 100,1 trifft ein und befragt sich live vor seinen Hörern:
„Also ich weiß gar nicht, was hier los ist. Ich sehe ein gewaltiges Polizeiaufgebot, aber rund um den Kollwitzplatz sind nur lauter friedliche, jugendliche Caféhausgäste auszumachen. Sehr merkwürdig. Wirklich, ich kann die geballte Uniformpräsenz gar nicht verstehen!“ …“

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