11. Klausur-Schnipsel

zu „Die verlorene Geschichte”:

… Er hatte seinen Terminjob erledigt und etwas Zeit, wieder nach dieser flüchtigen Geschichte zu suchen. Vielleicht auch nur nach einem Textstück, dass die Zeit authentisch festgeschrieben hatte. Wie viele Wahrheiten wohl nebeneinander abliefen? Er konnte nur die eigene wiedergeben oder alte Niederschriften sprechen lassen. Aber wie war das damals? Das Bild verschwimmt, man erinnert sich kaum noch. Der Schreiber durchforstete seine Stücke, Porträts, Erzählungen und fand, diese Romanpassage hielt die Situation junger Menschen jener Tage gut fest:

Frühjahr 1991
Da saßen sie wieder um den großen mattgescheuerten Eichentisch in Lisas Küche: Chris, Jo und Hajo, der harte Kern eines Freundeskreises. Hier, zwischen Abwaschbecken, Kartoffelkorb und irdenen Gefäßen; auf unegalen, knarrenden Holzstühlen, schufen sie sich im Kopf die „Flora-Insel“, ihr Selbsthilfeprojekt. Das war im Frühjahr 1990, eine Zeit, jenseits von Gut und Böse, in der die Wohnungen nicht mehr genug Platz für die vielen Ideen und der daran klebenden Leute boten. Eine verlassene Kneipe in der Florastraße war das Objekt ihrer Begierde. Heute scheinen ihnen Welten dazwischen zu liegen. Nein, sie trinken nicht wie damals Indische Teemischungen für eine Mark und zwanzig mit ein bisschen Zucker und Zimt, damit das Getränk überhaupt Aroma bekam. Lisa verbreitete immer einen Zauber um den Tee in der dickbauchigen Steingutkanne. Es war ihr Tun und Machen, das der Teestunde so etwas Zeremonielles verlieh. Das hatte Seele. Matze erinnert sich an so ’nen typischen Gedanken von ihr: „Die Dinge mit Freude und Muße verrichten, dann werden sie wertvoll, weil Liebe drinsteckt. Du kannst den billigsten Apfelwein auf den Tisch bringen, wenn du ihn achtungsvoll kredenzt – in polierten Römern, bedächtig, voller Genuss, begleitet von geistreichen Worten, dann nehmen ihn deine Gäste an wie ein reiches Geschenk.“
Lisa machte aus ihrer schon damals bescheidenen Lebenssituation eine Tugend. Damit lebt es sich zufriedener, als immerfort unerfüllbaren Wünschen hinterher zu hasten. Als die D-Mark kam, spielten ihre beiden Mädchen verrückt. Sie wollten auch gerne so viele schillernde Sachen, wie sie etliche Schulfreundinnen jetzt bekamen. Die alleinerziehende Pionierleiterin hätte gerne nachgegeben, konnte es jedoch nicht. Sie war – noch vor dem Parteisekretär der Schule – ihren Job los. Eines Tages nahm die stolze Frau ihre Kinder bei der Hand und setzte sich mit ihnen geradewegs vor das Metropol-Hotel in der Friedrich-/Ecke Mittelstraße. Nobelkutschen mit Geschäftsleuten fuhren hier unentwegt vor. Sie wählte eine Parkbank gegenüber dem Eingang und forderte Jenny und Fanny auf, eine Stunde lang genau in die Gesichter der Eintreffenden zu schauen. Sollte nur einer unter ihnen richtig glücklich aussehen, könnten sie sich etwas wünschen. Die Mädchen entdeckten keinen.
Lisas Gäste hatten sich verändert. Hajo studierte jetzt an der TU in Dresden, Chris im katholischen Bamberg. Es war der reinste Zufall, dass Jo’s Telefonrundruf alle in der Pankower Altbauwohnung zusammenbrachte. Doch bereits an der Tür, als sie die mütterliche Freundin wie immer umarmten, spürte jene eine merkwürdige Verlegenheit. Bis auf Matze hatte sie die anderen fast ein Jahr nicht mehr gesehen. Sie sah in den forschenden Blicken der drei Verschollenen leichte Enttäuschung – alles noch beim Alten. Kein neues Buch, keine neue Technik, nirgends etwas modernisiert, und Lisas Augen: gerötetes Grau, ohne das bekannte Funkeln. Als Matze seinen Ökobeutel auspackte: Weißbrot, Leberwurst, Teebeutel, Weintrauben und einen Pappkarton roten Tafelwein, wussten sie, mit ihren Mitbringseln lagen sie völlig daneben. Fast peinlich berührt, stellten die drei je eine teure Flasche Wein dazu. Lauter als notwendig begannen sie sich über ihre Studienbedingungen auszutauschen.
Lisa dachte kopfschüttelnd: „Dafür hätte ich glatt ein Wochenende bestreiten können.“ Die zarte Frau ging an ihren alten Küchenschrank und suchte in einer Lade laut scheppernd zwischen metallenem Küchengerät nach einem Korkenzieher. Matze trat unauffällig daneben, legte seinen Arm um sie und flüsterte ihr zu: „Sei nicht sauer. Sie haben einfach nicht nachgedacht und wollten Dir ’ne Freude machen. Okay?“ „Hm“, gab sie ihm mit dünnem Lächeln zurück. Chris schob sich zwischen die beiden, griff nach den Gläsern im Vertiko, und Jo nahm Lisa mit einem „lass mich mal“ den Korkenzieher ab. Sodann saßen sie beim Wein, doch das Gespräch wollte nicht richtig anlaufen. Taktik kannten sie früher untereinander nie. Sie hatten sich damals sogar einen Kurzzeitwecker auf den Tisch stellen müssen – statt Glocke – damit jedem Redezeit zufiel und das Recht, gehört zu werden. Wie einst in der Volkskammer. Ein Spiel, das ihnen gefiel, und doch war es nur Lisas Mittel, sie ausreden und zuhören zu lehren. Und wenn ihnen die Anstrengung zu herb im Gesicht stand, spielten sie mit Würfeln oder Karten, auf dass der Druck des Tages von ihnen wich und sie wieder sein konnten, was sie waren – große Kinder.

Man war sich seinerzeit sehr nahegekommen. Zu nahe? Die Zeit ließ hohe, unsichtbare Hecken wuchern; jeder versiegte Traum – ein Stachel am Gestrüpp; jeder Neubeginn trieb einen steilen Ast zum Licht, der das innere der Hecke tötet. Sie hatten Unmengen an Neuigkeiten auf Lager, doch wo anfangen, wo aufhören? Diese Nacht reichte ohnehin nicht, und getrennte Zeit gebiert getrennte Wege, und dann sind noch die ungleichen Chancen. Schlimmer noch war; sie hatten keine gemeinsamen Träume mehr. Matze wusste plötzlich, das war der Knoten, der sie noch lose verband – der verbrauchte Insel-Traum. Die Erinnerung. Aber mit Anfang zwanzig will man nicht rückwärts leben. Wenn diese Gruppe sich nicht gänzlich verlieren wollte, brauchten sie neue Gemeinsamkeiten. Anders kann man füreinander nicht da sein.
Matze holt entschlossen den Kurzzeitwecker vom Herd, zieht ihn demonstrativ auf: „Also, liebe Insulaner! Wovon träumt ihr noch? Jeder hat fünf Minuten.“ Er stellt das tickende Ding vor sich und mustert schlitzohrig die Freunde wie die Spieler einer Pokerpartie. Er war der Zeit-Banker.
Chris verliert augenblicklich seine keck-fröhlichen Züge. Allein das Wort „Insulaner“ bohrte sich in sein Inneres und traf dort auf eine immer noch wunde Stelle, die er sonst, unter Fremden, mit Ironie bis Zynismus verbarg. Er war nicht umsonst nach Bamberg, diese kleine, puppige, aber langweilige Studentenstadt gegangen. Weg von all den Verlusten, dem Frust der gescheiterten, der Depression. Es war eine Flucht auf Zeit in eine heilere Welt. Abstand, damit die Trauer ihn nicht noch mehr zerstört. Weg von der Drehscheibe Deutschlands, Berlin, wo die sozialen Konflikte ungefiltert aufeinanderprallen, die Alternativen westseits schon alle gelebt und gestorben sind und der unverbesserliche Rest dessen nur noch militant seine Projekte durchzuführen glaubt. Das ließ den friedlichen Ost-Versuchen keinen Raum. Besatzermentalität auch in dieser Szene. Die Ossis sind überall in der Minderheit, auch bei den Alternativen. Chris‘ Gesicht ist auf einmal wieder so aschfahl und von traurigen Falten durchkerbt, wie in jenen Tagen, als ihr Traum zerplatzte: Ein Haus in Pankow für alle, die darin aktiv sein wollen, von links bis rechts, ohne politische, soziale Ausgrenzung, friedlich, offiziell und doch selbstbestimmt. Das war sein, ihr Traum von einem gemeinsamen Ort, wo man ausprobieren kann, auf neue Art miteinander zu leben. Die Flora-Insel, ihre erste gegenständliche Wende-Hoffnung – Toleranz sei praktizierbar. Dann, wenige Wochen später, nur noch der Wunsch, sich dort einzuigeln, zu überwintern – ein Nachwendesyndrom. Sie sind zusammen alle amtlichen Wege gegangen. Ihre Konzepte fand man im Rathaus gut. Die letzten Volkskammerwahlen der DDR am 18. März 90 kippten die Meinungen von Amts wegen. Auswege bot man ihnen nicht. Stilles Sterben mit siebzehn, achtzehn. Erst dann kochten wütende Gedanken. Radikalere! Einfach reinsetzen in so’n lebloses Haus, wie in der Hamburger Hafenstraße. Barrikadenträume, gezeugt aus der Ohnmacht. Im Mai 90 dann der Aufruf der Westberliner Autonomen, in die Mainzer zu kommen. Dort sammelten sich viele, und war vielleicht noch eine Möglichkeit. DIE Welt hatten sie alle längst als Denkradius aufgegeben – kein Einfluss. Was sollten da ihre Gedankenspiele um das Große? Sie wussten nicht, was und wer sie waren, und die Zeit lief nicht beständig, sondern glich einem Vulkanausbruch.
Chris fühlte sich nicht als Autonomer. Er wollte nur nicht gleich wieder in eine Zwangsjacke für die Gedanken gesteckt werden. Die Medien nannten sie linke Chaoten. Stand er links? Nein, er befand sich nur in einer Bedenkpause – nirgendwo im rechtslosen Zwischenland.
Es rasselt der Wecker und durchreißt die gedankenschwere Szene. Matze zieht die nächsten fünf Minuten auf und Chris beginnt:
„Da haben wir seinerzeit unsere Ideen ganz kleingemacht. Überschaubar, weit weg von den großen, kaputten Visionen. Doch selbst diese Kleinstvariante hat man uns nicht gelassen. Nach der Vertreibung aus der Mainzer sind wir alle irgendwohin geflüchtet, und streunen heute dort als zahnlose, einsame Wölfe herum. Wir bauen nicht mal mehr Schutzwälle gegen die Kälte des Systems. Wissen kaum noch, wie man mit dem Kummer, dem Ausgegrenzt-Sein des Nebenmenschen umgeht. Wie schnell das geht. Man gibt sich wessigemäß und baut an seiner standessuggerierten, bürgerlichen Inselvariante: Traumjob, Haus, dickes Auto oder sonst etwas, ganz für sich allein zu besitzen. Besitzen! Kohle! Darauf reduziert sich letztlich alles, auch wenn wir dem Traumding andere Namen geben, weil man’s so banal nicht sagen will. Für diese Inselvariante schuften wir und passen uns an. Ich würd‘ gern als Weltbürger leben. Verschiedenste Kulturen in mir aufnehmen, überallhin Verbindungen aufbauen. Mich erdrückt die Enge in Bamberg. Aber auch für so eine Lebensart braucht man Kohle, Kopf allein reicht nicht.“
„Mag sein,“ wirft Matze ein, obwohl Chris‘ Redezeit noch nicht verstrichen war. „Aber zum Weltbürgerdasein brauchst du nicht unbedingt viel Geld. Das kannst du auch als Entwicklungshelfer erlangen.“
„Blödsinn!“, Chris wirft sich ungehalten an die Stuhllehne zurück und winkt ab: „Da stülpst du auch nur Leuten etwas über. Bringst wieder in Europa ausgediente Lebensvorstellungen zu ihnen, die nicht die ihren sind, so wie die Westberliner Autonomen den Ostberlinern. Nee, Matze, das sind missionarische Einsätze – immer noch. Gut, es ist eine Möglichkeit, Deutschland zu verlassen, aber mehr nicht.“
Matze schaut entgeistert in Chris‘ ernstes Gesicht. So hatte er die Sache noch nie betrachtet. Chris rüttelte damit ungewollt an seiner zusammengezimmerten Zuflucht. „Aber es muss doch einen Weg geben, der beispielsweise ausschließt, dass europäische Kultur afrikanische Lebensweise zerstört“, sammelt sich Matze. „Wenn man gleichberechtigt mit ihnen zusammen lebt und arbeitet, um in ihre Welt einzutauchen, und ihre Kultur erfahren will – das ist doch ein Ansatz, oder?“
Jo gießt gelangweilt Wein in die Gläser nach, und Lisa zündet weiße schlanke Kerzen und sich dann nachdenklich eine Zigarette an. „Merkwürdigerweise ist aber der Mensch wie ein Tier, das sich nach dem stärksten seiner Art orientiert“, setzt Lisa dunkel hinzu. Während sie ruhig Weißbrot in Scheiben schneidet und mit Leberwurst beschmiert, hält sie die Zigarette lax im Mundwinkel, dabei kneift sie ein Auge schützend vor dem aufsteigenden Qualm zu, schaut kurz auf Matze und murmelt: „Kennst du doch: Peterprinzip und Hackordnung. Ich glaube nicht, dass sich so etwas außer Kraft setzen lässt. Nirgendwo. Aber behalte deinen Traum, du hast wenigstens einen, und bist jung genug, so etwas auch durchzuziehen.“
Da ist Fernweh in ihrem nochmals flüchtig erhobenen Blick. Als huschten vor ihrem inneren Auge Bilder aus Afrika vorbei: Die Weite eines unscharfen Horizonts, wo flaches Buschland und südlicher Abendhimmel flimmernd ineinander tauchen – und einsam in diesem Bild ein gigantischer Baum im Gegenlicht – apokalyptisch. „Dorthin komm ich nie“, denkt die Dreißigjährige. „Es reicht kaum für den Tag. Mein Gott, die ABM-Stelle im Frauenzentrum bringt mir wenigstens 1200 DM. Zu wenig für drei. Ich kann mich kaum bewegen. Was wird, wenn die Maßnahme in einem halben Jahr ausläuft? Wieder ein kurzlebiges Projekt? Nach ein paar Monaten Arbeitslosengeld: Sozialhilfe?“ Lisa kann nicht mehr für die Wirklichkeit träumen, ihre Gedanken sind ohne Flügel. Im Frauenzentrum sieht sie, wie das Elend wächst. Frauenarmut. Die perlt nicht ab von ihr, wie das Wasser auf einer gutgefetteten Haut, sondern dringt tief in ihre Poren und wird dort zu Angst. Lebensangst, die sie heute vor den Jungs am Tisch versteckt hält. Nicht aus Scham. Nein, weil sich nicht jedes Wissen ertragen lässt. Man verdrängt es unweigerlich, indem man ihm ausweicht. Dabei ist sie doch so froh darüber, dass die Jungs endlich mal wieder zu ihr gefunden haben. Sie will die Situation festhalten, solange sie kann. Deshalb schweigt die Frau. Denn wenn sie auf irgendeine Vision hoffen kann, dann glaubt sie, diese Vision nur noch durch diese jungen Männer zu empfangen, transfusionsartig. In ihr ist keine gestalterische, visionäre Kraft mehr, nur noch die Zähigkeit, die monoton das Leben fortsetzt.
Jo saß die ganze Zeit über unruhig in dieser Runde. Er kippelte sich mit seinem Stuhl immer weiter vom Tisch, lehnte nun bereits in der Ecke zwischen Fenster und Schrank, als er seinen Sitz krachend wieder in die Normalstellung bringt, und gleichzeitig in für ihn bedeutungsträchtigem Hochdeutsch ausstößt: „Es reicht! Ich kann die ‚Weißt-du-noch-Geschichten‘ oder die ‚Wenn-dann-Geschichten‘ nicht mehr hören! Diese Leidensminen nicht mehr ertragen! Hört auf damit! Es gibt keine großen Träume mehr. Wir leben jetzt! Nicht jeder lebt gut. Aber eben jetzt! Ich will nicht ständig das Haar in der Suppe suchen, sondern die Suppe essen. Ich will schöne Klamotten tragen und mich von Lebenslust treiben lassen, ohne mir von solchen wie euch diesen abwertenden Seitenblick einzufangen. Ich will, dass die Stadt schön wird. Einfach licht, freundlich, sauber, und nicht gleich hinter jeder neuen Fassade das schmarotzende Kapital entdecken, welches mir die Illusion nimmt. Ich weiß von den Spekulanten, aber ich muss es nicht immer wissen. Ich will kein schlechtes Gewissen haben, weil‘s mir jetzt besser geht als Lisa. Vielleicht ist schon übermorgen alles vorbei, und ich bin ganz unten. Das geht doch alles so verdammt schnell. Lasst endlich jeden wie er ist! Ich sag euch ja auch nicht immerzu, ihr müsst das positiv sehen, die neuen Dimensionen und so. Seid nicht sauer, aber das gibt mir hier nichts mehr. Ich hau‘ ab.“ Er springt auf, steckt sich sein im Kreuz zusammengewurschteltes, schwarzes Seidenhemd wieder korrekt in die Hose, streicht mit der linken Hand eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn, mit der rechten klopft er verabschiedend auf den Tisch und verdrückt sich hinaus ins Freie. Nur weg, keine Erwiderung abwartend.
Man hörte das Atmen am Tisch. Der unverhoffte Szenenwechsel erwischte die anderen kalt. Hajo saß verkrampft mit geschlossenen Augen da. Ihm war, als müsste er augenblicklich losheulen. Doch es war dann nur so ein sachtes Beben in seiner Stimme: „Ich versteh‘ ihn. Im Dauerkonflikt lebende Menschen werden krank. Und er will sich nicht infizieren. Wisst ihr, meine beiden Alten und meine vierzehnjährige Schwester haben sich vor ein paar Tagen total gekeilt. Ich war derart erschrocken, als ich gestern von dem ganzen Schrott erfuhr. Seit Monaten läuft das Papiergeschäft meiner Eltern nicht mehr so gut. Sie haben furchtbar viel investiert, sich dabei hoch verschuldet, und jetzt bleiben die Kunden aus. Die Zinsen, die Gewerbemieten und was weiß ich belasten sie. Mutter ist durchgedreht. Wollte aussteigen. Die beiden anderen haben sie als Verräterin beschimpft und traktiert. Sie war plötzlich an allem schuld. Und da hat sie Susi für deren schlimme Anfeindungen eine gescheuert. Aber die schlug zurück. Stellt euch das vor: Meine kleine Schwester sprang unserer Mutter an die Kehle und drückte völlig enthemmt zu. Sie hätte Mutter umgebracht, wenn nicht Vater dazwischen gegangen wäre. Der hat zuletzt auf Mutters Schlag mit der Vase nicht mehr reagiert – und so hörte es endlich auf. Niemals gab’s auch nur seichte Schläge in unserer Familie. Sie sind unter dem existentiellen Druck entgleist. Mutter soll dann ins Frauenhaus gerannt sein, wo man sie eigentümlich musterte: ‚Wie bitte? Sie haben ihren Mann und ihre Tochter verprügelt und nun trauen SIE sich nicht nach Hause?‘ Meine Mutter blieb nur die eine Nacht, während Vater sich im Krankenhaus den Kopf nähen ließ und Susi einem Kinderpsychologen vorstellte. Sie hat echt ’n Ding weg seit diesem Abend. Ich weiß nicht, ob sie das je verwindet. Jetzt läuft die Scheidung an. Eine von den neuerlichen 60 Prozent-Scheidungen, in der die ostdeutschen Eheleute mit der Axt aufeinander losgehen. Das ist doch alles irre, zum Weglaufen. Man kann es erklären, aber aushalten kann man es nicht.“
Nun brechen doch Tränen aus Hajo. Lisa war längst aufgestanden und seitlich neben ihm. Sie strich ihm sacht, fast zögernd über seine langen, aschblonden Haare, die übers rot-weißgepunktete Stirnband fielen. Da ruckte sich Hajo zu ihr herum, klebte an der flachbrüstigen Frau und weinte sich aus. Der erste milde Frühlingsabend hing im Raum, und die Menschen darin hatten ihre Kummerbrücken gespannt. Über die würden sie auch weiterhin zueinander finden. Gesprochen wurde nicht mehr viel, es gab keine helfenden Antworten. Stattdessen nahm Lisa ein Märchenbuch zur Hand und las ihnen eine lange, besänftigende Geschichte vor…

Meine Güte, dachte Elias, was für ein Gefühlschaos. Er kopierte die Zeilen, schickte sie per Mail an Maja und war gespannt, was sie dazu sagen würde…

E wie Ende.

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