In der fünten Klausurwoche

Hier der nächste Klausur-Schnipsel zu „Die verlorene Geschichte“:

… Am S-Bahnhof Greifswalder Straße verließ er die Bahn und eilte, vom Verkehrsrauschen begleitet, zur Marienburger. Diese Straße hinauf konnte er schlendern. Leises Kieztreiben am Abend. Im „Blauen Licht“ hockten noch die Einzelgänger. Der Schäferhund des Dealers knurrte, als Elias Kühn die Szene betrat. Er knurrte grundsätzlich alle an, die keine Kunden waren. Kühn hatte es nie probiert, sich in andere Sphären zu rauchen oder zu schnupfen, von jetzt auf gleich. Es interessiere ihn nicht, er trank sich lieber in Gesellschaft einen kleinen Feierabend-Rausch an. Das war sicher nicht besser, aber anregender. Frau Graf schenkte ihm einen Schoppen ein und servierte ihn mit diesem verheißungsvollen Augenaufschlag, dem schon viele erlegen waren. Doch die Frau bemerkte sofort, dass diesen Mann ein inneres Leuchten umgab. Ihr Blick wurde nachsichtig: „Ja, ja, die erste und die letzte Liebe verschlingt uns ganz.“ Elias Kühn stutzte und schaute irritiert ihren flinken Schritten nach. Die Nacht wehte endlich einen Bekannten ins Quartier. Elias war froh, nach der wortlosen Beobachtungsstunde in irgendein Gespräch zu kommen. Bert Poppe wickelte sich mit jungenhaftem Lächeln aus seinem Endlosschal, bestieg den Hocker am Tresentisch, den die Stammkunden nur das heiß umkämpfte ‚Ohr Nummer 1‘ nannten, und meinte: „Na Alter, dann woll‘n wir mal einen auf Glissi trinken. Frau Graf, bitte ein Pils und drei Wodka.“ Die beiden Männer hielten das Schnapsglas, stießen an das dritte Glas in der Tischmitte und raunten „Prost Glissi!“ Elias dachte nach dem Schluck, das kann ja heiter werden, mit einem Toten trinken, das wird uferlos! Deshalb grenzte er es ein: „Lass‘ uns bitte nur den einen heben, Berti. Draußen wartet noch das Leben… oder hast du vergessen, wie sie ihn zu Grabe getragen haben? Mit einer Sense auf dem Sarg. Und seine Geschiedene hat den gut hundert Trauergästen einen Redner übergeholfen, der aus irgendeinem Parteilehrjahr gestammt haben muss. 30 Minuten hörten wir sowas wie ‚Ihr seid schuld! Mit Eurem Lebenswandel habt Ihr ihn aus seinem Leben geschossen!‘. Au, das war heftig! Wer so‘ne Alte hat, der braucht keine Feinde! Bert Poppe nickte: „Zumal es nicht stimmte. Ich werde nie vergessen, wie der hier immer um Mitternacht ankam, seinen Kalender aufschlug und bei einem, höchstens zwei Feierabendbieren den nächsten Tag plante. Für diese Ingenieurbude, die ihm sein Chef im Sterben übergeholfen hatte. Einem Akademie-Physiker, Manno. Der hat sich für die zehn Angestellten aufgeräufelt. Und dann, mit 50 Jahren,  der erste Urlaub nach zehn Jahren in der Neuzeit – und stirbt aufm Berg, beim Wandern. Das ist ungerecht! Prost Glissi!“ Bert bestellte den Zweiten. Als Elias Kühn vor die Tür trat, fegte ein ruppiger Frühjahrssturm Eichenblätter über den Asphalt. Der Mann ließ sich vom Rückenwind heimwärts schieben. Es gab Abende im „Blauen Licht“, die waren heiter, dieser endete pathetisch.

Eine Woche später saß Elias Kühn wieder in der S-Bahn nach Südosten. Er hatte ihre Zeichnungen und seine Episoden dem Verlag übergeben und noch keine Antwort. Es gab also keinen beruflichen Grund Maja Hügel aufzusuchen. Ihre Umarmung hatte sich in seinen Gedanken festgehakt, und dieses Gefühl trieb ihn nach Eichwalde. Unangekündigt. Sie sah ihn überrascht an, als sie die Tür öffnete und ihn mit einer Rose erblickte. Verlegen und ein wenig unsicher, ob er sich hier nicht gleich zum Affen machen würde. Entflammtes Grauhaar sucht – ja, was eigentlich? Die Frau fragte das Gott sei Dank nicht. Sie grinste und kokettierte: „Wusste ich doch, meine Soljanka ist unschlagbar. Nur habe ich leider keine auf dem Herd, bist du auch mit Kaffee zufrieden?“ Sie nahm die Rose und ging voraus. Wenig später saßen sie beim Kaffee, und Maja fragte nach dem Gemeinschaftsprojekt. „Abgegeben, jetzt heißt es wieder warten, aber ich fürchte…, ach, abwarten. Schau mal, ich habe hier noch einen Textfetzen von anno 1992. Es ist aus besagtem unveröffentlichten Roman.“ Wieder las Maja laut:

Bei Kempers brennt noch Licht. Die Runde ist nach Mitternacht größer als sonst und sehr gemischt. Eigentlich wollten Matze und Maria mit ihren zwei Fotografenfreunden nur ihr Ausstellungsprojekt besprechen: „Berliner Szenefotos“. Es war schon ein wenig prickelnd, als Jonas mit frischgeschorenem Kopf in den fortgeschrittenen Abend platzte. Für gewöhnlich zog er sich grußlos mit Ines in sein Zimmer zurück, wenn die Eltern Gäste hatten. Das ganze Geschwafel ging ihm permanent auf den Keks. So vermied er es schon lange vor der Wende, sich Fragen auszusetzen. Fragen von Fremden, ob seines Outfits, die ihm doch nicht zuhörten. Diesmal aber war es anders. Diese Fotos interessierten ihn, und auf dem Tisch standen herrlich frische Salate, wohl temperierter Weißwein und eiskalter Apfelsaft, das machte ihn echt an. Außerdem saß man nicht fest und debattierte wie sonst. Alles war in Bewegung. Nichts konzentrierte sich auf die Personen im Raum, sondern ausschließlich auf die Bildobjekte. Und da war auch Matze. In Jonas tauchten keineswegs freundschaftliche Gefühle auf, aber auch keine Berührungsscheu. Akzeptanz eben. Für Jonas etwas völlig Neues, und er fühlte sich gut dabei. Er sah auf die Fotos und hörte, dass die im Westen nichts galten. „Und warum nicht? Die sind doch echt spitze!“, bemerkt er zu Matzes Aufnahmen. „Was haben die daran auszusetzen?“ „Keine Ahnung. Sie mögen sie halt nicht.“, antwortet Matze.
„Zu sozial-kritisch“, meint einer der Fotografenfreunde. „Aber so ist es doch! Genau das hier, das ist Prenzelberg. Eh, und die Typen dazu! Volltreffer!“, findet Jonas.
„Du sagst es. Wir wollten die Wahrheit, keinen Proletenkult. Eben das echte Leben im Kiez, und sind damit bei den Wessis durchgefallen. Und tschüss! Äm, ja, und deswegen machen wir jetzt eben selbst eine Ausstellung“, erklärt der Linke dem Rechten im erst enttäuschten, dann euphorischen Tonfall. Jonas rutscht auf dem Hintern zwischen den Lebensbildern hin und her, staunt und erfreut sich daran. Schließlich fragt er nach: „Aber sagt mal, das kostet doch alles einen Haufen Kohle! Die Filme, die riesigen Vergrößerungen, der Ausstellungsraum und so. Ihr seid doch alle arbeitslos oder nicht dicke bemittelt. Warum macht ihr das in so einer Situation, denn verdienen kann man damit doch auch nix?“
Maria streicht Jonas sacht über seine Fast-Glatze, zieht die Brauen schelmisch hoch und sagt: „Damit wir spüren, dass wir noch leben, etwas wert sind. Nimmt man einem wohlsituierten Westdeutschen die Kohle, was bleibt dann? Meistens nicht viel, denn andere Werte lassen sie kaum gelten, und das macht sie, wenn du es genau nimmst, unserer Runde gegenüber arm!“
Jonas schaut ungläubig. „Ist das der neue Ossi-Stolz als Schutz gegen die satten Westler?“ Matze nippt kurz an seiner Weinschorle und schaut dem Fragenden ruhig ins offene Gesicht: „Nein, nicht gegen jemanden, Jonas. Für uns selbst und als unaufdringliches Angebot für andere. Einfach so.“

 „Hm, das war damals das Neue“, resümierte Maja. „Abgelehnt zu werden hieß nun nicht mehr – vollkommen verhindert. Man konnte ja selbst agieren und machte stattdessen keinen Urlaub. Nur da begann auch der Rückzug ins Kleinformat. Denn wie man an öffentliche Fördertöpfe gelangt, war uns damals noch ein Buch mit sieben Siegeln, und die westdeutschen Kollegen beschützten ihre Futterquellen mit Bedacht… Ich kann mich an eine Ausstellung in einem Berliner ABM-Medien-Club in der Torstraße erinnern, da habe ich, weil das Geld für Bilderseile aus Perlon fehlte, Schnur aus dem Baumarkt weiß bepinselt. Es ging, aber überall war zu spüren, wie arm wir waren, und dass dieser Umstand uns daran hinderte, über unseren engen Lebenskreis hinaus zu wirken. Es entstand eine Art Trotzstolz.“ …

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