Die Stimme auf ihrer Schulter

Sie fegte den Hauch mit der Hand von der Schulter und dachte leise: Geh‘, verdrück‘ dich aus meinem Leben! Aber er war immer noch da, dieser miesepetrige Herr, der ihr ständig ins Ohr raunte: „Tu‘ dies oder jenes nicht!“ Als er das letzte Mal über ihre Bettzipfel sprach: „Schlaf nicht so lange, nur der frühe Vogel fängt den Wurm!“, stellte sie einfach den Wecker ab und drehte sich noch einmal um. Es war der trotzige Beginn, sich gehen den Nörgler aufzulehnen. Jetzt versuchte sie ihn loszuwerden, diesen Schatten aus der Vergangenheit. 25 Jahre war der Vater schon tot. Sie hatte längst vergessen, starb er 1996 oder 97? Er hatte sich schon lange zuvor weit von ihr entfernt und steckte in einem anderen, neuen Leben. Sie konnte kaum glauben, wie liebevoll und großzügig dieser harte Kerl in der neuen Familie sein konnte. Ein Gestaltwandler. Als er aus dieser Welt ging, schien er sich ihrer zu erinnern, denn seither war sie da, die strenge Stimme auf ihrer Schulter. Es ging der Stimme nicht um beste Leistungen, sie verlangte Anpassung, unauffälliges Sein. Beides war Isabell nicht gegeben. Sie stach immer schon aus der Mitte hervor. Laut und eigensinnig. Wenn Isabell eine wichtige Arbeit nur mit Überstunden erledigen konnte, sah sie nicht mehr auf die Uhr und die Stimme schimpfte: „Bist du ordenssüchtig?“ War Isabell nicht, aber sie liebte ihre Arbeit und sie war verlässlich. Nicht immer schon, erst nach ihrer fünften Berufswahl. Von da an lief sie wie ein Uhrwerk. Es ist wichtig den richtigen Job zu finden, das Leben fühlt sich dann leichter an, selbst wenn es schwer ist.
Isabell wusste, der Vater hatte nicht das Recht ihr Dinge zuzuflüstern. Dinge wie: „Halt dich zurück!“; „Mach was Anständiges, nicht so einen Krimskrams!“; „Sei nicht so großzügig, da kommt eh nichts zurück!“; „Verschenk nicht das letzte Hemd!“ Sie verachtete solche Ansagen und gab meist mit vollen Händen. Nach seinem Verrat hatte er ihr gar nichts mehr zu sagen. Man verrät nicht die 14-jährige Tochter. Isabell konnte nicht verstehen, weshalb er sie postwendend zurückschickte in dieses Internat. Dort waren alle Wege plötzlich verschlossen. Der Trainer beschimpfte sie, als sie ihm mit zittriger Stimme das ständige Trainingsverbot der Mediziner mitteilte. „Du versaust mir meine Jahresprämie!“, brüllte er. Sein Atem roch nach Wodka und seine Augen schwammen im blutigen Rot wie jeden Morgen. Isabell fühlte sich schuldig, dabei war sie „nur“ krank. Wovon eigentlich? Den Becher mit dem täglichen Vitamintrunk nahm sie nicht mehr vom Tablett in seinen Händen. Sie flüchtete, denn hier in diesem Augenblick bekam ihr Leben den ersten Riss. Was sollte sie an diesem Ort, der sie gerade ausspuckte? Völlig aufgelöst lief sie davon. Nach Hause.
Der Vater war dieser Tage krankgeschrieben. Seine Kriegsverletzung puckerte, aber er klagte kein bisschen. Er hörte sich ungerührt das kindliche Drama an, kochte währenddessen eine Tütensuppe und löffelte die Buchstabennudeln wortlos. Als alles gesagt war und die Tränen getrocknet, griff er zum Telefon und rief in der Sportschule an. Isabell dachte, er würde jetzt ihrer Bitte folgen, dass sie sofort in eine normale Schule wechseln könnte. Aber es kam anders. Er schickte sie zurück. Man erwarte sie. Er schwieg fortan über das Geschehene, nicht einmal die Mutter erfuhr davon. (Sie würde bis zuletzt glauben, ihre Tochter habe versagt.) Erschrocken reiste Isabell zurück und fragte sich – wie konnte er nur? In der Schule erwartete sie niemand. Sie gehörte nicht mehr dazu, sollte aber das Schuljahr hier abschließen. Warum? Wer wollte Zeit gewinnen und wofür? Es gibt Fragen, die ins Leere laufen und am Selbstwert nagen.
An diesem Morgen öffnete die Frau das Fenster, schaute kurz zu ihrer linken Schulter und sprach laut und deutlich: „Schweig‘ jetzt und geh‘, sofort!“

PS: Diese Geschichte habe ich 2020 begonnen, abgebrochen und heute erst wurde sie fertig…

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Die Glücklosen

Ihre wassergrünen Augen schauten immer etwas beleidigt in den Tag. Noch hatte sie etwas Apartes, obwohl sie schon fast 70 Jahre alt war. Modern gekleidet und die feuerrote Mähne frisch frisiert. Das hätte sie sich von ihrer mickrigen Rente niemals leisten können. Aber sie pflegte jahrelang ihren Vater, dann ihre Altersliebe. Mürrische Männer, die man in der schönen, neuen Welt nicht ankommen ließ. Dafür beschenkten sie ihre Margarete. Bis in den Winter 1989 war sie die kinderlose Geliebte eines Romeo-Spions, der durch die Verhältnisse getrieben, im Sumpf der Geschichte verschwand. Die Frau hatte erst spät begriffen, mit wem sie da gelegentlich das Bett teilte. Sie hatte Zeit und Muße. Auch in der damaligen DDR hatte die sogenannte 68er-Generation Mitte, Ende der 70er Jahre die Chefetagen und Institutionen erreicht und deren Posten besetzt. Für die drei, vier Jahre später Geborenen blieben diese ein Arbeitsleben unerreichbar. Die Zwischengeneration der ewigen Mitarbeiter entstand. Es war nicht verwunderlich, dass gerade diese Menschengruppe nach der Wende vom Westen in den Osten strömte, ihre Chance ergriff und alles weg biss, was sich um Augenhöhe und Posten bemühte. Margarete war damals 40 Jahre alt, studierte Werbeökonomin und versank uferlos in der Massenarbeitslosigkeit der 90er Jahre. Sie gehörte fortan zu den Glücklosen, die selbst von ihren Eltern, den gut ausgestatteten und fitten Einheitsrentnern, keinen Respekt bekamen. Anfänglich hoffte sie noch, irgendwann wieder einen einträglichen Job zu bekommen, aber ihr Leben hatte einen Riss und es gab immer einen, der sie verhinderte, bis sie verbittert in Rente ging. Dieser beleidigte Blick bekam nun nicht mehr täglich neue Nahrung, aber er verlor sich nicht. Er wandelte sich höchstens in einen enttäuschten, einsamen Blick. Der sagte schweigend an jedem Grab eines ehemaligen Kollegen: Was hätten wir alles werden können! Man starb früh in dieser Zwischengeneration. Verschlissen und entehrt von schlechten, billigen Jobs, schlugen in ihr Krankheiten härter zu. Margarete war halbwegs gesund. Die Hinterlassenschaften ihrer Männer ermöglichten ihr kleine Reisen und ausgiebige Kaffeehausbesuche, bei denen sie eintauchte in die Sphären der anderen. Hier saß keiner, der abgehetzten Paketboten oder der übernächtigten Zeitungszusteller. Hier lustwandelte das selbstgerechte Leben. Margarete bemerkte sehr bald, dass sie die einzige der Glücklosen war, die diesen Ort besuchte. Lange. Bis sich eines Tages die Glastür des Café Einsteins öffnete und sie ein Blick traf, der ihr vertraut war. Der wissende Blick eines Glücklosens. Er streifte sie nur und hielt dann Abstand. Der Mann griff sich eine Zeitung und fläzte sich mit ihr auf eine der Lederbänke zwei Tische weiter. Er las, trank Kaffee und entfaltete dabei diese seltsame Aura eines Unberührbaren. Die hatte Margarete auch, weswegen es niemand wagte, sich zu ihr zu setzen. Aber seine Anwesenheit ließ sie still in sich hineinlächeln. Sie war an diesem Ort nicht mehr allein.
© Petra Elsner

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Kuppen im Wind

Die zwei Hügel im Wind mit dem Ausblick in eine endlose Weite war das Sehnsuchtsbild aus kindlichen Träumen. Jetzt stand Fine auf einem der beiden, dem rechten und schloss das alte Haus auf. Sie war seltsam ergriffen, froh und traurig zugleich. Hinter dieser knarrenden Holztür wohnten vor kurzem noch Selma und Willi. Das kinderlose Paar hatte ihr das alte Gemäuer, halb Stall, halb Wohnhaus überraschend vererbt. Seit zwei Jahrzehnten war Fine nicht mehr hier gewesen, nun schloss sie eine Pforte auf, hinter der sie den Duft der Kindheit erwartete – Sommerglut und Apfelscheiben. Aber nein, als sie eintrat, schlug ihr ein stickiger Geruch entgegen. Der Raum geduckt und düster. War er wirklich so klein, damals, als ihr Selma hier immer die Willkommenswürstchen anrichtete. Dazu gab es Kartoffelmus mit brauner Butter und Blattsalat. Die Welt schrumpft mit dem Erwachsenwerden, dachte die Frau, bevor sie hektisch alle Fenster aufriss und wieder ins Freie floh. Da stand sie nun und schaute. In ihrem Rücken lag talwärts der kleine Damerower Auenwald und vor ihr der wunderbare Dammsee. Der Pfad durch den Wiesenhang dorthin war zugewachsen. Und im Schwesterhaus, auf der anderen Kuppe? Kein Leben. Die alte Lore Sommer war auch als sie noch lebte unsichtbar. Gestorben ist sie im gleichen Winter wie Selma und Willi, letztes Jahr. Seither standen die Kuppen verlassen im Wind.  Fine sah sich vollkommen allein, und so wollte sie es auch für eine unbestimmte Zeit. Sie ging zurück zu ihrem Transporter, öffnete die Hecktür und wuchtete mit einem Schrei den neuen  Benzinrasenmäher auf den Boden. Schnauf, das war schwer. Sie warf das Teil an, griff sich noch ein Handtuch, hängte es sich um den Hals, dann knatterte sie, alles stehen- und liegen lassend, einfach los. Mit dem Rasenmäher den Hang hinunter. Fine lächelte über diese kluge Idee, sich einen Pfad zum See zu bahnen. Während der Mäher jaulte und schepperte, dachte sie an Paul, der mit seinem Rasenmäher Laufpfade durch den Wald schnitt, zwei Meter breite, wegen der Zecken. Er hatte eine Heidenangst vor den Mistviechern, trug sogar Zeckenbänder um Hand- und Fußgelenke, wie man sie Hunden oder Katzen anlegt. Diese frisierten Waldwege würde Fine nie wieder betreten, dass stand fest und auch seinen Irrgarten aus  Phobien und Panikattacken nicht. Gelähmtes Leben – nie wieder, dachte sie.
Endlich hatte Fine den Weg in der Senke erreicht. Der Rasenmäher verstummte. Die Frau drehte sich um und grinste ihr Werk an: Schnurgerade lief der Pfad hinauf bis zu Kuppe. Sie schob den Mäher ins Dickicht der wilden Sommerwiese und spazierte weiter zum See. Kein Mensch weit und breit. Es war Montag, und die Schulferien hatten noch nicht begonnen. Fine hängte die verschwitzten Klamotten in einen Busch an der Badestelle und sprang juchzend in das klare Wasser. Sie schwamm und schwamm, lange, als wollte sie mit jedem Zug und Stoß ihr Leben reinigen. Die Last abspülen. Das kühle Nass und die tanzenden Sonnenfunken darauf  fühlten sich nach Glück an. Fine prustete, drehte sich in die Rückenlage und trieb mit geschlossenen Augen bewegungslos durch die stille Mittagsstunde.
Nicht nachdenken, nichts denken, suggerierte sie sich währenddessen. Aber das gelang ihr nicht und sie dachte: Frauen denken immer. Wenn sie nicht denken, träumen oder schlafen sie, ansonsten denken sie pausenlos: an den Liebsten, die Kinder, den nächsten Arbeitsschritt, den letzten Film, die nächste Woche, die Urlaubsvorbereitungen, den Frühjahrsputz, die Freundinnen, den Einkauf, die Spinnwebe im Bad, eine Verabredung … einfach immer und vor allem an das, was sie nicht geschafft hatten zu erledigen. Männer behaupten, befragt, an was sie gerade denken würden: „An nichts.“  Fine hat lange gebraucht, dass zu glauben. „Na, gut, dann denken sie eben seltener als ich“, sagte sie sich halblaut, klatschte trotzig mit der Hand aufs Wasser und schwamm zügig zurück an Land.
Als es an diesem Julitag dämmerte, hatte sie die alte, schwarze Küche beräumt und die Wände abgewaschen. Morgen würde sie den Raum streichen, und nach ihm den nächsten und den übernächsten. Jetzt baute sie sich ihr kleines Iglo-Zelt auf. Als sie endlich davor saß und in das letzte Brötchen von der Tankstelle reinbiss, lag die Blaue Stunde über den zwei Kuppen. Fine nahm einen kräftigen Schluck Rotwein und genoss den stillen Moment. Irgendetwas schepperte heftig dort drüben in dem anderen Kuppenhaus. Sie schaute hinüber, aber es bewegte sich nichts und es gab auch kein weiteres Geräusch mehr. Vielleicht eine streunende Katze, die dort Unterschlupf suchte, dachte sie sich und kroch schließlich todmüde auf die Luftmatratze im Zelt.

Eine Auto-Hupe weckte Fine aufdringlich. Benommen zog sie den Reißverschluss ihres Nachtquartiers auf und lugte raus. Die Frau aus dem Versorgerauto winke und schrie: „Brauchen Sie was?“
Fine nickte, griff Hemd und Shorts und stand wenige Sekunden später vor dem breiten Transporter.
„Unten, auf Gutshof haben sie mir verraten, hier oben wohne wieder eine. Ich komme immer dienstags.“, ratterte die blonde Frau mit der Hochfrisur und musterte die neue Kundin. Fine dankte: „Toll, dass Sie nachfragen.“, dann spähte sie in den Wagen und entdecke wirklich alles, was sie gerade brauchte: Brot, Brötchen, frische Wurst, Speck, Zucker, Butter, Mehl, ein paar Dosen, Gemüse, sogar Zigaretten. „Für mückenreiche Abende, eine Schachtel pro Woche, mehr rauche ich nicht mehr. Übrigens, ich bin die Fine Hellwig, war in den Kinderferien immer bei den beiden Alten in Pflege.“
„Und“, fragte die Blonde: „dienstags für immer oder nur in den Sommermonaten?“
„Für immer“, antwortete Fine und fing sich dafür einen freundlichen Blick ein, bevor die Frau mit dem Essen auf Rädern wendete und verschwand.
Gegen neun Uhr begann die Sonne zu brennen.  Fine erinnerte sich, dort in dem Schuppen waren früher die Gartenmöbel und auch ein Sonnenschirm untergebracht. Aber der Schuppen steckte in hüfthohem Gestrüpp. Die Frau warf kurzentschlossen wieder den Rasenmäher an und bahnte sich den nächsten Weg. Der Riegel an der Brettertür saß fest. Verrostet. Beim Ziehen und Zerren brach das Eisen aus dem morschen Holz. Fine fluchte: „Schitt!“ Aber die Tür war nun offen und wirklich, im Dämmerlicht entdeckte sie die alten Klappstühle aus Gusseisen und Holz und in der Ecke lehnte der bunte Sonnenschirm. Den hatten zwar die Motten gefunden, aber fürs Erste konnte sich die Neusiedlerin einen geschützten Pausenplatz einrichten. An der Schuppentür hingen eine grasgrüne Latzhose aus feinem Kort und eine Strohkappe mit rot-weiß-karierter Schleife. Wer die wohl trug. Selma war viel zu korpulent für diese fröhliche Klamotte. Gut zum Arbeiten, dachte Fine, schüttelte die Spinnen aus der Hose und stieg hinein. Sie passte. Perfekt, fand die Frau, genau richtig für den etwas nachlässigeren Dorf-Look. Nach einer Tasse Kaffee und zwei Butterbrötchen machte sich Fine ans Werk: Fenster aushebeln, Wände weißen, in deren Trockenphase die Fensterflügel schleifen, eben schaffen, was zu schaffen war an einem heißen Sommertag. Sie schwitzte, schnaufte und sang: Nicht schön, aber laut. Irgendwie aber fühlte sie sich beobachtet. Vom Schwesterhaus aus. War da wer an der Gardine? Sie schien sich hin und wieder zu bewegen oder war es nur ein Luftzug durch zerbrochenes Fensterglas? Ein bisschen mulmig war ihr schon, vielleicht sang sie deshalb so laut.
Als der Abend kam lief Fine wieder den Hang hinab, schwimmen und sich spüren. Gegenüber, am Nordufer, begann schon Mecklenburg-Vorpommern, hier war sie am nördlichsten Punkt der Brandenburger Uckermark. Sie wird all ihr Können hertragen, dann wird es auch gut gehen. „Bestimmt“, sprach sie sich Mut zu. Ein Angler winkte der Badenden vom Schilfgürtel zu, sie winkte zurück und kehrte um.

Im Briefkasten lag eine Kornblume. Fine stutzte, wer hatte die hier abgelegt? Sie spähte hinüber und der Spalt in der Gardine schloss sich indem augenblicklich, als fürchte jemand, entdeckt zu werden. Dort war wer, ganz gewiss. Fine wollte sich nicht fürchten und diesen schönen Tag mit Angst besetzen lassen. Kommt nicht infrage. Sie zog eine schützende Jacke über, griff sich das alte Luftgewehr von Onkel Willi und schlich im weiten Bogen geduckt durch die Wiesen, hinüber zur anderen Hügelkuppe. Wer oder was würde sie dort erwarten? Ganz gleich, die Schrotladung würde sie schützen: Sie kam an der Rückseite des Hauses an. Alles mutete wie ausgestorben, aber vor der Tür lagen ein paar frische Zigarettenkippen, die noch keinen Regen erlebt hatten. Jemand war hier. Fine linste vorsichtig durchs Fenster und sah erstaunt bis auf das Fenster auf der anderen Hausseite und davor hockte eine Gestalt. Ein Mann? Alt oder jung? Nicht auszumachen. Der Raum hatte nichts Wohnliches. Er war schlicht leer geräumt. Drinnen stand nur ein Stuhl, auf dem die Gestalt hockte und starrte. Zu ihr hinüber. Unverschämt, was der sich erlaubt? Fine war sauer, richtete sich stockgerade und fasste indem Mut, in das Haus zu schreien: „Was soll das? Hast du nichts Besseres zu tun, als mich zu belauern?“
Die Gestalt am Fenster zuckte zusammen und verkroch sich rasch in einem nicht einsehbaren Winkel. Fine sprang zur Hintertür, lief durch den Stall und ein paar Stufen hinauf zur Tür, die zur Küche führen musste. Sie wusste das, denn dieser Bau war der Zwilling zu ihrem. Kein Zweifel, sie griff nach der Klinke, riss die Tür auf und sah in zwei starre, tiefbraune Augen. Ein Finsterling, nicht alt, nicht jung – scheu und erschrocken.
„Ich wollte Ihnen nichts tun, Sie nur begrüßen, weil wir doch nun Nachbarn sind.“, stammelte er verlegen.
Er sah so durchsichtig und verlassen aus, dass es Fine barmte, aber sie dachte sich, schon wieder einer, der eher in die Klapse gehört. Scherbenkinder der Nachwendezeit – ein junger Alter, Mitte, Ende Fünfzig vielleicht.  Aber wie er da so stand, mit verlorenem Blick aus einem zugewachsenen Bartgesicht, senkte Fine das Luftgewehr und sagte nur: „Tach, ich bin Fine von gegenüber.“
Und er entgegnete mit einem ungelenken Diener: „Sehr erfreut, ich bin der Herr Sommer auch im Winter. War Buchhändler. Bin der Neffe von Lore.“
Sie lächelte: „Auch geerbt?“
Herr Sommer nickte.
„Und, für immer oder nur im Sommer hier?“
„Für immer. – Vielleicht“,  schob er etwas verzögert hinterher.
„Aha. Ich muss dann mal wieder, Sie haben ja sicher auch genug zu tun.“
Fine ließ den Blick schweifen, und er erklärte schnell: „Die Möbel kommen heute, ich ziehe auch eben erst ein.“
Fine nickte und lief eilig hinüber auf ihre Kuppe.

Gegen Mittag tuckerte wirklich ein kleiner Umzugslaster hinauf auf Erik Sommers Kuppe, aber Fine hatte kein Auge dafür, sie kämpfte mit einer klemmenden Dachluke und fluchte: „In meinem nächsten Leben, komm ich als Mann auf die Welt, bärenstärk und unwiderstehlich!“ Unter größter Kraftanstrengung hatte sie es endlich geschafft, die Luke zu öffnen. Nun saß sie auf dem Tritt für den Schornsteinfeger und schaute hinunter zum Dammsee. 
Auf dem Gewässer  waren unzählige Graugänse, Höckerschwäne, Blässrallen und Stockenten zu beobachten. Rechterhand wanderte ihr Blick über ein schier endloses Panorama einer sanft geschwungenen Offenlandschaft. Reich strukturiert von Hecken, Baumreihen, Söllen und Randstreifen – sichere Brutplätze im Vogelparadies unter dem großen, weiten Himmel.
Fines Augen lachten, sie konnte sich einfach nicht satt sehen an dieser landschaftlichen Pracht. Aber nun musterte sie das alte Reetdach. Oh, je, da ist vor dem Winter noch einiges auszubessern, dachte sie. Gott sei Dank, hatten Willi und Selma immer Schilfbunde unterm Dach gelagert. Für den Fall der Fälle, ein Sturm zerpflückt das Dach oder eben für Ausbesserungen.  Diese Vorsorge kam jetzt gut, denn die Preise für Reet waren inzwischen sündhaft angestiegen. Fine musste gut haushalten, wenn sie über die Winter- und Frühjahrsmonate kommen wollte, ohne irgendeinen Job annehmen zu müssen. Bis dahin wollte sie ihre kleine Touristenattraktion im Naturpark Uckermärkische Seen stehen haben: Eine Teestube, die zugleich Miniaturkunst ausstellt. Im alten Stall würde das sein.
Der war zugleich groß genug, hier Konzerte und Lesungen zu geben. Fürstenwerder ist nicht weit, und wenn es sich erst einmal herumgesprochen hat, dass hier ein interessantes Quartier zu finden ist, dann würden die Leute auch Wege auf sich nehmen, wusste die Frau. Es könnte klappen. Und schließlich gibt es ja noch die vielen Radler und Wanderer, die gerne den Dammsee umrunden und hier bei einem Glas Tee eine Pause einlegen könnten.
Vom alten Gut fuhr ein Jeep mit einer Staubfahne den Hang hinauf und hielt vor dem Haus. Ein Mann stieg flink aus und sah sich um: „Ist hier jemand?“
„Hier oben“, antwortete Fine auf dem Dach.
„Hallo, ich hab gehört, Sie haben Arbeit für mich? Zieren Sie sich nicht, ich kann alles, auch Reetdächer dichten. Gerne täglich zwei, drei Stunden bis September, dann geht’s wieder auf Montage.“
„Ja, fein, wollen Sie sich den Stall einmal ansehen? Da muss einfach erst einmal alles raus. Was brauchbar oder einfach schön ist, sollte gesäubert werden. Geht das, Herr?“
„Och, Entschuldigung, mein Name ist Schiller. Aber Sie können mich einfach Ben rufen. Sagen alle so.“ Der Mann wirkte klar und offen, einfach gestrickt, Fine sah sofort, dass eine handwerkliche Perle in ihr Projekt gesprungen war.
„Ja, und das Dach mache ich gleich“, setzte Ben nach und war schon nach oben unterwegs.

Es regnete schon den zweiten Augusttag. Fine hockte vor dem gewaltigen Bauernschrank und sortierte Selmas Sachen. Leinenhemden und Kleiderröcke, vieles zu schön zum Ausrangieren. Und diese Samtjacke, sie zog sie über und betrachtete sich im großen Standspiegel. Als sie sich umdrehte, um nach einem grünen Tuch zu greifen, starrte sie ein nasses Gesicht durch die Fensterscheiben an. Fine erschrak und schrie: „Mensch, Sommer, spinnst du?“ Sie riss entsetzt das Fenster auf und brüllte noch lauter: „Was gaffst du so krank?“
„Ich bin krank“, stöhnte Herr Sommer leichenbass, und sackte kaum später in sich zusammen.
„Mensch, Sommer, mach doch nicht so was!“ Fine rannte aus dem Haus zu dem Kauernden.
Sommer fieberte und stöhnte: „Ich hab mir den Fuß verletzt und wahrscheinlich nun eine Infektion drin.“
Fine zerrte den Mann in die Küche, warf ihm eine warme Decke um und telefonierte mit dem Rettungsdienst: „Ja, die Kuppen am Dammsee, mein Nachbar hat wahrscheinlich eine Sepsis, kommen sie schnell.“
Eine Viertelstunde später war Herr Sommer mit einem Krankentransporter verschwunden und Fine hatte versprochen, ihm ein paar Sachen nach Prenzlau nachzubringen. Sie eilte in einem Regencape auf den anderen Hang. Als die Frau in das Haus eintrat, erstarrte sie vor Schreck: Herr Sommer hatte nicht renoviert und auch nicht ausgepackt. Auf der uralten Kochmaschine standen ein Teekessel und eine kleine Eisenpfanne, davor ein Stuhl mit Blick zum Fenster und ein kleiner Tisch. Darauf ein Glas, ein Essteller und ein Besteck. In den anderen Räumen türmten sich Umzugskisten, ein schmaler Gang führte zu einem zerwühlten Schlafsofa. Sommers Nachtlager. Fine runzelte die Stirn und murmelte: „Herr Sommer ist offenbar noch nicht angekommen. Wie, verdammt, soll ich hier Wäsche und Handtücher finden? Aber sieh mal an, Herr Sommer ist ein ordentlicher. Alle Kisten sind beschriftet.“ Sie schaltete sich mehr Licht an und las, was auf den Kisten stand: Zuerst die Raumangabe – Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Bad, Arbeitszimmer, darunter minutiöse Inhaltsangaben. Aha, damit komme ich klar, dachte sie. Fine suchte, fand und packte schließlich Herrn Sommers Krankenhaustasche und brachte sie nach Prenzlau.
„Geben Sie mir Ihre Nummer, ich rufe Sie an, wenn der Mann wieder ansprechbar ist.“, meinte leise die Wachschwester auf der Intensivstation. „Offenbar, hat er ja sonst niemanden.“

„Hm, Herr Sommer ist also allein, da wäre ich ja gar nicht drauf gekommen“, blubberte Fine auf der Rückfahrt und schlug immer wieder mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Sie ärgerte sich über sich selbst. Hätte sie nicht bemerken müssen, dass mit dem Mann etwas nicht in Ordnung war? Hat sie ja, aber sie hatte keine Lust auf Psycho und nur ihre Renovierung im Kopf. Dabei war wohl die Kornblume im Kasten nur so eine Art schüchternes Gesellschaftsangebot.
Als Ben anderntags Fine suchte, fand er nur einen Zettel: „Bin auf der anderen Kuppe.“ Er staunte nicht schlecht, als er die Frau dort beim Malern antraf. „Was wird das?“
„Herr Sommer ist schwer krank. Ich will ihm wenigstens die Küche und die kleine Kammer nebenan zum Schlafen herrichten, den Rest muss er dann später selbst anpacken.“
„Das ist aber nobel“, fand Ben, „da spendiere ich dem kranken Herrn Sommer mal zwei Tage, wenn‘s recht ist.“
„Sehr recht“, erwiderte Fine und drückte ihm die Walze in die Hand, während sie nun Fenster und Türen strich.
Es waren gut zwei Wochen ins Land gegangen, als ein Krankentransport Herrn Sommer zur Mittagsstunde nach Hause brachte. Fine winkte ihm von weitem zu, sie sah, wie der Mann zögerte, die Hausschwelle zu übertreten. Als wenn er sich fürchtet, dachte Fine und machte sich auf den Weg zu ihm. Sie fand ihn stocksteif mit Tränen in den Augen vor: „Herr Sommer, um Himmels Willen, ich hoffe, ich habe Sie nicht verletzt? Wollte doch nur behilflich sein, weil Sie doch nicht konnten und jetzt gewiss immer noch zu schwach für körperliche Arbeit sind.“
Sommers Kinn zitterte und seine Lippen bebten, er stammelte voller Rührung: „Nein, nein, es ist wundervoll. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Wie kann ich das nur wieder gutmachen?“
„Müssen Sie nicht, fangen Sie einfach an zu leben, dann wird alles gut, glauben Sie mir.“
Sommer nickte. Fine hatte ihm ein paar frische Vorräte mitgebracht und lud ihn zum Grillen am Abend ein. Es würden die letzten milden Abende des Jahres sein.
Herr Sommer kam in der Dämmerung. Ben hatte gerade die Kammscheiben auf den Grillrost über dem offenen Feuer gelegt und Fine sortierte den Essplatz. Umwölkt, wie gewöhnlich, stand Sommer in der Landschaft, nur etwas war anders, er hatte ein Buch in der Hand: „Wenn Sie mögen, lese ich Ihnen eine Geschichte vor, ja?“
Ben und Fine waren überrascht: „Aber ja, das ist doch eine tolle Beigabe zu unserem Nachtmahl“, fand sie.
Herr Sommer setzte sich ans Feuer und begann. Er las und seine Stimme spielte dazu bald wie ein ganzes Orchester. Die unsichtbare Wolke über seinem Haupt war verschwunden. Herr Sommer leuchtete voller Lust und Energie. Seine Zuhörer hingen ihm an seinen sinnlichen Lippen, die eine verstrickte Liebgeschichte erzählten, die Geschichte einer einzigen Nacht. Der Vorleser nahm sie mit dorthin und ließ sie die Zeit vergessen, erst das brenzlige Röstfleisch holte die Drei ins Jetzt zurück. Sie saßen beieinander  und freuten sich. Das Feuer knisterte und Fine sagte in das stille Dunkel: „Na, mit so einem Vorleser in der Nachbarschaft wird der Winter nicht lang.“           
© Text & Zeichnungen: Petra Elsner

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Aus „Der Duft der warmen Zeit“, erschienen in der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk, bestellbar hier:

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Gedehnte Zeit oder die Arten des Wartens (Schluss)

… Ungeduldig lebt sie in der Zeit und meist in irgendeiner Erwartung. Als junge Frau glaubte Florentine stets und ständig, sie würde etwas verpassen. Abends Zuhause. Wie viele Nächte fuhr sie dann mit der S-Bahn zum Alexanderplatz ins Café Größenwahn, um dort bei einem Kännchen Mokka für 2 Mark bis zum Morgengrauen zu verweilen, erwartungsvoll, auf dass etwas geschehen könnte. Vielleicht käme ein Prinz vorbei, aber es waren nur die Kneipenclowns, die dort auftauchten und die ihrerseits auf ein Abenteuer lauerten. Irgendwann hatte sie es kapiert: Du selbst bist das Leben und die Aktion. Fortan brauchte sie die ausharrende Suche am seltsamen Ort nicht mehr. Die Zeit gehörte plötzlich ihr und indem verpasste sie gar nichts. Manchmal aber muss sie sich doch mit jemandem verabreden – für ein Gespräch, ein Geschäft, ein Wiedersehen. Und natürlich sind die wenigsten Besucher wirklich pünktlich, wie dieser, der gerade vor ihrem Haus einparkt. Die Wartezeit reichte Florentine genau für diese Kurzgeschichte. Nun setzt sie forsch den Schlusspunkt, denn sie will ja den Gast an der Hoftür nicht warten lassen.
© Petra Elsner

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