Die Raureifelfe

Ein Windhauch blies eiskalte Wassertropfen aus dem Nebelschwaden. Während sie ins dürre Gras fielen, wuchsen ihnen haarfeine Kristalle. Weiß und nadelspitz formten sie wie von Zauberhand die Raureifelfe. Ein paar Stunden würde sie in die Welt schauen und mit dem aufsteigenden Sonnenlicht wieder tauen. Die Zarte erschien nur sehr, sehr selten. Manche Jahre ließ sie sich überhaupt nicht blicken. Aber auch wenn die Elfe sich zeigte, konnte man sie nicht leicht entdecken. Das war nicht verwunderlich, denn schließlich war die winterkahle Landschaft mit verzauberndem Raureif überzogen. Es war ganz so, als wollte man einen Wassertropfen im Meer finden. Deshalb glaubten die Menschen, wenn sie etwas über die Raureifelfe hörten, dass sie nur im Märchen existierte. Das stimmte die Elfe traurig, denn sie hatte doch diese wunderfeine Magie zu verschenken. Wer sie mit den Augen berührte, dem reichte sie ihre Kronenperle, die ihr mit jedem Reifgewand neu wuchs. Diese lichte Perle enthielt die reinste Lebensenergie.
Im Haus am Waldrand hatte die ganze Nacht das Lampenlicht gebrannt. Lisa legte der Mutter kalte Wadenwickel an. Doch das Fieber wollte nicht sinken, und der alte Doktor schüttelte bei seinem Abendbesuch hilflos den Kopf als er raunte: „Es wird ein Wunder brauchen.“
Als sie der Mutter einen Schluck Wasser einflößte, sah die Kranke durch das Fenster den herrlichen Raureif im Morgen glitzern. Sie flüsterte: „Geh, du musst die Raureifelfe finden!“
Lisa zögerte nicht, zog sich warm an und lief vor das Haus. Aber wo nur sollte sie mit der Suche beginnen? Am Waldrand oder bei den Weiden am Bach? Sie könnte überall sein, und selbst vor ihrer Nase würde sie die Elfe wohl kaum entdecken. Schnell ging sie noch einmal ins Haus zurück, griff sich die große Leselupe und eilte hinaus. Weißer Eiswind verschleierte die Sicht. Aber dann brach das Sonnenlicht durch die Wolken und ließ den Frost funkeln. Jedes welke Blatt, jedes Ästchen war mit diesem Kristallzauber überzogen, dessen Schönheit ein Lächeln fordert. Und so besorgt Lisa auch war, inmitten dieser Glitzerwelt war sie beinahe heiter. Sie stand gar nicht weit vom Haus, inmitten der alten Streuobstwiese, und besah mit der Lupe genau die Kristallwerke an den Stängeln und trockenen Blütenständen. Lange, bis die Augen schmerzten. Als die Kraft der Sonne wuchs, begann die Kristallwelt zu tropfen. Bald regnete es unter den knorrigen Bäumen geradezu und Lisa verzagte: „Bitte, Raureifelfe, zeig dich mir! Ich brauche dich! Ich kann nicht auf den nächsten Reifzauber warten!“
„Warum nicht?“ säuselte es aus dem Unterholz am Wiesenrand.
Lisa drehte sich hektisch nach der Stimme und sah die Schöne, die sich im Schattenblau kühlte. Das Mädchen war hin- und hergerissen, denn es erkannte, die Raureifelfe würde sehr bald zu Tauwasser zerrinnen; das berührte sie mit einem Schrecken. Aber die Elfe sprach: „Du musst dich nicht fürchten. Das Leben heißt Kommen und Gehen. Jedes hat nur eine bestimmte Zeit. Du aber bist gekommen, um ein Leben zu verlängern. Für ein Weilchen soll es so sein, weil du mich gefunden hast.“ Die Raureifelfe nahm die Perle von ihrem Haupt und legte sie in Lisas Hand. „Geh‘ schnell, bevor sie schmilzt, und beträufele mit ihrem Wasser die Stirn der Kranken.“  Damit war die Elfe verschwunden, und das Mädchen trug den Hauch des Lebens nach Haus.

© Petra Elsner
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Der Dunkelgnom (1)

Öffenliches Schreiben an einer Kurzgeschichte. Heute der Absatz 1:

Die Finsternis war ihr auf der Spur. Die Frau im Kapuzencape lief schnell, denn sie fühlte schon ihren kalten Atem. Das Winterlicht hing tief in den Bäumen und in den Kuscheln knackte und raschelte es, als würde jemand Tannengrün brechen. Der Wald roch erdig. Kein Mensch war in dieser triefenden Nässe zu sehen und das wollte Emma Niesel auch so, allein und ungesehen sein. Vor einer Weggabelung zog sie die Kapuze tiefer in das blasse Gesicht, da fiel ihr plötzlich eine kopflose Taube vor die Füße. Ihr Atem stockte. Keinen Schritt weit entfernt lag der weiße Vogel. Etwas wehte über sie hinweg. Kein Wind, es war der Flügelschlag eines Habichts, der den Weg überflog. Instinktiv zog Emma Niesel den Kopf ein. Das Tier landete in einer Eiche und lauerte dort auf einen Moment, sich die verlorene Beute wiederzuholen. Die Frau zögerte weiter zu gehen, denn der tote Vogel schien ihr ein schlechtes Omen für ihren heimlichen Weg zu sein. Eine Botschaft? Beklommen stieg sie über den Vogel. Irgendwo kicherte es aus dem Unterholz…

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EIN KLEID GANZ AUS SCHNEE

Kleiner Zwischenruf aus meiner Blog-Pause, weil dieses Buch so verzaubernd ist und ihm leider die Leipziger Buchmesse fehlt – diese Empfehlung:

Ein Kleid, ganz aus Schnee

Märchenhafte Geschichten von Ingrid Annel     

Was für eine wundervolle Idee, alte Märchen einfach weiter zu erzählen. Da entdeckt ein Hase in einem alten Märchenbuch den peinlichen Wettkampf eines Artgenossen, der vor Zeiten von einem Igelpärchen gelinkt wurde. Was für ein Skandal! Deshalb fordert nun auch Hase Hubert das benachbarte Igelpaar zu einem ehrenrettenden Wettkampf hinaus und: scheitert. Gold- und Pechmarie verwandeln sich ins Gegenteil und die sieben Zwerge haben uns doch glatt den achten und neunten Zwerg verschwiegen.
Autorin Ingrid Annel schreibt ganz in der Tradition der großen Märchenerzähler und entstaubt dafür alte Legenden. Ihre Geschichten beginnen dort, wo die Hausmärchen der Gebrüder Grimm mit ungewissem Ausgang in „Der goldene Schlüssel“ enden. Sie macht daraus drei Schlüssel und schickt mit diesen drei Brüder auf den Weg, die passende Tür zum Glück zu finden. Dabei verrät sie ganz beiläufig, dass das Glück für jeden anders aussieht. Wie wahr und erzählt wird nicht nur in „Drei Schlüssel zum Glück“ vollkommen ohne erhobenen Zeigefinger.

Ingrid Annel pflegt einen klaren, ganz schnörkellosen Erzählstil, überrascht mit witzigen Pointen und unerwarteten Wendungen. Nicht immer führen ihre Geschichten in ein Happy End. Dort, wo es die Helden gierig umtreibt, landen sie im auch schon einmal in einem Desaster. So wie beispielsweise in „Das Gold vom Himmel herunter“, in dem ein TV-Bericht von einem Mädchen berichtet, dass wirklich alles verschenkte und dafür Taler von den Sternen bekam. Alle, die diese Sendung sahen, versuchten es dem Sterntalerkind gleich zu tun, sie verschenkten, was sie besaßen. Und die Sterne? Sie wunderten sich nur über die vielen Nackten dort unten auf der nächtlichen Waldlichtung.
Wunschträume enden nicht selten in Schall und Rauch. In der titelgebenden Geschichte wünscht sich eine afrikanische Prinzessin „Ein Kleid, ganz aus Schnee“. Niemand kann es ihr bringen, kein Prinz, kein Edelmann. Aber mit der Hilfe eines klugen Kochs findet sie zu ihm, für einen Lebensmoment. In „Irmelind und die sieben Zwerge“ schafft die Autorin aus einem Märchen-Cocktail einen ganz abenteuerlichen Plot, der Zwerge in sondersame Liebhaber verwandelt, nur damit die junge Frau ihren Prinzen bekommen kann. Insgesamt hat Ingrid Annel mit diesem zauberhaften Buch eine herzerfrischende Märchenlektüre geschaffen, die ich hier gerne weiterempfehle.

Petra Elsner

„Ein Kleid, ganz aus Schnee“ von Ingrid Annel, erschienen 2019 im Verlag TASTEN & TYPEN, Bad Tabarz, Hardcover mit Umschlag, 240 Seiten. Preis: 19,80 Euro, ISBN 978-3-945605-39-4

 

 

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Morgenstunde (80. Blog-Notat)

Aber auf der schwebenden Grasnelken-Wiese ist’s schön.

Die Endphase zu einem neuen Buch gestaltet sich gerade wie ein Ping-Pong-Spiel. Man schlägt einen Ball auf und das Teil kommt immer wieder mit Höchstgeschwindigkeit und neuen Aufgaben zurück. Der Grund: Die Neuherausgabe meiner Schorfheidemärchen (die 2009 zuerst bei Schibri erschienen) brach zu neuen Ufern auf. Der Schwedter Verlag machte daraus eine Sammlung fast all meiner Märchen. Jetzt sind es 30 Stück und natürlich braucht es dafür eine neue geistige Klammer auf dem Buchrücken. bzw. im Klappentext. Der war heute Morgen zu texten und jetzt hoffe und wünsche ich, dass als nächstes nur noch die Autorenkorrektur anfällt und wenig später die Bücherkisten eintreffen. Denn es beginnt zu nerven. Im Januar hatte ich damit schon abgeschlossen… Nun denn, der Text ist in Sack und Tüten und ich verdufte eben mal in den Garten, denn vorgestern hatten wir  eine Trauung am Döllnsee zu fotografieren. Rund 1000 Bilder entstanden, die ich gestern alle noch ansehen und aussortieren durfte, 817 Bilder blieben übrig und warten jetzt im Stick auf das junge Paar… Der Liebste hat inzwischen neuen Honig in Gläsern, die nach Etiketten rufen – das Leben brüllt zurzeit mal wieder von allen Seiten… 🙂

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