Morgenstunde (573. Blog-Notat)

Zum Wochenende gibt es hier einfach mal wieder eine Leseprobe aus meinem Roman-Projekt „Die Zeit der weißen Wälder“.

… Bei solchen Gedanken stellte sich Emilia vor, das Kunst zu schaffen, ein Schöpfungsakt sei, der beseelt. Nicht nur das Werk, auch den Künstler. Sie öffnete eine Schachtel nach der anderen und fühlte den Stich im Herzen. Sie, die Mutter, war ihr der wichtigste Mensch gewesen. Nicht wegen der sogenannten Mutterliebe, sie war die Einzige, die sie präzise verstand. Sie hätte auch ihre Reichenbacher Strukturzeichnungen verstanden. Die mäandernden Lebenslinien im Stein, den Versuch den Schimmer von Zeit einzufangen. Jetzt war es Emilia, als kämen aus der Stille der Kisten flüsternde Worte: „Schau‘ genau hin, das sind wir.“

Sie nahm einen Stoß dieser Kisten mit hinüber ins Haus. Dort legte sie die Zeichnungen aus. Ein Bilderteppich wuchs, der alles überzog. Emilia hockte mit einer Tasse heißer Schokolade inmitten dieser Fülle. Tränen stiegen in ihr auf und ihre Atmung zitterte. Sie hatte sich damals keine Auszeit für eine Trauer gestattet, wollte einfach weiter funktionieren, den Ansprüchen gerecht werden. Damit ihr das möglich wurde, hatte sie sich emotional gepanzert und diese glatte Emilia-Wohnwelt geschaffen. Berührungslos, bedeutungslos. Jetzt platzte mit jedem Blick diese Schutzhülle auf.  Splitter aus Schmerz. Eingehüllt in die mütterliche Stimme, die aus jeder Linie aufstieg, saß sie da, sanftmütig, verletzlich und versunken. Tagelang? Sie spürte die Zeit nicht mehr. Sie aß nicht, trank nur diese Kakaomilch, schlief inmitten des Bilder-Caos‘, erschöpft vom Schauen und Erinnern auf dem Boden, nur in eine Decke gehüllt.

Es klingelte. Wenig später klopfte es an die Terrassentür. Herzog griff nach der Klinke und stand plötzlich in dieser überbordenden Bilderwelt. Seine Stadtplanerin blickte ihn aus verquollenen Augen an. Irgendwie entrückt, vernachlässigt. Der mächtige Zweimetermann sah, dass hier kein Platz war für ihn und sein Anliegen. „Wollen wir ein paar Schritte gehen?“ Emilia Bach schüttelte ihren Kopf, „Ich habe Ihnen nichts zu sagen, und ich will auch nicht mit Ihnen durch die Heide spazieren.“ Er nickte und ging langsam hinaus, die Dorfstraße hinunter bis zur Brücke über das Döllnfließ. Herzog lehnte sich auf das blaue Geländer und sah dem Lauf des Wassers zu. Den hatte er auch schon spritziger gesehen. In der Hitze der letzten Sommer war aus dem Fließ in dünnes Rinnsal geworden.  Zeichen der Dürre, dachte der Mann, der im Frühling gerne mit der Naturwacht durch die Schorfheide wanderte. Fremde Augen beobachteten sein Ungeschick. Er spürte die fragenden Blicke hinter den Gardinen in seinem Rücken. Jemanden ungebeten zu besuchen, war ein unerwünschtes Eindringen. Er hätte sich ankündigen müssen. Aber konnte er ahnen, in welchem Zustand sich diese Kollegin befand? Und warum jetzt, fragte sich Herzog, warum hatte sie jetzt die Trauer geweckt? Nach so vielen Jahren? Er verstand es nicht und auch nicht den Rückzug der Bach in diese entlegene Gegend. Ja, sie hatte dieses Mutterhaus geerbt und gewiss war es schlau, es nicht gleich zu verkaufen. Häuser sind in diesen Zeiten wachsende Bankkonten und sie werden mit der globalen Völkerwanderung immer wertvoller. Aber muss sich die Frau gleich in dieser Einöde vergraben und sich den Jahreszeiten aussetzen? Das Leben in den Städten war doch viel smarter. Was war los mit dieser Emilia Bach. Sinnkrise? Sich ärgerlich gedacht, stieg der Mann in seinen schwarzen BMW und fuhr unverrichteter Dinge davon. So etwas war er nicht gewohnt, er würde ihr schreiben müssen…“

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