Morgenstunde (957. Blog-Notat)

Die Ferienzeiten mit den beiden Großcousinen Tine und Rosel unter der Linde des Modelhofes in Oberreichenbach waren für mich immer das Schönste im Jahr. Es war noch nicht lange her, dass sich nach dem II. Weltkrieg hier alle Vertriebenen unserer Familie trafen, etwas blieben, bis sie wussten, wo es nun hingehen würde. Überall ungelitten, die Flüchtlinge aus Schlesien und Böhmen. Auch die Kinder bekamen das zu spüren, man gehörte nicht dazu – eine emotionale Ausgrenzung. Die Stimmung dort war in den 50er und 60er Jahren stets angeknackst, vor allem weil die alte Schwester Alma, die den Hof über den Krieg bewirtschaftet hatte aus dem Elternhaus gedrängt wurden. Vom ältesten Sohn Paul und seiner aus dem Feld mitgebrachten taffen Rot-Kreuz-Hilde. Sie war gewissermaßen sofort in Rundumverteidigung, das bisschen Besitz zu wahren und zu mehren. Aber dort unter der Linde und im Katen meiner Großmutter an der Bache war das verspielte Leben für uns Drei schön. Oben am Hang lebte Uli, meine allerdickste Freundin. Zu viert waren wir wie ein Sommerglückskleeblatt. Hier, in der Oberlausitz war/ist meine gefühlte Wurzel. Denn wohin meine Eltern auch gingen, nach Wildau, dann Zeuthen, waren wir auch die Flüchtlinge, die Zugezogenen. Ganz gleich, dass wir Deutsche waren, wir waren die Fremden. Blieben außerhalb. Lange her und immer noch so.
Gestern machten Rosel und ihr Mann Manfred eine Reisepause bei uns. Wir hatten uns ewig nicht gesehen und doch war da sofort diese unverstellte Herzlichkeit, wie sie nur Kinder haben. Zwei Stunden Gedankenstrudel. Wer, wo, was. Sie kamen von einer Beerdigung in Mecklenburg, wohin es den geschiedenen Schwager, den anderen Manfred getrieben hatte. Ein Wendezerwürfnis mit schweren Folgen. Er war damals Chef der LPG in Oberreichenbach und hatte naiv mit einem Holländer verhandelt und so beiläufig und ohne Wissen und Mitsprache seiner Belegschaft den Betrieb verhökert. Tine, die dort auch arbeitete, hat das ihrem Manfred nie verziehen und ihn vom Hof verjagt.  Sie wurde vom Holländer wegsaniert. Dieser andere Manfred war nun mit 75 Jahren vernachlässigt gestorben. Keiner hat je in diesen Jahren seine Wohnung betreten dürfen. Wenn es was zu feiern gab, war das stets nie in seinen vier Wänden. Ausgestoßen zu sein ist wie ein niederdrückendes Schwert. Schrecklich. Das erzählten wir uns gestern an unserem Tisch, wo ich erst von seinem Tod erfuhr. Meine Güte, ein kalter Atem…

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Morgenstunde (536. Blog-Notat)

Es ist eine merkwürdige Woche. Der Muskelkater will nicht gehen und die Gedanken sind besorgt, dass uns herbstwärts das Leben weiter verhagelt wird. Die MP-Konferenz von gestern lässt ahnen, dass dieses Durchregieren ein Dauerzustand bleibt. Ein Schlafwagen parkt im Kanzleramt. Was ist nur aus uns geworden? Das Land braucht Energie für einen ungekannten Aufbruch. Der Inhalt des Wortes Ressourcen muss vollkommen neu definiert werden. Es braucht Denkfreude, Erfindergeist, einen mutigen Wandel, Empathie und Achtsamkeit. Die Welt hat Fieber… All das liegt mir dieser Tage auf der Seele…

Ich spendiere hier mal lieber einen weiteren Ausschnitt aus meinem aktuellen Romanprojekt, dem ich den Titel „Die Zeit der weißen Wälder“ gab:

… Am anderen Morgen klopfte der Puppenspieler an ihre Tür. Er lächelte geheimnisvoll. Zu ihrer Überraschung trug er heute eine rot-lila schillernde Jacke mit großen aufgesteppten Taschen und weite weiß-schwarze Streifenhosen. Der Mittfünfziger sah in ihr verwundertes Gesicht, drückte ihr wortlos eine Tüte mit belegten Brötchen in die Hände und schlängelte sich an ihr vorbei. Aus seinen großen Jackentaschen holte er eine Thermoskanne, einen Salzstreuer und zwei schöne Glasbecher. Emilia stand noch wie angewurzelt in der Tür und dachte, was für eine Verwandlung. Erst seine galante Handgeste holte sie an den Tisch. Hans, der Täuscher goss Kaffee ein und streute eine Prise Salz darüber. „Das nimmt das Bittere aus dem Kaffee,“ erklärte er und legte ein Gruppenbild zwischen die Becher.  „Es ist ein Foto von einem Treffen des Arbeiter- Turn- und Sportbundes zu Zeiten der Weimarer Republik. Und sieh mal, hier unten hocken Fredi und Harry, unsere Urgroßväter. Sie waren damals einfache Arbeiter in einer der Reichenbacher Druckglashütten. Die Eltern der jungen Männer verlangten, dass sie nach ihren Wanderjahren ihre Flausen vom Künstlerdasein sausen ließen, um endlich etwas Anständiges zu machen. So denken ja leider die meisten Leute auch heute noch. Die Familien stammten aus Nordböhmen und die jungen Männer waren im 1. Weltkriegs in eine Wiener Munitionsfabrik zum Arbeiten eingezogen worden. Als dort eine der Arbeitsbaracken explodierte, sind sie auf und davon und nach Budapest gelaufen. Es waren Hungerjahre und es hieß, in Budapest gäbe es Weißbrot. Das war ihr Antrieb. Der Fredi lernte unterwegs von einem Wandergesellen die Grundbegriffe der Ölmalerei und mehrere Musikinstrumente spielen. Harry eignete sich das Puppenspiel an, schrieb Stücke und schnitzte seine Figuren. Die beiden waren einfach unglaublich im Zusammenspiel, dass sie in den 20er Jahren in ihre knappe Freizeit verlegten mussten. Stattdessen fertigten sie nun sechs Tage in der Woche Schliffperlen für Kronleuchter. Oder sie schliffen Linsen, Signalgläser, Knöpfe, Fahrradstreuscheiben und technische Gläser.  Über die Glashütte fanden sie zum Turnen. Doch diese sozialdemokratische Sport-Bewegung wurde 1933 nach der Machtübernahme der Nazis verboten. Dieses Foto aber hat die Männer 1945 vor der Kriegsgefangenschaft bewahrt und ihnen vielleicht sogar das Leben gerettet, damals, zu Kriegsende als die Russen über die Neiße kamen. Sie konnten damit beweisen: Sozi, nicht Nazi.“
Emilia schwieg nachdenklich. In Gedanken war sie plötzlich in Fredis Laube am Sportplatz. Ein wackliges Lattenhäuschen auf schwerem, schwarzem Boden. Sie war mit ihrer Mutter für eine Ferienzeit Ende der 70er Jahre dort untergekommen. Es regnete ununterbrochen. Alles in der wackligen Bude war längst klamm, aber in Fredis Glaskiste funkelte das Licht. Es war Bruchglas oder Fehlschliffstücke, mit denen sie spielen durfte. In dieser Kiste lag der Baustoff für ein Traumzauberland. Schillernd und prächtig, ganz anders als das Grau, dass die kleine Stadt unweit des Rotsteins damals überzog. Als gäbe es gegen den Staub der Zeit keine Farbe. Ja, sie kannte den Urgroßvater noch. Er erfand für sie Geschichten von Zwergen und Räubern. Uralt sah er beim Mittagsschlaf auf dem Sofa neben ihr aus, dass es sie manchmal gruselte, er könnte nicht mehr aufwachen. Alt nicht von den Jahren, sondern verbraucht vom Leben. Eines schönen Sommertages ging er mit der Zeitung hinaus aufs Klo im Hof und kam nicht wieder. Vom Schlag getroffen. Damals hat man die Alten noch human sterben lassen, dachte Emilia. Nicht erst nach etlichen Reanimationen, nach denen das Überleben eines Hochbetagten meist kein gutes Leben mehr war. Fredi lebte 84 Jahre lang und wurde von seinem sanften böhmischen Humor getragen. Emilias Mutter hatte seine Staffelei, den Koffer mit den Ölfarben und seine Fantasie geerbt. Die Übergabe glich einer Initialisierung, denn die Mutter wurde zur malenden Geschichtenerzählerin. Als sie starb, nahm Emilia das mütterliche Skizzenbuch an sich und zeichnete darin weiter. Häuser, Stadtquartiere. Sie brauchte etwas Handfestes, etwas Relevantes, dass nicht von Stimmungen anderer abhängig war. Und doch spürte sie diffus das innere Familienband, das sie verweigert hatte. Die künstlerischen Talente der Ahnen – sie sind die Verbindung.

Der Puppenspieler sprach in ihre Gedanken: „Du starrst noch ein Loch in das Foto.“
„Entschuldige.“ Emilia legte das Gruppenbild zurück auf den Tisch und murmelte: „Was ein Erinnerungsbild so alles auslösen kann. Sogar Leben retten. Erstaunlich. Dahinter zerbröselt die Zeit, wird fremd, verfälscht. Die Wahrheit verliert sich auf kurz oder lang im Meinungsnebel.“
„Oh, ich mag Menschen, die nachdenklich Philosophieren.“
„Die meisten nennen es eher kopflastige Schwermut.“ Sie sah auf den verkleideten Mann und zog flüchtig an seinem schillernden Jackenärmel: „Ist das der echte Täuscher oder verkleidet sich der Puppenspieler nur streng?“
„Das wirst du allein herausfinden müssen.“ Er lächelte gespielt, steckte das Foto ein und fragte: „Wonach suchst du hier?“
Sie sah ihn offen an und zögerte doch einen Moment. Dann flüsterte sie fast: „Ich suche nach der Verbindung.“ …

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