… Wallo war die Nachtkühle nicht gewohnt. Er schlotterte ganz erbärmlich und klinkte alsbald sehr verzweifelt an den Haustüren auf seinem Weg. Doch alle waren verschlossen. Wallo seufzte vor sich hin: „Ojeoje. Was soll nur werden?“
In jedem der Hauseingänge standen blaue Plastiksäcke, über einen stolperte versehentlich der mutlose Geist. Er stürzte, und wickelte sich im Fallen zu einer Kugel auf. Dann saß er. Sein Ende wedelte noch, und sein Anfang stülpte sich aus dem rußschwarzen Rund und sah dann verdutzt auf. Der Plastiksack war beim Umfallen gerissen, aus ihm quollen Kleidungsstücke heraus. Wallo entrollte sich und schlängelte neugierig zurück. Er durchwühlte den Kleiderhaufen und fand ein großkariertes Hemd, das ihm passte, und eine Schiebermütze. Er schlüpfte in das Hemd, teilte von seinem Lichtschweif zwei Strahlen ab und schob sie in die Ärmel. Er sah jetzt beinahe wie ein Mensch aus, der ganz sicher auf einem Bein durch die Gegend springen konnte. Doch Wallo war es ziemlich egal, wie er ausschaute. Ihm war, als friere er nun nicht mehr ganz so sehr, nur das allein zählte.
Eine Straßenecke weiter kam Wallo auf eine breite Allee. In deren Mitte wuchsen mächtige Linden. Wallo war froh bei diesem Anblick. Vielleicht würde ihn eine der vielen Baumseelen aufnehmen, wenigsten für diese schreckliche Nacht.
Was Wallo nicht wusste, dass es keine gute Zeit war, um an diese für Menschen unsichtbaren Baumpforten zu klopfen. Ahnungslos pochte er leise an die erste Linde. Darin hörte er nur ein jammervolles Wimmern, niemand öffnete ihm. „Kann ich helfen?“, fragte Wallo warmherzig durch das Holz. Doch er erhielt keine Antwort.
An den zweiten Baum klopfte er schon etwas kräftiger. Durch ein Astloch fuhr eine hektische, violette Lindenseele, die ähnlich einem Zitteraal zappelte und Wallo schrill anfuhr: „Äh. Was willst du um diese Stunde? Hast du wenigstens eine Tüte mit?“
„Was für eine Tüte?“, fragte Wallo irritiert.
Die Zitterseele verdrehte genervt die Glubschaugen: „Na, eine Plastiktüte voll Smog. So eine Portion wundervollen Automief, es können Diesel- oder Benzingase sein. Kapiert? Ganz gleich was, um diese Stunde schnüffeln wir alles.“
„Wozu brauchst du die Tütengase?“, will Wallo erstaunt wissen.
„Na, du bist mir vielleicht eine Landbaumseele. Von nichts ’ne Ahnung! Du bist hier in der Schnüffelallee. Hier ist der Smog tagsüber so herrlich dick, dass man echt abheben kann. Aber nachts, da ist kein Stau, kaum wer unterwegs. Doch wenn keine Autos fahren, geht es uns hier wirklich scheußlich. Richtig mies sind wir dann alle drauf. Da klopft man nicht ohne ’ne mitgebrachte Tüte an, um sich an unserem Elend zu weiden. Hast du nicht doch was dabei?“
„Nein“, antwortete Wallo verlegen. „Und ich will mich an gar niemandem weiden, mir ist heute Nacht mein Baum abgebrannt. Da wollte ich fragen …?“
„Äh, ein Obdachloser. Mach, dass du weiterkommst, du Penner! Solche wie dich können wir hier nicht gebrauchen. Los, los, glotz nicht so blöd und verzieh dich!“, krächzte verächtlich die violette Schnüffelseele, zog ihren Birnenkopf zurück in den Baum und verschloss das Astloch mit einer knautschigen Bierbüchse.
Wallo stand völlig verdattert und verlassen in der Nacht. Obdachloser, Penner, schnüffelnde Baumseelen, all das kannte er nicht und wusste nicht recht damit umzugehen. Aber wenn das eine Schnüffelallee ist, dann brauchte er es hier wohl nicht weiter zu versuchen.
Er machte sich Hoffnung: Vielleicht finden sich ja in den weniger befahrenen Nebenstraßen noch gesunde, freundliche Baumseelen. Wallo zog erschöpft, doch unbeirrt weiter.
Es sollte eine sehr lange Nachtwanderung werden. In den meisten Straßenfluchten, in die er hineinsah, wohnten keine Bäume, oder sie waren noch so jung und zart, dass die Seelchen darin keinen Platz für einen ausgewachsenen Artgenossen gehabt hätten. Zwecklos, es trotzdem zu versuchen.
Wallo irrte schließlich ratlos umher. Keinen Sprung weit konnte er mehr hüpfen, er kroch nur noch flach über das Gehwegpflaster, als ein lautes Brummen die Stille zerriss. Ein Müllauto kurvte um die Ecke, bremste, dann tuckerte und ächzte es im Stehen. Zwei Männer sprangen vom Wagen und entleerten Abfallcontainer, die gegenüber an einer Häuserwand standen.
Als wieder Ruhe eingekehrt war, schlich Wallo aus der Dunkelheit hinüber, sprang in eines der klobigen Gefäße und zog den Deckel zu. Es störte ihn kein bisschen mehr, dass es darin gar fürchterlich stank. Der obdachlose Grüngeist war so erschöpft, dass er sofort einschlief. Morgen, morgen würde alles wieder in Ordnung kommen. Es ist die Hoffnung, die den bekümmerten Wesen einen friedlichen Schlaf schenkt …
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