Der Hasenräuber – ein Schorfheidemärchen

Schorfheidemärchen
Der Hasenräuber
Zeichnung: Petra Elsner

Feiner Nieselregen fiel auf den Nachtschatten, der durch den Wiesenhain am Koppelberg huschte. Aus dem Dorfkrug bei den Eichen drangen die trunkenen Stimmen des Heideläufers und seiner gedungenen Jagdknechte. Derbe Gesellen, die aufpassten, dass keiner unerlaubt den Wald betrat oder gar wilderte. Heute würden sie ihm nicht folgen, trotzdem schlich Gustav auf leisen Sohlen und mit lauschenden Ohren. Die Kröten quakten in den Hügeln und die milde Nacht atmete raschelnde Geräusche. Gustav kannte die nächtlichen Täuschungen, dennoch schien es ihm, sein Herz klopfte noch lauter. Tief hängende Zweige formten gespenstische Gestalten und Gesichter, ob vielleicht doch ein Jagdknecht auf der Lauer lag? Seine Augen bohrten Löcher in das Dunkel, als endlich die Wolkendecke aufriss, und der Mond sein Licht auf einen Hirsch auf der Waldweide warf.

Der geduckte Mann staunte das erhabene Tier an. Nein, er würde es nicht wagen, ihm nachzustellen. Diese Jagd gehörte dem Fürsten mit seiner Steinschlagflinte. Gustav war kein hemmungsloser Wilderer, der auch vor Menschenmord nicht zurückschreckte. Er suchte keine Trophäen, sondern legte Schlingen, um damit ab und zu einen Hasen zu fangen. Das empfand der Landmann als gerecht, waren es doch die Tiere dieses Waldes, die letzten Sommer seine Feldfrüchte fraßen, weshalb die Not auf seinen Hof kroch. Doch wen sie beim Wildern erwischten – gleich ob Hirsch oder Hase, den quälten die Häscher gar fürchterlich. Gustav  musste also unentdeckt bleiben.

Dort vorne, in dem Dunkelbusch, hatte er gestern seine Schlinge ausgelegt, aber was war das? Ein Knacken wie von einem Schritt. Gustav duckte sich tiefer und wartete. Ein Zündholz flammte auf und beschien ein fahles Gesicht. Nein, das war kein menschliches Antlitz. Gustav traute seinen Augen kaum, ein grauer Nachtelf zündete sich eine Pfeife an, schmauchte und blickte plötzlich zielgenau zu ihm. „Komm her, du Hasenräuber, du hast Beute.“ Sprach er und verschwand.

Dem Mann war es nicht wohl. Er starrte um sich herum, sah aber nichts als die Schwärze der Nacht. So ging er einen Schritt auf den Busch zu, als neben ihm wieder die Pfeife erglimmte und das Elfgesicht schmunzelte. „Schenkst du mir Deinen Hasen?“

Gustav stand unschlüssig, seine Knie schlotterten, während die Graugestalt wieder vollständig aufgetaucht war. „Ich schenke dir auch dieses wundersame Pfeifchen“, setzte der Elf nach.

Gustav schüttelte seinen Kopf: „Meinst du der Tabak macht satt wie mein Hase?“

„Was heißt hier ‚mein Hase’?“ zische der Elf. „Also gut, wir teilen uns den Fang, ich weiß, wie Hunger schmerzt“, murmelte Gustav, zerlegte den Hasen und gab die Hälfte dem Grauelf. Der dankte, legte die Pfeife samt einem Tabakbeutel in die Hand des Hasenfängers, zündete sich eine andere Pfeife an und damit verschluckte ihn der Wald. Gustav stand und wunderte sich, dann packte er sein Zeug zusammen und wollte gerade aufbrechen, als es abermals ganz in der Nähe knackte. Aber diesmal erkannte Gustav den Heideläufer mit seinen Knechten. Sie kamen von allen Seiten auf ihn zu. Einer knallte mit der Peitsche, der nächste zückte einen Dolch, der dritte durchstocherte mit einer Lanze die Luft. Gustav war starr vor Schreck, so hatten die Fänger ein leichtes Spiel. Übermächtig schlugen sie auf den harmlosen Wilderer ein. Als der nicht mehr zuckte, luden sie ihn auf eine Karre, machten ein Feuer und brieten sich den halben Hasen. Gustav stöhnte leise, Blut lief ihm von den Schläfen und sein Rücken schmerzte ganz fürchterlich. Er fingerte in seinen Hosentaschen nach einem Tuch und ertastete dabei die warme Pfeife. Sie glimmte offenbar noch. Sollte er es versuchten? Warum nicht. Er zog an ihr und sah im flackernden Licht, wie er sich langsam auflöste. Schmerzgekrümmt kroch der Mann ungesehen vom Karren in die schützende Dunkelheit und ward von seinen Häschern nie mehr gesehen. Immer wenn aus Gustavs Haus ein feiner Hasenbratenduft aufstieg, stürmten sie seinen Hof, dort aber fanden sie stets nur einen Schwaden von einer Tabakpfeife vor.

(Aus meinem Buch „Schattengeschichten aus dem Wanderland“ – Schorfheidemärchen, erschienen 2010 im Schibri-Verlag ).

Neu erschienen: 2018 bei der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk in Schwedt an der Oder als Märchensammlung (30 Texte) unter dem Titel „Die Gabe der Nebelfee“

Spende? Gerne!
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Dellwog und der Flößer

Flussgott Dellwog Zeichnung: Petra Elsner
Flussgott Dellwog
Zeichnung: Petra Elsner

Es war spät. Für einen Moment schien der Regen nachzulassen, blaue Schatten legten sich über Wald und See.  Dort schwammen Heinrichs Stämme. Morgen würden sie als Trift auf Flussfahrt gehen. Im Reisestall für Pferde und Kutschen schliefen schon die Knechte, und auch der Flößer Heinrich wollte hier ein Strohlager finden. Aber jetzt brauchte er zunächst etwas Warmes. In der kleinen Gaststube brodelte noch Kaffeewasser, und die Viehhändler und Holzaufkäufer würfelten um die besten Schlafplätze. Heinrich ging zur Feuerstelle und rieb sich die klammen Hände. Aus der Ecke neben dem Tresen lugte eine seltsame Gestalt ins Kerzenlicht. Die Wirtin reichte Heinrich wortlos einen dampfenden Becher, deutete zu dem Schattenriss in dem Winkel und flüsterte dem Flößer zu „ein Kaffeeriecher, ein Schnüffler des Fürsten.“

Heinrich wandte sich ungerührt den Spielenden zu und schlürfte den geschmuggelten Kaffee. „Will er morgen flößen?“, fragte ihn einer der Viehhändler. Heinrich nickte.

„Das wird wohl nichts werden“, raunte die Runde. „Wieso nicht?“, stutzte der Fröstelnde.

„Weil das Schleusenschütz klemmt“, murrte die Wirtin. „Wir werden hier noch alle absaufen, wenn die Pegel weiter im Regen steigen.“

„Es klemmt nicht, ein mächtiges Ungetüm hängt dran!“ knurrte einer der Viehhändler. „Wie eine quallige Saugglocke belagert es das Schütz und spritzt grüne Säure, wenn man nach ihm sticht.“

Heinrich wurde unruhig: „Seit wann hockt es da? Und gibt es gar keinen Weg, es zu vertreiben?“

Die Männer zuckten mit den Schultern, nur die Gestalt im Treseneck murmelte aus dem Dunkel: „Seit Urzeiten wandelt zwischen den Seen und den sumpfigen Niederungen der Schorfheide ein kleiner, launischer Flussgott umher. Er entsprang eben diesem See als Döllnfließ, dem, wenn man es befahren wollte, eine Locke zu opfern war. Dieser längst vergessene Wasserfürst heißt Dellwog. Wenn er wütend ist, verwandelt er sich in eine glibberige Riesenqualle, die alles aufsaugt, was sich ihr in den Weg stellt, aber ansonsten schwimmt er als bunt geschuppte Gestalt friedfertig mit den Wellen. Doch man hat dem Dellwog die Flanken beschnitten, seine Windungen begradigt, damit die Flößer das Holz schadlos aus dem Wald hinaus bringen können. Und nun stöhnt und wütet er vor Schmerz.“

Oh je, dachte Heinrich. Gewiss, das Döllnfließ war keine leicht zu beflößende Gasse, aber dass ein Flussgott dieses grün-blaue Band durch das Land zieht, wusste er nicht. Wie sollten nun seine Stämme rechtzeitig zu dem Hamburger Schiffbauer gelangen, wenn Dellwog sich nicht besänftigen ließe? Noch als alle Gäste des Krugs fest schliefen, starrte Heinrich ins Kaminfeuer und dachte nach.

Im Morgengrauen regnete es wieder Blasen und Heinrichs Stämme drohten über die Schleuse zu stürzen. Der Flößer sah, wie der strömende Regen alles an Land mit sich spülte und dabei kam er auf eine Idee: Der Mann schöpfte sich eine Handvoll Regenwasser aus einer Pfütze, sprang damit in den See und tauchte zur Quelle des Fließes. Dort unten öffnete er seine Hand und der weiche Regen floss, schob, spülte und löste schließlich den Schmerz des Flussgottes auf und schwemmte ihn davon. Heinrich stieg aus dem Wasser, schnitt sich eine Haarsträne ab und warf sie mit den Worten: „Dellwog, sei friedlich, ich achte dich!“ in die schäumenden Wellen. Dann zog er das Schleusenschütz, und seine Stämme begaben sich auf die lange Fahrt flussabwärts, hinaus aus dem Wanderland in die Welt.

(Aus meinem Buch „Schattengeschichten aus dem Wanderland“ – Schorfheidemärchen, erschienen 2010 im Schibri-Verlag ).

Neu erschienen: 2018 bei der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk in Schwedt an der Oder als Märchensammlung (30 Texte) unter dem Titel „Die Gabe der Nebelfee“

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Die Wunderbuche

Ein Märchen für die Woche ist eins meiner Schorfheidemärchen. Das muss ein paar Tage reichen, ich ersaufe gerade in Arbeit…

Die Wunderbuche:

Croll. Zeichnung von Petra Elsner
Croll. Zeichnung von Petra Elsner

Der kleine Druide, den der verfehlte Liebesschrei eines Einhorns ins Wanderland holte, war ein besonders emsiger. Schon im März schwebte er mit den goldenen Wolken der Haselnusspollen durch den Heidewald. Er liebte diesen Hauch von Glamour. Croll war kein heiliger Druide, sondern ein seltsamer Waldschrat, der mit den Bäumen sprach. Gern versteckte er sich hinter einer Blättermaske, denn Croll war nicht besonders gesellig. Selbst die wispernden Stimmen der Baumfeen störten ihn. Was jene aber nicht daran hinderte, über seine viel zu großen Ohren zu lästern, in die Croll, wenn es ihm zu viel wurde, demonstrativ kleine Früchte als Schalldämpfer steckte. Ansonsten aber lebten die Tiere und Gespinste einträchtig beieinander zwischen den tiefen Senken und den welligen Sandern.

Croll wohnte in der mächtigsten Buche im Wanderland. Wo sie stand, entfalteten sich im April Blütenteppiche aus unzähligen Buschwindröschen. Aber mit dem frischen Austrieb des Blätterdachs begann die Dämmerzeit unter den Buchen. In diesem Schattenlicht wuchsen die Träume und segelten die Fledermäuse.

Crolls Buche war älter als die üblichen Hundertjährigen. Sie thronte schon gut 300 Jahre auf einer Düne östlich des kleinen Pinnowsees. Ihr Stamm sah aus, als wäre er aus einem verschlungenen Baumbündel gen Himmel gewachsen. Über 30 Meter hoch wand sich ihr silbriges Rindenkleid, umweht vom glasigen Blattschleier. Dort oben, in den Wipfeln, erntete Croll immer im Mai rehbraune Knospen. Wozu er sie benutzte, blieb sein Geheimnis.

Und es war nicht alles, was er behütete, denn Croll war eben auch der Wächter der größten Buche der Schorfheide*. Am liebsten lauschte er ihrem Geflüster nachts, denn dann raunte ihm der mächtige Urwaldriese seine Weisheiten zu: Welche Bäume Kraft spenden und welche Kraft rauben. Die alte Buche war gewissermaßen Crolls Meister, durch sie wurde er zum einzigen Kräuterkoch, der jene magische Essenz, die allen guten Zauberwassern innewohnt, inszenieren konnte. Und weil dem so war, kamen alle Naturwesen mit dem ersten Frühlingslicht zu ihm.

Doch dieses Jahr war alles anders. Der Nebel hing fest zwischen den Stämmen und das rostrote Laub rollte sich auf dem kalten Waldboden. Die Frühlingswinde, die den Frost verwehen sollten, wollten einfach nicht kommen. Längst war es Mai und immer noch wuchs die Dürre in der Buche. Überall knackte es in der Rinde, als wollte sie reißen. Jeder weitere eisige Tag ließ den Baum Stück um Stück sterben. Es musste etwas geschehen.

Croll durchforstete all seine Kräuterhöhlen. Irgendwo hatte er diese Notration deponiert. Als er das Pulverdöschen schließlich fand, hockte er ratlos auf einem Ast und grübelte: Die magische Essenz wird es dieses Jahr nicht mehr geben, aber er könnte mit diesem kleinen Rest seinen Baum erretten. Dann aber blieben alle Waldgeister ohne Zauber. Was sollte er nur tun? Wieder platzte die Baumhaut seiner Buche etwas weiter auf. Und es war Croll, als hörte er seine Freundin vor Schmerz stöhnen. Da gab es kein Fragen mehr. Croll sprang auf, entzündete ein Feuer und kochte darüber ein schwarzes Mus, dem er zu guter Letzt das Pulver beigab. Mit dieser Masse bestrich er hauchdünn seinen Baum. Das dauerte mehrere Tage und Nächte, aber unter jedem Pinselstrich hörte Croll junges Leben atmen und das machte ihn sehr froh.

Ende Mai ging endlich der Frost und die Waldgeister kamen zu dem Druiden in der Buche, um sich etwas von jener Substanz zu holen. Croll zog die Zipfel seiner leeren Taschen aus den Hosen: „Die Ernte ist erfroren, ihr könnt erst nächstes Jahr wieder kommen.“ All die kleinen Zauberwesen standen steif und stumm. Wie sollten sie nun das Wanderland erwecken? Da reckte sich und ächzte plötzlich Crolls Buche. Aus ihrer Rinde perlten schillernde Lebenstropfen, die in die grünen Flakons der kleinen Feen und Kobolde schlüpften und wo sie auf den Boden fielen, erblühte augenblicklich das Land zwischen den zwei schnellen Flüssen. (pe)

(* Silkebuche ist der reale Name dieses Baumes)

(Aus meinem Buch „Schattengeschichten aus dem Wanderland“ – Schorfheidemärchen, erschienen 2010 im Schibri-Verlag ).

Neu erschienen: 2018 bei der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk in Schwedt an der Oder als Märchensammlung (30 Texte) unter dem Titel „Die Gabe der Nebelfee“

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Die Märchenbäume in der Schorfheide: Die Silkebuche

Es gibt uralte Gesellen in der Baumlandschaft der Schorfheide. Knorriges Holz, dass die Fantasie beflügelt. Die berühmte Silkebuche inspirierte mich beispielsweise zu einem meiner Schorfheidemärchen. Hier ein Auszug:

Die Silkebuche Foto: Lutz Reinhardt
Die Silkebuche
Foto: Lutz Reinhardt

Die Wunderbuche

… Croll wohnte in der mächtigsten Buche im Wanderland. Wo sie stand, entfalteten sich im April Blütenteppiche aus unzähligen Buschwindröschen. Aber mit dem frischen Austrieb des Blätterdachs begann die Dämmerzeit unter den Buchen. In diesem Schattenlicht wuchsen die Träume und segelten die Fledermäuse.
Crolls Buche war älter als die üblichen Hundertjährigen. Sie thronte schon gut 300 Jahre auf einer Düne östlich des kleinen Pinnowsees. Ihr Stamm sah aus, als wäre er aus einem verschlungenen Baumbündel gen Himmel gewachsen. Über 30 Meter hoch wand sich ihr silbriges Rindenkleid, umweht vom glasigen Blattschleier. Dort oben, in den Wipfeln, erntete Croll immer im Mai rehbraune Knospen. Wozu er sie benutzte, blieb sein Geheimnis …

weiterlesen bitte im Buch …
„Schattengeschichten aus dem Wanderland – Schorfheidemärchen“, 2. Auflage 2010, geschrieben und illustriert von Petra Elsner, 4-farbig, Schibri-Verlag, ISBN: 78-3-8686-040-4, 6 Euro

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