Zeit des Geschichtenerzählens

Schattenschlaf

Der kleine Stern erwachte langsam aus seinem Schattenschlaf und warf einen lieblichen Strahl in das Dunkel der kalten Winternacht. Jan Peters fühlte sich seltsam berührt. Als hätte irgendetwas sein Herz gestreichelt. Unsicher fuhr seine raue Hand unter die Jacke und fingerte prüfend nach dem Herzschlag. Nein, es war offenbar nichts. Aber er fühlte in dem Moment der Stille, wie sich die Müdigkeit seines Körpers bemächtigte. So wie jeden Abend, wenn er erschöpft eine Baustelle verließ und schon beim Abendbrot einnickte. „Arbeiten, essen, schlafen – mehr kennst du nicht“, schimpfte dann seine Freundin, und Jan Peters wusste, sie hatte recht. Wie es dazu kam, dass er immer, immer mehr schuftete, war ihm unklar. Scheinbar erhöhte der Herr der Zeit unmerklich, aber fortwährend, die Taktzahl. Und das Herz des Mannes stolperte schon manches Mal. Dann war Peters Stammkunde in der Notaufnahme vom städtischen Krankenhaus. Nach Ultraschall und EKG bekam er meist nur eine Beruhigungsspritze und den Rat, etwas kürzer zu treten.

Peters fröstelte. Endlich kurvte der Bus um die Ecke. Er stieg ein und schaute in das Lichtermeer der Stadt. Hinter einem dieser Fenster wird sie schon auf ihn warten, aber er hatte noch nicht einmal ein Geschenk für sie. Irgendwie fühlte er sich deswegen schlecht, aber er kam schon lange nicht mehr während der Ladenzeiten nach Hause. Der kleine Stern war inzwischen richtig erwacht und schüttete seinen weihnachtlichen Glanz in die Welt. Über alle Gipfel und alle Täler. Auch Jan Peters sah ihn herrlich leuchten, doch dann zuckte er plötzlich zusammen. Wieder hatte ihn etwas getroffen, kräftig. Er presste die Hand an seine Brust und spürte sein Herz losrasen. Er pustete und hatte schließlich nur einen einzigen Gedanken: Aussteigen, dort vorne ist das Krankenhaus!

„Ach nö, Herr Peters, Sie nicht schon wieder“, nörgelte genervt die Frau an der Aufnahme. „Sie waren doch vorgestern erst hier! Wieder Ihr Stressherz?“ Peters, bekannt als Hypochonder, nickte mit Schmerz verzogener Mimik. Im Wartezimmer stand ein üppig geschmückter Weihnachtsbaum, mit Feenhaar und roten Kugeln. An der Spitze thronte ein gläserner Stern umkränzt von zarten Glöckchen. Der Festbaum stand vor einem Fenster, durch das nicht nur das Nachtblau hereinschaute. Aber das sah der Wartende nicht. Er setzte sich mutterseelenallein auf einen der Stühle und schlief ein. Währenddessen stand der kleine Stern am Firmament genau so, dass er den Weihnachtsstern des Wartezimmerbaumes traf. In seinem Schatten schnarchte Peters, den nun ein drittes Mal der Sternstrahl traf, um diesmal in seine Jacke zu verschwinden. Dem Mann wurde es wohlig warm dabei, doch eine Stimme, die seinen Namen rief, ließ ihn aufschrecken.

Der Kardiologe staunte das EKG an. „Sehen Sie dieses seltsame Flimmern, da kann ich Ihnen aber wirklich nicht helfen.“ Peters befiel Panik. „Nein, nein, atmen Sie langsam, und beruhigen Sie sich“, beschwichtigte der Arzt, „das Herz ist vollkommen gesund, es ist nur von Liebe getroffen.“ „Äh, wie jetzt, was?“, stammelte Peters irritiert. „Na, sehen Sie doch, gesund, rosarot und schön sieht es aus und schwer verliebt. Ein bisschen müde vielleicht, aber Sie sollten es zu Ihrer Liebsten tragen.“ Der Arzt schmunzelte seinen Patienten an, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und verschwand mit einem „Frohe Weihnachten, also!“ hinter der Tür.

Jan Peters trat in das Dunkel der Heiligen Nacht. Schneewolken zogen heran, und ein kalter Wind schliff den Straßenasphalt. Der Mann an der Bushaltestelle vergrub die Hände in seinen Jackentaschen. Etwas klimperte in seiner linken Hand. Als er nachsah, strahlte ihn ein kleiner Stern an einem Goldkettchen an.

Petra Elsner

 

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