Die Wolkenflüsterer
Im Dunkel der Zeit, weit hinter den Sternen der Milchstraße, liegt ein Land im Nirgendwo. Es ist ein heller, friedlicher Ort. Hier singen die Stimmen jener, die die Erde verlassen haben, das erlösende Lied. Auf Ewigkeit. Nur die Wolkenflüsterer kennen den Weg dorthin. Das wusste Lilly vom Vater, der ihr auch sagte, wenn sie der Mutter etwas übermitteln wolle, sollte sie es den Wolkenflüsterern erzählen. Sie würden die Nachricht zu ihr tragen. Aber die Wolkenflüsterer schwiegen. Vielleicht war ihre Stimme nicht laut genug, deshalb stieg Lilly hinauf auf das Flachdach des Mietshauses. Es war ein grauer Regentag, man glaubte die Wolken mit der Hand greifen zu können. Da stand sie nun und rief so laut sie konnte: „Wolkenflüsterer! Ich habe eine Nachricht für meine Mutter im Land hinter den Sternen der Milchstraße, sie fehlt mir so. Sie soll nach Hause kommen!“
„Ist nicht das richtige Wetter“, raunte eine Stimme hinter ihrem Rücken. Auf der Sonnenbank des Dachgartens hockte ein alter Mann im Regencape und rauchte Pfeife.
Lilly ging neugierig auf ihn zu: „Wie meinst du das? Es ist doch wolkengrau, soweit der Himmel reicht.“
„Eben. Kein Wolkenzug. Nur in denen verstecken sich die Wolkenflüsterer. Komm wieder, wenn die Haufenwolken bei Schönwetter ziehen.“
„Ach, ich glaube, es gibt sie gar nicht – die Wolkenflüsterer,“ murmelte Lilly und hockte sich neben den alten Mann. „Wolken fliegen doch nicht durchs All ins Land hinter den Sternen der Milchstraße. Sie umkreisen nur unsere Erde.“
Der Mann nickte bedächtig: „Das stimmt schon, aber sie sind ja keine Wolken, sie sind ihnen nur ähnlich, die weißen Wünschesammler. Es ist ihr Flüstern, das durch Raum und Zeit dringt.“
„Meinst du wirklich?“
„Ganz sicher. Nichts geht verloren im Universum, sofern es nicht von Schwarzen Löchern geschluckt wird.“
Lilly schwieg ein Weilchen, dann fragte sie: „Hast du schon mal einen Wolkenflüsterer gesehen?“
„Oh, ja, so einige. Sie wirken zwar bedrohlich, aber sie sind ganz friedliche Giganten. Du musst allerdings wissen, dass sie nur Nachrichten mitnehmen, die auch erfüllt werden können. Das musst du bedenken, kleines Mädchen.“ Mit diesen Worten erhob sich der Mann und verließ den Dachgarten.
Oh, das ist schwer, dachte Lilly: ‚Nachrichten ‚die auch erfüllt werden können‘. Sie wusste ja schon, Verstorbene können nicht zurückkehren. Sie haben ihren Körper wie ein Kleid abgelegt, nur ihre Seele schwingt weiter. ‚Fern von uns oder auch in unseren Herzen‘, hatte der Vater gesagt. Lilly überlegte tagelang, wie sie ihren Wunsch formulieren müsste, damit die Wolkenflüsterer ihn erhören würden. Das war nicht einfach, denn sie musste dafür annehmen, dass die Mutter nicht wiederkehren würde. Doch bei diesem Gedanken musste Lilly weinen. Sie stieg wieder hinauf zum Dachgarten. Das Wetter trug diesmal Sonnenglanz, und weiße Wolkenberge durchkreuzten den blauen Himmel. Die Sonnenbank war leer. Ein leichter, warmer Wind trocknete ihre Tränen. Doch auf einmal hielt Lilly den Atem an: zwischen den Wolkenbergen entdeckte sie einen Wolkenflüsterer. Sie stand auf und winkte ihm: „Hi, du guter Wünschesammler. Bitte trage einen Gruß zu meiner Mutter. Sie wird immer in meinen Herzen bleiben. Aber ich wünschte, ich hätte mehr Lebensmut.“ Der Wolkenflüsterer drehte ganz gemächlich sein weißes, wolkiges Haupt zu ihr und nickte. Als die Sonne schon tief stand, fegte eine jähe Böe einen kleinen Rosenstrauch vor Lillys Füße. Es war so eine schöne rosa Sorte, wie sie die Mutter liebte. Ihr Duft ließ Lilly endlich lächeln. Sie pflanzte ihre Mutterrose in den Dachgarten, und die Blüten schenkten ihr fortan Trost.
© Text & Zeichnung: Petra Elsner
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