Morgenstunde (546. Blog-Notat)

Heute ist keine Zeit für eine ausgiebige Morgenstunde, ich will gleich zum Qi Gong und nachmittags kommen Gäste. Statt Alltagsschilderungen aus Atelier und Garten, lege ich Euch einen weiteren Abschnitt aus „Die Zeit der weißen Wälder“ in den Tag… machts Euch schön!

Aus meinem aktuellen Roman-Projekt:

…Emilia kaufte sich in Niesky ein neues Skizzenbuch. Stifte trug sie ja immer bei sich, einfach, um rasch eine plötzlich aufkeimende Idee festzuhalten. Als wäre sie sonst flüchtig, wie ein nächtlicher Traum. Im Fach Entwurfszeichnen war sie die Beste während ihres Architekturstudiums. Viele Kommilitonen meinten, sie solle doch besser zur Kunsthochschule wechseln, doch sie winkte ab. Warum? Das war kein Rätsel. Sie wollte einfach nicht wie ihre Mutter den stimmungsgeladenen Gezeiten ausgesetzt sein. Dem Wetter von guter oder schlechter Laune. Den Krisen in den Brieftaschen der Leute. Den diversen Moden rauf und runter. Und den Seitenhieben der Westkollegen gen Osten. Damals nach der Wende und dreißig Jahre weiter immer noch. Vom Wegbeißen der Männerklüngel gegen Frauen in der Kunst ganz zu schweigen. Die Mutter hatte sich bis zu Letzt wund geschuftet mit den Händen und dem Hirn. Dieses Leben schien Emilia zu hart, zu unwägbar, zu verletzlich. Aber dennoch wollte sie, die Urenkelin von Fredi, jetzt einfach zeichnen in Reichenbach. Sie klappte ihren Regiestuhl auseinander und platzierte ihn auf dem Bürgersteig gegenüber dem Hussitentor und begann ihre Skizze. Erst das Ganze, dann viele herangezoomte Details: Die Steinadern, die Maserung, die Patina der Zeit, das Mauerblümchen… Bald schon blieben Passanten stehen, blickten ihr über die Schulter und fragten nach dem Woher und dem Warum. Sie hatte erst keine Worte dafür, aber schließlich konnte sie es formulieren: „Zeichnen ist für mich ein Pilgern zu den Vorfahren.“
Emilia vertiefte sich tagelang in die Strukturen der Stadt. Das Wetter hielt sich sommerlich und die Leute begannen im Vorbeigehen zu scherzen: „Na, was sagt der Stein heute?“ Jetzt zeichnete Emilia abgelaufene Steinplatten der Gehwege. Alle ihre Herzmenschen hatten Schritte auf sie gesetzt, der Fredi, seine Tochter Ria, deren Tochter Sylvia und nun Emilia. Es war, als spürte sie ihren Abdrücken nach – der gepressten Zeit. Donnerstagnachmittag blieb eine alte Frau bei der sonderbaren Zeichnerin stehen. Sie sagte nichts, sie zog aus ihrem unverwüstlichen Dederon-Beutel mit zittrigen Händen ein kleines Gemälde. Nicht größer als ein grau-weiß gerahmtes A4-Blatt. Leuchtende Sonnenblumenköpfe waren darauf zu sehen, frisch, wie aus dem Tau gezogen. Emilia wusste es sofort: Es war eine kleine Wohnzimmermalerei von Fredi. „Ich schenke es Ihnen, weil ich glaube, Sie brauchen es nötiger als ich.“ Die Alte stellte es einfach an den Regiestuhl, rollte ihren Beutel zusammen, steckte ihn in ihre Kittelschürze und tippelte langsam davon. „Danke!“ rief Emilia ihr hinterher. „Danke!“ Die hochbetagte Frau drehte sich noch einmal um, lächelte verschmitzt und verschwand in einem der Häuser am Markt….

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