Eine Nikolausgeschichte von Petra Elsner
Niko liebt Schuhe, besonders die knallroten, die bei den Frauen als Glücksschuhe gelten. Er ist gerade auf leisen Sohlen mit seinem Schuhputzkasten unterwegs, um sich vor der großen Oper – wie jeden Abend – in Position zu bringen. Ein guter Standort, denn wer will schon mit schmutzigen Schuhen ein so erhabenes Haus betreten? Besonders bei Schmuddelwetter kommt der echte Opernfreund nicht an Niko vorbei, zumal keiner einen derart wunderbaren Glanz auf das Leder zaubern kann wie der junge Mann, den es aus der türkischen Stadt Patara hierher verschlagen hat. Einen seltsamen Wanderstab führt er immer bei sich. Das uralte Stück ist das Einzige, was ihm von seiner Familie geblieben war. Weil aber Niko ein ehrlicher und immer gut gelaunter Schuhputzer ist, kommt er überall gut an und so nicht in Not. Jetzt schneit es nasse Flocken in der Stadt an der Spree, und Niko lächelt dazu: Schuhputzerwetter.
Kurz vor der Oper quietschen plötzlich Autoreifen sehr laut. Aus einer schwarzen Limousine springen vier Männer, öffnen den Kofferraum, hieven eine Truhe empor, schleppen sie auf den vereisten Gehweg und schieben sie mit einem mächtigen Drive auf Niko zu. Während die Truhe noch schlittert, springen die Vier zurück in den mysteriösen Wagen, einer setzt noch einen Esel auf die Straße, dann rasen sie davon. In dieser Stadt, in der an jeder zweiten Ecke ein Spielfilm gedreht wird, nimmt nicht wirklich jemand Notiz von der Aktion. Man ist eilig unterwegs und hat kein Auge für merkwürdige Inszenierungen. Nur der Schuhputzer steht wie angewurzelt und liest das Schild an der Truhe „Für Niko“. Der Esel ist inzwischen der Truhe gefolgt, nun zupft er an Nikos Ärmel, als wenn er sagen will: „Mach sie endlich auf!“ Das tut er dann auch und glaubt dabei seinen Augen nicht. Aus dem rot gefütterten Innern funkeln ihm Gold, Silber und Edelsteine entgegen. Niko schließt blitzschnell und sehr erschrocken die seltsame Fracht. Die kann ihm einfach nicht gehören. Aber hat er nicht am Rande eine Schriftenrolle gesehen? Nur einen Spalt öffnet er wiederholt die Truhe, fingert nach dem Papier und findet darin diese Nachricht: „Es ist der Rest, den Dein Urahne nicht unter die Leute gebracht hat. Gehe, und walte Deines Amtes!“ Welches Amtes?
Ein Bettler stört Nikos Gedanken: „Haste mal ein paar Cent?“ Der Schuhputzer greift wie selbstverständlich in die Truhe und reicht der ärmlichen Gestalt ein paar Goldstücke. „Oh, danke, großer Nikolaus, für diese opulente Gabe“, spricht der Bettler. „Wie kommst du denn darauf? Ich der Nikolaus?“, fragt Niko. „Na, du trägst seinen Bischofstab und machst den Armen erlesene Geschenke! Heute ist der 6. Dezember, du musst es einfach sein. Verstell’ dich nicht, ich habe dich erkannt.“ Niko ist nicht nur deshalb irritiert. Aber gut, wenn er heute einen sehr speziellen Tagesjob übernehmen soll, warum nicht? Den Inhalt der Truhe wird er schon rasch unter die Leute bringen. Der junge Mann lädt den wertvollen Kasten auf den Esel und tippelt durch die Stadt. Mit vollen Händen verschenkt er Gold, Silber und Edelsteine, doch so sehr er sich bemüht, die Truhe leert sich nicht, ihr Inhalt scheint nachzuwachsen. Als der Tag sich neigt, hat Niko begriffen: Er ist jetzt der neue Nikolaus, und nächstes Jahr, zur selben Zeit, wird er wieder mit der Truhe losstiefeln und die Menschen beschenken. Eine wirklich herzliche Aufgabe, aber all die anderen Tage will er weiter nur der Schuhputzer mit dem seltsamen Wanderstab sein.
Diese Lesekostprobe steckt als Adventsgeschichte in meinem Buch „Von der Stille des Winters“.
Erhältlich ist das Buch über diese Koordinaten:
Petra Elsner, „Von der Stille des Winters“, Hardcover, 92 Seiten, 2. stark erweiterte Auflage (des Dezemberlesebuches), zahlreiche Illustrationen von Petra Elsner, ISBN: 978-3-943487-79-4, Preis: 20 Euro, erschienen in der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk
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