Morgenstunde (405. Blog-Notat)

Das Bienenjahr neigt sich. Gestern hat der Imkergatte die letzten 80 Gläser abgefüllt, den Rest um die 300 Kilo geben wir einem Großmarkthändler. Es kommt bei uns nur ins Glas, was wir hier auf dem Hof bis zur nächsten Saison verkaufen können. Jetzt sollte es stiller werden, wenngleich: die komplette Veröffentlichung des WENDE-STRUDELs auf diesem Blog sorgte in mir für innerliche Turbulenzen. Dieses Leben darin ist so lange her und ehrlich, hätte ich es nicht aufgeschrieben, ich wüsste vieles nicht mehr. Wir waren damals alle so in Eile, so getrieben, dass einen vieles nicht erreichte oder man es rasch ausblendete, um darin nicht zu erstarren. Ich kann mich an eine Geburtstagsfete bei meiner Fotografenfreundin Tina erinnern, bei der diese Niederschrift der Wendezeit von ehemaligen Kollegen „bewundert“ wurde. „Ja, du hast dir die Zeit genommen, die Brüche zu bedenken. Wir sind übergangslos in den Westen gestürmt, der Arbeit und der Kohle nach. Es wird uns später wohl noch einholen und vielleicht sogar krankmachen.“ – meinte einer von ihnen. Stimmt schon, bei mir war das alles erst mal raus und von der Seele, doch die Verhältnisse steckten für mich lange im Stau. Weil ich keine Arbeit und damit keine neuen Chancen fand, schrieb ich am zweiten Buchmanuskript (das später auch niemand haben wollte), dann Umzug, Scheidung. In dem neuen Leben bekam ich nie wieder eine Festanstellung. Zu alt und damit zu teuer. Mit einer Ostkorrespondenz für ein Baumagazin in Langenfeld machte ich mich schließlich 1994 selbstständig. Später schrieb ich für ein Berliner Häuslebauer-Blatt als freie Pauschalistin. Ende der 90er stürzte die Baukrise diese Fachzeitschriften allesamt mit in die Krise. Den Freien blieb man monatelang ausstehende Honorare schuldig, was unser Leben noch ganz anders ins Trudeln brachte. Damals wäre ich fast daran gestorben, ich wog noch 48 Kilo und ich kann wirklich nicht mehr sagen, wie wir das geschafft haben, ohne Insolvenz uns da wieder rauszuarbeiten. Man wird darüber streng mit sich und hart im Nehmen. Die Kunst, das nächtliche, absichtslose Arbeiten an Bildern oder die kleinen Auszeiten auf dem Balkon für das Schreiben eines Märchens („Wallos seltsame Reise“ entstand damals), eben eine Woche Wegträumen, um mich auszuruhen, dass war es wohl, was mich am Leben hielt. Irgendwann Mitte der 2000er Jahre wurde es etwas leichter. Aber es blieb bis zuletzt ein ächzendes Laufrad, weil die Honorare der Freien in Ostbrandenburg seither nur fallen, statt steigen. Aber darüber muss ich Euch ja nichts mehr erzählen… ist Alltag für die Freiberufler hier im Osten…

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Zeitzeugin

Heute ist der Tag der Deutschen Einheit. Der 30. und ich höre und lese in diesen Tagen viel von einer sogenannten Sprachlosigkeit meiner Generation. Das stimmt so nicht, denn es gab Gründe, die Worte zurückzuhalten. Anfang der 90er Jahre entstand in Deutschland ein Klima, dass den Menschen im Osten das offene Reden verdarb. Wir wurden zu Kostgängern und die deutschen Beamten verwalteten uns. Viel Stolz wurde in dieser Massenarbeitslosigkeit der 90er Jahre begraben und das abgestorbene Land auf die Stasi reduziert. Wir haben fast darüber vergessen, welcher Mut und welche Hoffnungen uns im Wendeherbst antrieben. Deshalb veröffentliche ich hier einen O-Ton-Text, den ich damals niederschrieb. Ungeschützt. Inzwischen hat sich mein Leben sehr verändert, aber damals was es so:

WENDE-STRUDEL
oder
KOPFPREIS FÜR EINEN OSSI
O-Töne 1990 bis 1992 von Petra Elsner

EPILOG

1990 war ich Mitte 30, im Zenit meines Lebens…

Noch vor zwei Jahren war es selten, dass irgendwer wirklich Gehör bekam, der sich kritisch zum Prozess der Deutschen Einheit äußerte. Wer sich vorsichtig vorwagte, stand augenblicklich im Hagel. Es prasselten Vorwürfe von Undankbarkeit über ihn nieder. Wo doch so viel Geld in den Aufbau Ost fließt. Und wo kein Haben, da kein Sagen. Oder aber, man stellte den Rufer in die PDS-Ecke und verunglimpfte ihn zugleich als Ewig-Gestrigen. Wer aber will schon bei den Verlierern sein? Wenngleich, sagt das –zig tausendfache Aufstehen nach dem Fall nicht ungeheuerliches über die innere Kraft von diesen Menschen? Man könnte daraus Mut schöpfen. Oder sind die Zeiten wirklich so satt und sicher, dass man diese Wandel-Geschichten nicht als gesellschaftliche Anregung braucht? Es schien lange so. Also öffneten ohne Getöse sehr bald hier und da im Osten Kneipen mit bewusst zusammengesuchtem DDR-Ambiente. Leise, sich selbst ironisierende Schwatznischen. Im Winter 1995/96 feierten tausende in Ostdeutschland „Ost-Rock-“ und „Kessel-Buntes-Partys“. Die Gazetten nannten es Nostalgietrip. Erneut ein Schuss daneben. Das ist so, wenn vorzugsweise Westdeutsche für Ostdeutsche öffentliche Medienmeinung machen. Ein Klischee mehr ist geboren. Eines, das den Ärger der Ostdeutschen nur mehrt und sie an ihre DDR-eigenwillige „So-nicht-Mentalität“ erinnert. Tonlos wie damals, aber nie ohne Gegenwehr. Am 5. Mai 1996 sagten Ostberliner und Brandenburger zur Länder-Fusion schlichtweg NEIN. Erschütterung zuckte durchs Land. Wie schön, denn ohne Erschütterung gibt es keinen Zweifel. Aber Zweifel ist ein innovatives Moment. Die Ostdeutschen zogen nach dem unglaublichen Leben verändernden Tempo der letzten sechs Jahre einfach die Notbremse. Menschen mit östlicher Erfahrung wissen: das ist ein Zeichen. Ein „So-nicht-Zeichen“. Aber Vorsicht mit schnellen Schlüssen! Es gibt sie nicht, DIE Seelenlage der Ostdeutschen und auch nicht eine einzige Erklärung. Will man wirklich wissen, was los ist, muss man zurückgehen in die Zeit nach der Stunde null. Wer hat westseits schon wirklich eine kleine Ahnung, was den Ostbürgern mit und nach der Wende widerfuhr?

Nein, diese Notate beanspruchen keine literarische Qualität. Fiktiv sind nur die Namen. Die Begebenheiten und das Bedenken der Zeit sind authentisch. Ich wollte den Strudel fassen. Jene damalige gedankliche Kasteiung und die ungeheure Hatz. Dieses „täglich neu begreifen“ zwischen Schock, Wut, Scham, Aufbruch und Erschöpfung musste ich einfach festhalten. Denn irgendwie war mir ja klar, dass man selbst Teil einer ungeheuerlichen Verwandlung war. Günter Gauss nannte den Prozess für die Ostdeutschen „Kulturschock“. Der vorliegende Text gibt bruchhafte Reflektionen dessen wieder. Als distanzloses Zeitdokument auf der Suche nach Halt. Ich habe es nicht aus Sicht der Jahre danach bearbeitet, denn es geht nicht um gegenwärtige Gewissheit. Der O-Ton ist für das Nachempfinden jener Zeit (so das überhaupt geht) wichtiger.

Ganz sicher ist es etwas riskant, die betagten Gedanken unkaschiert in eine Zeit zu legen, in der die Deutschen immer noch durch soziale Befindlichkeiten getrennt sind. Das wird noch Jahrzehnte so sein. Denn ich glaube, man kann seine Wurzeln nicht einfach kappen: Schnitt, Klappe, ein neues Leben. Das Neue wird immer etwas getönt sein vom Alten. Ein völlig normaler Umstand, den man allerdings den Ostdeutschen als Handikap vorwirft. Hier beginnen die Merkwürdigkeiten und Demütigungen. Doch es hilft niemandem materielle und ideelle Krisen totzuschweigen. Man/frau muss sie als deutsches Erfahrungskapital bergen, tabuisiert reißen sie die Gräben nur weiter auf. Deshalb lege ich diese Essays in Ihren Tag. Sie stammen von einer, die einst dachte, dass die Geschichte Deutschland für immer geteilt hat und sind ein Bedenk-Angebot über anders gewachsene Leben mitten in Deutschland. Damals Anfang der 90er. 
Petra Elsner,  Mai 1996

  

Stell‘ Dir vor, es hat Dich aus Deinem Land getrieben, so wie Tausende auf dem Balkan, im Nahen Osten oder sonst wo in dieser wirren Welt. Du gehst aus irgend gearteten Zwängen ohne Wiederkehr. Dort, wo Du hingerätst, musst Du Dich zurechtfinden lernen, Sprache und Umgang, Gesetze und Gepflogenheiten, jeden Tag ein bisschen mehr. Und es gibt Niederlagen, weil man so rasant nicht alles zugleich in sich aufnehmen kann. Aber es wird.

Ja, ich weiß, Du hast Deine Koffer nicht gepackt, bist hiergeblieben und doch in ein anderes, unbekanntes Land gezogen, fremd geworden auf vertrautem Terrain. Kaum ein Tag, der Dich nicht verletzt, denn plötzlich bist Du zugehörig einer Minderheit, mit der man umgeht wie mit jeder Minderheit: schroff und ablehnend. Der Ostdeutsche, der einfach gelebt hat in dem Zwischen-Land seiner Geburt, das man jetzt den Unrechtsstaat nennt, nervt und verunsichert den Altländler. Doch sie werden nicht nur ihr Gesicht verlieren, wenn sie Dich noch lange zum Zweit-Klasse-Deutschen stempeln, per Gesetz und aus schlechter Gewohnheit. Steck’ nicht auf. Bei diesem Langstreckenlauf vergiss nicht, wie wir lebten, und dass wir jenen die Erfahrung einer anderen Gesellschaft und deren Niedergang voraushaben. Lass Dir Deine Erinnerungen nicht verschrecken, anzweifeln, austauschen, auch wenn der Rucksack „DDR“ schwer wiegt. Was darin steckt, macht Deinen Ursprung aus.

Ich rede nicht von Nostalgie, dem Gift, das Dir das Leben lähmt.

Sicher, es wird auch Heimweh geben, wie es die Auswanderer spüren, und Frust. Aber wenn Du nicht aufbrichst in die Jetztzeit, in der Du Deine Vergangenheit ehrlich bedenkst, wiewohl verarbeitest, wuchert sie in Dir und wird dort zum krankhaften Schattengewächs.

Jeder hat seine einzigartige Geschichte und andere Empfindungen zu seiner gelebten Zeit, vielleicht gibt es deshalb so viele Wahrheiten. Hört sie Euch an. Es wäre ja möglich, dass wir Deutschen füreinander einen Spürsinn entwickeln – mit der Zeit.

März 1991

Daseinspendel

Ich hatte einen Ort, wo ich Zuhause war. Mit keinem Flecken Erde war ich so verbunden, wie mit dieser flachen, weiten, sandigen Region. Streusandbüchse nannte man sie, weil auf den Böden eigentlich nur Mohrrüben gut wuchsen. Aber auch satte Wiesen gab es hier, tiefe Wälder und romantische Seen zwischen den ländlichen Siedlungen aus Backsteinen, weißgekalkten Mauern und verwittertem Holz. Ein gerader, harter, aber aufrechter Menschenschlag gedieh hier. Etwas stoffelig vielleicht, doch zugänglich. Selbst die aus Schlesien und Böhmen Hergetriebenen, die Gestrandeten vor den Ufern Berlins, blieben nicht lange Fremde, assimilierten mit diesen Märkern.

Zuhause, darin ist alles, was einen Menschen an eine Gegend bindet – seine Wurzeln. Jeder Zweig seines Selbst‘ bekommt von dorther Nahrung.

Mein Zuhause war, gleich der Zeit damals, kein Ideal. Doch ich liebte es, wie man von einem unsymmetrischen Gesicht angezogen und fasziniert sein kann. Neben den irdischen Farben der Mark erinnere ich mich kaum an eine andere, als an das an allem haftende Grau. Selbst die Leute schienen mir etwas davon zu haben, in ihren Gesichtern, ihrer Kleidung, in der Art wie sie gingen und sprachen. Doch ihren Herzen entsprang eine herbe Wärme, und die Umstände ließen sie dichter zusammenrücken denn je. Vielleicht waren es Spielarten der Notgemeinschaft – gleich Geschmähte und Besiegte im letzten großen Krieg, gleichgestellte Habenichtse durch denselben, materiell und immateriell, gleichgemacht durch die neue Ordnung in diesem Splitter Deutschlands. Die sozialen Stände verwischten sich. Der Mangel in dieser zwanghaft geschlossenen Gesellschaft prägte Beziehungen zwischen beispielsweise Handwerkern und Intelligenzlern. Eigenwillige Zweckfreundschaften entstanden. Gibst du mir, verschaff ich dir… Vielleicht aber war dieses Verbunden sein miteinander auch mehr als nur ein zwangsläufiges Verhältnis. Denn man konnte vorurteilsfrei überallhin tiefe Beziehungen entwickeln, die nicht traditionellen Standesvorstellungen entsprachen. Sodann erfuhr man viel über den anderen – wenn man wollte. Gleichklang und geistige Beweglichkeit verschafften Einlass in die Nische. Diese sozial gemischten Freundeskreise waren für viele das Salz ihres Daseins. Und der Reichtum dieser menschlichen Beziehungen wog wie ein schwerer Anker.

„Geh’ Du nicht auch noch fort von mir…“, sang im Sommer ‘89 Gerhard Schöne. Warum wohl? Kaum, um das Festgefahrene zu erhalten, sondern hier zu bleiben und es zu ändern. Dass dies machbar ist, dass die sichtbaren und unsichtbaren Verletzungen heilen würden, glaubten viele.

*

Jetzt, Dezember 1990, da eigentlich alles der gelebten Jahre in Frage steht, der gesamte Existenzraum wankt und schlingert, da nicht einmal die Ausgangsfakten für ein Lebenskalkül gewiss sind, bedrängen mich die Erinnerungen. Der Alltag ist randvoll mit Hiobsbotschaften und längst ist das Maß der Erträglichkeit überschritten. Bedroht von erstmaliger Arbeitslosigkeit, nicht zu wissen, ob die Bildungs- und Berufsjahre noch anerkannt werden. Von Woche zu Woche hin- und hergerissen zu werden, zwischen Verkauf oder Konkurs der „eigenen“ Firma. Das heißt Produktionsstopp am Montag und Wiederaufnahme am Mittwoch. Wir machen Zeitungen, die sich auf dem Markt im freien Fall befinden. Das Geld kommt jetzt monatlich von der Treuhand. Keiner weiß, was morgen ist, und das Gehalt reicht bis zum Ersten. Wir schweben indes weiter über dem Abgrund, in den wir seit Jahresbeginn sehen können, fast ausgelöscht. Zwölf Monate versuchten wir alle unsere fünfzehn Kinder- und Jugendzeitschriften neu zu profilieren. Das war ein Kraftakt ohne das nötige Geld, die einschlägige Lobby und auch ohne die eigentlich notwendige Konsequenz der Beschränkung.

Abends gehe ich durch unser seit achtunddreißig Jahren gemietetes Zweifamilienhaus am Rande der Stadt, als wäre ich schon nur noch ein Gast hier. Es ist ein Westgrundstück. Die Fernsehnachrichten des Tages machen die Verletzungen für diese vierundzwanzig Stunden komplett. Wie lebt man in solchen Zeiten, wo ist der Ort, der einem nicht eben gerade streitig gemacht wird?

Ich bin in der friedlichen Illusion aufgewachsen, dass die Geschichte Deutschland für immer geteilt hat. Ich kannte das andere nicht. Und was hier gewachsen ist, glaubte ich reformierbar. Denn ich traue den Menschen auch den friedlichen Wandel zu. Doch nach welchem Bilde? Das war nach dem Wendemonat Oktober ’89 nicht genug klar, und Zeit, dies herauszufinden, gab es nicht. Vor dem Anschluss fragten die Talkshow-Master noch höflich, was es denn sei, was wir ins geeinte Deutschland einzubringen hätten. Oft antwortete es, dieses Undefinierbare für Wessi’s: „menschliche Wärme“. Der Verfassungsentwurf des „Runden Tisches“ war noch nicht geschrieben, und die Menschen in Ostdeutschland diskutierten das Thema Schuld und Niedergang. Alles dennoch Wertvolle in 16 Millionen Menschenleben schien verschüttet, denn sie waren ja damals schon aus dem vertrauten Leben in einen Strudel gerissen, woraus schlecht eine Draufsicht auf die Vergangenheit zu bekommen ist.

Jetzt, da man im Begriff ist, gänzlich zu verlieren, treten die Dinge im Gedächtnis an, wie bei einem Sterbenden. Vorsichtig, weil jedes Detail schon allein diskreditiert ist durch seinen Existenzrahmen im deformierten „Sozialismus“. Und die Folge daraus: der deformierte Ossi-Mensch, der durch die Debatten schwappt, als missbrauchte, krankhafte Figur, die nun – peinlich berührt von ihrem Selbst – wieder schweigt. Doch ich lebe ja noch, stürze nur innerlich. Besinnung und Leben im Augenblick scheinen mir wenig verträglich. Momentan jedoch pendele ich stündlich zwischen diesen Daseinssituationen.

März ’91

Schizoid, aber da habe ich doch wirklich noch einen Teich im Hausgarten angelegt, obgleich doch völlig unklar ist: werden wir übers Jahr hier noch wohnen? Sicher ist nur, die Westeigentümer haben kein Interesse und wollen verkaufen. Aber wer im Ossiland hat schon eine halbe Million? Wenige. Und Kredite, ja wenn, dann, um sie in Arbeit zu investieren, denke ich. Ich schaue vom Wohnzimmerfenster aus stolz auf dieses beruhigende und nützliche Suchbild, während hinter mir eine Reportage vom Landessender Brandenburg flimmert. Westhäuser in Kleinmachnow, ihre früheren und jetzigen Bewohner werden befragt. Ein Wessi schnaubt und empört sich, sein In-Bälde-Wieder-Eigentum besichtigend „…die haben ja alles verkommen lassen…“. Da kocht es schon wieder in mir, dünnhäutig geworden, gegen solche Typen. „Alles verkommen lassen!“ Alles? Dieses „Alles“ bohrt. Ja, ich kenne ostdeutsche Städte, habe vieles verfallen sehen. Doch dieses „Alles“ stimmt einfach so dahingeschwätzt nicht und mit den Westhäusern hat es seine eigene Bewandtnis:

Das gelbe Haus

Dieses abgetakelte gelbe Haus an der Bahnlinie ‚gen Osten ist das Haus meines Lebens. Hier lernte ich laufen, zwischen Hühnerdreck und Mülllöchern, welche die Wirtin alljährlich im Garten ausheben ließ, um die Abfuhrkosten zu sparen. Die Schrödersche blieb in meiner Erinnerung eine zänkisch-knauserige, schroffe Person. Hinter dem Küchenfenster parterre lauerte sie unseren Kinderspielen auf. Wenn Mutter abgespannt vom langen Tag gegen 18.00 Uhr in der Veranda nach ihrem Hausschlüsselbund suchte, zog der graue Besen flugs die schwere Holztür auf und überfiel sie mit vorwurfsvollen Worten: „Frau Segert, ihre Kinder haben schon wieder…“ Ria Segert entzog sich höflich, laute Wortgefechte waren nicht ihre Stärke. Im Treppenhaus machte sich der süße Duft von Rias Parfüms breit. Signalhaft – ich komme, ihr Spatzen. Sie gab den Gram von der Treppe nicht an uns weiter. Stolz soll die Schrödersche gewesen sein, dass im Hause, seit es errichtet wurde, nicht mehr renoviert worden sei. Seinerzeit schrieb man das Jahr 1929. Als in den fünfziger Jahren der Kessel für die Heizungsanlage reparaturbedürftig wurde, ließ sie lieber eiserne Öfen aufstellen. Den Erlös für die gebrauchten Heizkörper goss sie sich im „Haus Zeuthen“, einer rauchigen Bahnhofskneipe, hinter die Binde. ’61 war sie plötzlich weg. Bei den Kindern in Westberlin geblieben, hieß es. 1961 war ich acht Jahre alt. Der Fakt an sich blieb mir nur deshalb im Gedächtnis, weil ich eines Tages von der Schule kommend, vor unserer Gartentür eine mächtige Menschenansammlung vorfand. Niemand wollte mich durchlassen. „Wir stehen auch an!“, zischte es giftig aus der Menge. Irgendwie verwirrte mich das, denn es hatte an dieser Pforte noch nie etwas zu kaufen gegeben. Schließlich musste ich wahrhaftig über den hohen, wackligen Maschendrahtzaun steigen, um aufs Gehöft zu gelangen.

In der unteren Etage versteigerte man die Schröderschen Habseligkeiten. Zum ersten, zum zweiten und zum dritten dröhnte es noch Stunden hoch zu mir in den oberen Stock, wo ich mich zu meinem Wellensittich hin geflüchtet hatte. Meine große Schwester war noch zum Gitarrenunterricht, und mir war’s unheimlich mit den vielen Fremden im Haus.

Fortan, so schien es mir jedenfalls, sah das Haus bessere Zeiten. Die Bewohner mühten sich nach Kräften und entsprechend ihres schmalen Geldbeutels. Instandsetzungskredite für Mieter gab es nicht. In die Schröderschen anderthalb Zimmer mit Küche und Bad zogen zwei junge Leute ein. Ein Mittzwanziger mit seiner kränkelnden jüngeren Schwester. Vorn daneben wohnte noch die einsame Tante Hedi. Unter ihrem Fenster säte sie jedes Frühjahr dieselbe Sommerblumensorte aus. Hedi’s Schwester und deren Sohn waren längst in den Westen geflohen. Der Junge soll geschmuggelt haben. Aber nichts Genaues drang an mich. Jetzt hatte Hedi wenigstens etwas Platz und brauchte nicht mehr in der acht Quadratmeter großen Küche auf einem mickrigen Kanapee zu schlafen. In der Schule saß sie an warmen Tagen kartoffelschälend vor der Küche und besserte sich so die schmale Rente auf. Still und freundlich. Auf das windschiefe Klo im Garten brauchte Hedi nun nicht mehr bei Wind und Wetter. Die jungen Leute boten ihr und uns die Badmitbenutzung an. Aus dem stinkenden Bretterverschlag machten sie Brennholz.

Nach und nach verschwanden die rostigen Küchenausgüsse, neue Kachelöfen kamen in jedes Zimmer. Die Innenwände sahen überall frische Farben. Zeitungen von Anno 1920 kamen unter der vergilbten Wohnzimmertapete ans Licht. Wer da so alles wofür annoncierte… – spannend. Wir verrenkten uns mit dem Spachtel in der Hand die Köpfe, denn Sahne und Butter gab’s noch auf Marken, und Fleisch zu holen, hieß Schlange stehen; wie für vieles andere auch.

Das verwahrloste Umland des Hauses wurde endlich zum Garten, mit jungen Obstbäumen und Blumen, Steingarten und einem Kräuterbeet, wie man damals halt Gärten anlegte. Den Müll holte jetzt der städtische Abfuhrbetrieb. Was das kostete, berappte die Wohnungsverwaltung von unseren kleinen Mieten. Wir kümmerten uns bei den Instanzen, zäh, hartnäckig und mit spitzer Feder, dass sie wenigstens das Notwendigste reparierten. Was gar nicht so leicht war. Westhäuser durften ja gesetzlich in ihrer baulichen Substanz nicht verbessert werden. Doch es fanden sich Wege, wenigstens den Verfall aufzuhalten. Allgemein möglich, wenn die Mieter nicht allenthalben wechselten. Sturmschäden beispielsweise, dafür gab es spezielle Fonds. So kamen wir nach einem der typischen Januarstürme, bei dem die Ziegel wie Blätter im Wind abhoben, zu einem neuen Dach. Oder, wenn Einsturzgefahren drohten und kleine Kinder im Hause lebten, ließ sich mit unermüdlichen Eingaben an die Wohnungsverwaltung etwas ausrichten. Man musste halt auch einigermaßen penetrant mit seinen Forderungen sein. Das brachte die neue Kellertreppe und eine Abwassergrube, neue Keller- und Küchenfenster. Das Bad fliesten wir selbst. Ernst und Ria bauten sich Gasheizungen ein, wir im Bad Therme und Gamat. Immerhin. Nur der Putz rieselte von Jahr zu Jahr mehr. Natürlich hätten wir auch gern das geändert und manches mehr modernisiert. Doch wer hier ehrlich lebte und kein Altvermögen besaß, dem war das mit seinem Einkommen kaum vergönnt. Obgleich Vater und Mutter vollbeschäftigt arbeiteten, sie als Rundfunkjournalistin, er als Ökonom, reichte ihr Verdienst meist nur über den Monat. Den dünnen Überhang sparten die Eltern für schlicht-nützliche Geschenke zu den Feiertagen und die alljährliche, sehr preiswerte Urlaubsreise im Land. Später erst, als wir zwei Geschwistermädchen aus dem Hause waren, konnten sich Ernst und Ria alle zwei Jahre eine Reise nach Bulgarien, Rumänien oder in die CSSR leisten. Ein Auto fuhren sie nicht. Dafür war das Haus an der Bahn immer reich an Gästen. Besonders sommerwärts, wenn der wilde Wein sein Gemäuer umschlang und die Tante-Hedi-Blumen blühten.

Die „Adoptivkinder“

Als ich vierzehn war, bereitete sich meine Schwester Gisela an der Arbeiter- und Bauernfakultät in Halle auf ein Auslandsstudium vor. Es sollte nichts daraus werden. Statt nach Kiew zum Mathematikstudium geriet sie in eine lange schwere Krankengeschichte, die ihr ganzes Leben beschneiden sollte. Ihre Kommilitonen aber machten vor jeden Semesterferien in Zeuthen Halt, bevor sie ihre Verwandten in der DDR aufsuchten. Irgendwie wurde Zeuthen der Treffpunkt eines kleinen Teils von 68er SU-Studenten. Ein Ort, wo man sich halbjährlich wiederfinden, sich bereden, Freundschaften auffrischen konnte. Mutter Ria tafelte stimmungsreich und erfinderisch auf. Zwischen den Erzählungen aus Moskau, Leningrad und Kiew floss der Wodka, und so mancher sprach übersprudelnd plötzlich Russisch weiter. Wer aus dem Flugzeug fällt, hat nicht viel Zeit zum Umschalten. Meist holte Ria an diesen Abenden ihr Reportergerät vor und interviewte die jungen Leute. Deutsche in der SU, wie kommt man zurecht, welche Studien- und Prüfmethoden sind dort üblich, was haftet nach und nach von der russischen Lebensweise an einem, findet man Zugang zu russischen Familien, reichen die Rubel, was macht ihr in der Freizeit, fehlt euch euer Zuhause, wie tröstet ihr euch und wie ist es, nach Hause zu kommen…? Einfache Fragen, die zum Nachdenken und Besinnen führten. Das Gelebte schlicht mal setzen zu lassen und selbst zu werten. Dabei erfuhren wir viel voneinander, wiewohl einiges über das Leben in diesem riesigen Reich: Von den Ängsten der Studenten, sich hier, in der DDR, nicht mehr zurechtzufinden, wenn sie zurück sein würden. Die Verhältnisse schienen ihnen abgekühlter, in sich gekehrt und die Leute nur noch auf den eigenen Vorteil bedacht. Haste was – biste was, dem Lebensmotto wollten sie nicht nacheifern. Sie sahen von draußen die Dinge klarer und debattierten, wie man anspruchsvoll und integer leben kann, ohne dem Geldraffen zu erliegen, höheren Werten folgend. Welchen? Dem Sozialismusideal. Willens, sich einzumischen, und dabei anders zu sein als die Alten, deren Fehler schmerzten. Lebensträume. Sie redeten auch über Wanzen (lebende) im russischen Wohnheim, dass wer exmatrikuliert wurde, weil er aus diesen Viechern eine Losung zum Ersten Mai an eine Wand gepinnt hat; über Regionen, die man nur mit speziellen Papieren bereisen durfte (aber trampende Studenten kamen überall hin), die ärmlichen Verhältnisse und über weitherzige Menschen und ihre Bräuche. Diese legendären russischen Trinksprüche: „Ich wünsche dir einen Sarg. Fein gezimmert aus dem gut gelagerten Holz einer hundertjährigen Eiche, die wir morgen pflanzen.“

Gisela war bei den geselligen Kommilitonen-Treffs in Zeuthen meist sehr still. Es war nicht mehr ihre Welt, von der die Freunde so überschwänglich und geistreich sprachen. Nur wenn Paul zur Gitarre griff und die alten Beatlessongs spielte, leuchteten ihre Augen auf. Ihre ganze Internatsfreiheit lag darin, das Unbeschwerte, die ehemaligen Träume und die Sehnsucht nach dieser anderen Welt.

Ria blieb über zehn, fünfzehn Jahre der Schmelztiegel, in dem die ungleiche Entwicklung der Zöglinge nicht so spürbar wurde. Ihr Charme, ihr Humor, die kritische, folgerichtige Lebenssicht aus unparteilichen Schlüssen, ihre menschliche Wärme und die Art Feste zu improvisieren, zogen die jungen Akademiker nach wie vor an. Sie kamen jetzt ihretwegen und Gisela zehrte davon. Ohne diesen Familienhintergrund wären ihr diese Kontakte wohl kaum geblieben. Als 1984 Ria starb, standen alle an ihrem Grab, außer Konrad. Der junge Diplomat war indes irgendwo verschollen. Das Leben im gelben Haus wurde ohne Ria ärmer und die Kontakte zu den Ex-Studenten ausgesprochen selten.

 

Abnabeln 1990

Während in den Gründerzeiten und zwei ersten Existenzjahrzehnten der DDR besonders auf das kollektive Miteinander der Menschen gesetzt wurde, fatal überzogen und regelrecht penetrant, wird heute umgekehrt der Individualismus über alles gepriesen. Die Menschen vereinzeln sich. Sogar wider ihre ureigenen Interessen. Einerseits bringt der Individualismus ungeheure Potenzen im Menschen zum Klingen, andererseits macht er ihn gegenüber der Gesellschaft schwach. Ein deutsch-östliches Phänomen dieser Tage ist, dass sich kaum wer für andere verantwortlich einsetzt, beispielsweise in Gewerkschaftsleitungen wählen lässt. Die Gründe sind vielschichtig: Einer – die schleppende Privatisierung der volkseigenen Betriebe, welche begleitet ist von einer übermenschlichen nervlichen Belastung der Belegschaften. Gemeinhin wird einfach von Angst gesprochen, die da allgegenwärtig sei. Aber die Angst um den Arbeitsplatz und damit um die Zukunft ist es nicht allein. Dieser zähe Prozess nabelt das mitfühlende Interesse der Leute an ihrer Firma innerlich ab. Es ist nicht mehr IHR Betrieb. Mit der Wende wuchs ein gewisses Eigentümerbewusstsein, welches sich die Partei früher immer wünschte, doch selten erreichte. Dort, wo es 1990 möglich war, d.h. wo die Verträge nicht storniert…, wurde für wenig Geld und unter meist schlechtesten Bedingungen hart gearbeitet, immer die Existenz der Firma im Genick. Sie wollten gemeinschaftlich überleben. Hier und da brachte die Wende sogar einen Moment von Produktionsdemokratie mit sich – Geschäftsführungen wählten sich vielerorts die Belegschaften selbst. Es gab sogar Mannschaften, die ihren Betrieb gemeinsam kaufen wollten, doch ihr Taschengeld reichte nicht. Mit der heranrückenden Privatisierung durch die Treuhand brachen Interessenskonflikte auf, und die betrieblichen Hierarchien festigten sich wieder. Auch dort, wo es keine Personalveränderungen gegeben hatte. Die Informationspflicht der Geschäftsleitungen wurden zunächst wegen der schwebenden Verhandlungen ausgesetzt. Monatelanges Unken. Jedes Gerücht lief wie ein Waldbrand. Man beobachtete die Mimik des Chefs und deutete sie sich. Und die Belegschaften wurden währenddessen dezimiert. Leute verschwanden von heute auf morgen in Kurzarbeit, Abteilungen wurden herausgelöst und verkauft, „Restbestände“ dieser im Betrieb umsortiert oder entlassen. Ohne dass die Betriebe von den Erlösen solcher Verkäufe, so sie am Tropf der Treuhand hingen, etwas sahen. Und immer wieder dieses „Wie lange noch? Wer wird noch dabei sein, wenn der Kauf perfekt ist?“ Die Leute wurden systematisch – gewollt oder ungewollt – reif geschossen, irgendwann alles zu akzeptieren, ihrer Mitsprache – bewusst oder unbewusst – längst beraubt.

In dieser Situation zwischen aufkeimendem und erbittertem Existenzkampf der Kollegen untereinander und der beinahen Selbstaufgabe findet sich halt kaum wer, der bereit ist, für den anderen den Kopf hinzuhalten. Obgleich der entstehende Effekt für den Arbeitgeber von vielen erkannt wird, regt sich nichts. Die, die diesen Blick auf die Ereignisse haben, sind durch ihre Vergangenheit diskreditiert oder empfinden sich so. Sie haben indem erlebt, was Verantwortung auch heißt: Nämlich wirklich etwas auch zu verantworten. Die Schuld zu tragen. Kollektivschuld – die einmal verhängt, augenblicklich nicht unterscheidet, ob der oder der integer gearbeitet und gelebt hat. Alle Rechtfertigungen klingen nur peinlich. Also ziehen sich besonders die Aufrichtigen der früheren Zeit in sich zurück. Nachdenklich geworden. Sie sind nun vorsichtiger als die wenigen neuen Politamateure, denn sie haben die Kehrseite von Macht und Ohnmacht gerade erlebt und sind betroffen. Nun verhält es sich aber so, dass ein Großteil dieser angeschlagenen Menschengruppe vor allem aus sozialem Engagement im politischen System der DDR tätig war. Selbst als sich der politische Handlungshintergrund immer mehr deformierte. Es ging ihnen um die Leute. Sehr viele unter jenen hatten wirklich nicht mehr als die zusätzliche Arbeit und den Ärger davon. Das war auch für die meisten Kollegen offensichtlich. Doch unbezahlte Arbeit und Ärger will die Masse gemeinhin nicht. Man bediente sich schlicht der Enthusiasten, schmeichelte ihnen, ob ihrer Fähigkeiten und konnte sich so gut heraushalten. Ja, wer also bleibt da heute für beispielsweise die Gewerkschaftsleitungen – niemand. Oder ein paar wenige, die das Elend einfach nicht ansehen können. Die westlichen Gewerkschafter beschwören nun schon beinahe ihre östlichen Mitglieder. Denn mit ihrer Inaktivität wiewohl Befangenheit wird mühselig erkämpftes Arbeitsrecht in ganz Deutschland den Bach runtergehen. Es wird nicht zu verhindern sein. Denn hier kämpft jetzt jeder für sich allein und nur wenige haben nicht vergessen, dass ihre Produktivität, ihr Einfluss allein „durch bloßen Kontakt der Menschen“ steigt.

*

Es war das Jahr vergangen, das den jungen Frauen Falten ins Gesicht schlug und graue Haare sprießen ließ. Das Jahr ’90 in Ostdeutschland, wo westdeutsche Kaufhausketten gewaltige Geschäfte machten, seriöse wie mafiotische Vertragsabschlüsse blühten oder sich anbahnten, während ein ganzes Volk sozial abstieg. Das neunziger Jahr, welches in unserem späteren Kalenderbewusstsein zwei Jahre darauf kaum noch gegenwärtig sein wird, so hastet die Zeit. Im Gedenken jener Menschen wird dieser Zeitabschnitt als die Pleite eines gelebten Lebens ankern. Die Selbstmordrate stieg in diesen Tagen rapide, denn ohne Frage: der Konkurs des sozialistischen Systems riss hunderttausendfach, ja millionenweise Einzelschicksale ins Abseits. Ohnmächtig. Schutzlos. Und was nützte noch die Frage nach der Schuld, außer der Kühlung des heißen Unmuts und dem Ablenken der neuen Mächtigen von schludriger Einigungspolitik. Es änderte nichts für den Einzelnen, dessen Berufsabschluss plötzlich, sozusagen über Nacht, nichts mehr galt. Fachkräften wurden ihre Kenntnisse abgesprochen. Bildung und Information kosteten jetzt. Doch die meisten Ossis hatten niemals so viel oder angemessen verdient, dass sie nach zwanzig, dreißig Arbeitsjahren ein kleines Kapital erworben hätten. 70 Prozent aller Spareinlagen kurz vor der Währungsunion lagen unter fünftausend Mark. Ja, diese Menschen zahlten auch für ihre Altersversorgungen, hatten Lebensversicherungen, allerdings lachhaft gering, die obendrein mit dem Eintreffen der D-Mark halbiert wurden. Die wirklich Reichen des vergangenen Systems waren jene, die es gelernt hatten, aus dem Mangel zu profitieren. Die waren jetzt auch wieder fein raus. Alsdann, die Masse hörte das Rufen der West-Experten wohl: Gründergeist sei gefragt, Ideen und marktwirtschaftliches Denken. Doch die eingerichtete, satte Gesellschaft ließ nicht viel Raum für neue Marktakteure: Vertriebsketten und Finanzwirtschaft verbauten so manchen Weg.

Abschied von der DDR
Oktober 1990

Eigentlich war die DDR schon mit dem 1.7.90, dem Tag der Währungsunion, nicht mehr existent. Diesen Einschnitt feierten die Leute fast überall, wie das Silvester eines ausgesprochen gelungenen Jahres. Nächtens zischten Raketen in den Himmel. In den Kneipen floss das Bier in Strömen. Das letzte Mal für „Alu-Chips“ blau sein – ach, ist das schön. Ein begreiflicher Taumel überall. Doch ich fand es makaber, den eigenen Untergang so naiv zu bejubeln. Man konnte doch neben dem Feuerwerk schon die dramatische Zuspitzung allen Seins im Lande erkennen, nicht himmelwärts, am Boden. Allein, dass der Osthandel abbrechen würde, die Existenzgrundlage der meisten Firmen hier, war absehbar und auch, was daraus folgt. Wir schauten verdutzt an den Licht geschmückten Horizont und konnten nicht glauben, was wir sahen: der letzte Freudentaumel eines wild gewordenen Völkchens vor seiner großen Depression. Am Tage selbst regnete es auf die Menschenschlangen vor Postämtern und Banken. Ein ganz Findiger hatte nahe der Zeuthener Sparkasse seinen Imbisswagen platziert und freute sich seines guten Geschäftes. Hans und ich waren mit dem Fotoapparat unterwegs. Solche Schlangen habe ich nur nach dem 9.11.89 vor den Pass -und Meldestellen gesehen, obgleich wir das Land der Schlangen waren. Mittags war das Geld alle, die Empörung groß, doch die Leute zogen gewohnt unterwürfig ab.

Eingedenk der Erinnerungen an die Währungsnacht, die wir allein verbrachten, fühlten Hans und ich, den 3. Oktober müssen wir mit Freunden verbringen. Wir kochten chinesisch. Gegen 21.00 Uhr schlichen Wolf und Lisa mit weißer Windel am Stock und einem Herbstblätterstrauß, in dem zig Brandenburger Papierfähnchen steckten, zur Tür herein. Ihre Art der Kapitulation. Im neu eröffneten Galeriecafé namens „Abseits“ feierten die Gäste „Willkommen Europa“. Das fanden wir treffend, aber damals kannten wir die Akteure noch nicht. Es gab etliche, die die Vereinigung skeptisch, manche auch trauernd entgegennahmen. Jeder kreative Denkansatz der Wendebewegung war damit dahin. Anschluss heißt Anschluss, nicht mehr und nicht weniger. Wir konnten mit dem Blümschen Charakterbild – wer diesen Tag in Berlin nicht vor dem Brandenburger Tor verbringe, sei eine historische Schlafmütze – gut leben. Die Straße, die hatte in diesen Tagen sowieso nichts mehr zu sagen, die Messen waren gesungen. Alles klar, by, by. Sie verschachern unserer Oma ihr klein Häuschen…

Nein, ich will nicht zurück in den DDR-Mief. Aber die Zeit um den 4.11.89 bis Januar 90 vielleicht, das war eine Zeit des bröckchenweisen Klarsehens, der vielen Hoffnungen; der Möglichkeit, sich selbst in Zweifel zu ziehen. Irrtümer zu bekennen und sich dabei verändern zu dürfen. Anteil zu haben an Demos und Runden Jugendtischen, an allnächtlichen Schaltkonferenzen am Fernseher, in der S-Bahn die Ohrstöpsel mit Debatten vom „Runden Tisch“ im Kopf. Ich hatte den ehrlichen Antrieb, den Koloss SED zu einer demokratischen Partei mit umzugestalten und jeden Tag war ich voll von beinahe wahnsinniger Arbeitswut. Davon, den erhofften Chancen, nehmen wir an diesem Tage Abschied und das tut echt weh.

Doch es dampft jetzt nur aus den Fleischtöpfen. Wir reden uns an diesem 3. Oktober heiser und mutig, schon wieder in der Nische. Aus dem Westen tönt es zeitgleich: „Die Ossi’s sind so depressiv, worum trauern die nur? Um ihr Gefängnis DDR?“ Wie viel flaches Denken, liegt in so einem Satz? Wie viel Unvermögen, das einfachste zu fassen. Mir fällt eine Lebensweisheit des Schriftstellers Ajtmatows dazu ein: „Alles, was der Mensch in der Kindheit erfährt und erleidet, alle Schmerzen, aller Kummer und alle Entdeckungen bleiben ihm für immer erhalten. Sie sind der Nährboden für die Phantasie, für Erinnerungen und menschliche Beziehungen, sie bilden so die eigentliche Wirklichkeit seines Lebens.“ Wie wahr, und wir, besonders die in den 50er Jahren Geborenen, sind nun einmal Kinder der DDR, mit allem was sie uns gab und vorenthielt.

Im Clinch

Diese Nachgeborenen. Was macht man mit ihnen? Bei einem Plausch in der Schulzendorfer Galerie, die Hans und ich im Oktober 1990 entdeckten, kamen wir mit einem Ehepaar um die 50 ins Gespräch. Beide CDU-Mitglieder. Sie zogen den ganzen Abend über mächtig vom Leder: Wer Dreiundfünfzig erlebt habe und den Mauerbau, der könne doch niemals dieses Land akzeptiert haben. Aber falls, dann war man im Bunde mit den Mächtigen, trage untilgbare Schuld, die einen nie wieder aufs gesellschaftliche Trapez kommen lassen solle…

Ich hörte zu. Verkniff mir die nahe liegende Frage: „Wo waren denn Sie die ganzen vierzig Jahre?“ und sagte dann schlicht: „1949 war ich nur ein Funkeln in den Augen meines Vaters, ’53 im Sommer ging meine Mutter gerade mit mir schwanger, ’61 war ich eben mal acht Jahre alt. Was habe ich von Ihren Eckdaten miterlebt? Wo und wer sprach offen und wahrheitsgetreu über jene Ereignisse? Zuhause schwiegen die Väter nach ihrem Zusammenbruch 1945. Mein Vater hat von der Staatsgründung aus der Zeitung erfahren. Das Jahr 53 war in den 60er Jahren an den Schulen noch Tabu-Thema…, es ist mein Land, was man mir gerade unterm Arsche weggezogen hat.“ Sie waren plötzlich still und fragten nach längerer Gedankenpause weiter und ich erzählte ihnen die Geschichte von Robert:

Robert war 1989 zwanzig Jahre alt. Ich erlebte ihn bei meiner einjährigen Recherche im EAW (Elektro-Apparate-Werke Berlin) als widerborstigen, scharfsinnigen, laxen und kontaktfreudigen Burschen, der überall genau nachfragte und sich damit rasch Schwierigkeiten organisierte. Immer aufs Schlimme. Einfach schocken und mal sehen, wie die Alleswisser sich winden.

Robert wuchs mir zu, besuchte mich zu Hause, brachte hier und da Freunde mit. Lange, anstrengende, gesellschaftsanalytische Nachtgespräche. Robert wollte Genosse werden, gegen den Willen seiner Mutter. Er suchte sich frühzeitig Wahlverwandte, was sie ihm mitgaben, war ihm wichtiger. Er verließ sich bei seiner Auswahl auf sein Gefühl, es mussten Leute sein, die ihm nicht auswichen, auch mal was riskierten, nicht ständig fertige Antworten hatten. Wir sprachen lange über die SED. Ich warnte ihn inständig einzutreten. Wusste ich doch selbst, wie unendlich groß die Kompromisse für junge Menschen sind, die aufrichtig, ohne Karriereabsichten in diese Partei eintraten, weil sie glaubten, es gäbe zu dieser gesellschaftlichen Kraft keine ernstzunehmende Alternative. Doch eine starke innere Motivation trieb ihn an. Beseelt von dem Wunsch nach konsequenter Veränderung. Robert war nicht von seinem Eintritt abzubringen. Alsbald holte er sich, wie viele vor ihm, erste Brüschen in seiner Partei. Er hatte keine Zeit Hornhaut anzusetzen. Während seiner kurzen (9 Monate) Armeezeit (1988/89) schrieb er mir seine verletzten Gefühle und Gedanken. Er kam einfach nicht klar mit der getretenen Würde. Noch bäumte er sich auf. Wollte Machtmissbrauch mit „seinen Genossen“ bereden. Stattdessen bekam er ein Parteiverfahren. Robert litt, und ich knabberte lange an seinen Briefen. Wusste, meine Antworten mussten Lebenshilfe sein. Als er im Herbst 89 nach Greifswald an die Uni ging, sah ich ihn nur flüchtig. Erst im Januar kam er wieder auf mich zu. Ich erschrak. Er war abgehärmt und hochgradig nervös. Man hatte ihn sofort in der Seminargruppe ob seiner Parteimitgliedschaft ins Abseits gestellt. Der junge Mann, dem die Freunde sonst nur so zuflogen, trug für die Kommilitonen den Makel der alten Macht. Robert schloss sich ein. Er ging wochenlang nicht unter Menschen und nur für das Nötigste in das Geschäft nebenan. Das Studium schwänzte er. Erst brauchte er wieder einen klaren Kopf, bevor sich Neues hineinstopfen ließ. Alles, jede Erfahrung, auch jede noch so elementare, versuchte er hinterfragend zu sezieren. Fast wahnsinnig darüber geworden, gab er gegen Weihnachten die Selbstkasteiung auf. Misstrauisch geworden gegen alles und jeden. Immer noch gehörte er zur nun SED/PDS. Obgleich diese Partei nur Ärger verhieß, er wollte sie mit aufräumen, bis sie sich von selbst erledigt hat. Nur dort, im Norden, kannte er kaum jemanden gut genug, mit dem er gemeinsam so etwas durchgestanden hätte. Eine Selbsthilfegruppe vom „Neuen Forum“ in Greifswald fing ihn dann auf. Gott sei dank, denn er war seinerzeit dicht dran, das Leben zu verlassen. Sie nahmen ihn an, wie er war.

Verlust oder Gewinn, wer vermag das für uns Kinder der DDR schon genau erfassen? Es wird sich zeigen. Aber sie schlechterdings alle als Mitläufer, Betonköpfe, Wendehälse… als korrumpierbar zu betiteln, wäre ein Hohn. Sie hatten andere Existenzbedingungen als ihre Eltern.

Die CDU-Frau mir gegenüber hat sich schließlich entschuldigt und den Feind (es war das Jahr der Wahlen), den sie anfänglich in mir sah, begraben. Jetzt konnten wir aufeinander zugehen.

Willst Du Bundeskanzler werden?

November 1990

Das Telefon klingelt. Auf der anderen Seite ist Ellen: „Du suchst doch eine andere Arbeit? Nimm dir morgen frei und komm‘ in das Berliner Kongreßzentrum. Motz dich ein bisschen auf. Die Sache ist interessant, ich kann am Telefon jetzt nicht mehr sagen.“ Ich vernahm es und sage hocherfreut zu. Womöglich löst sich endlich das Spinnennetz.

Seit Juni arbeite ich für das Heimwerkermagazin „practic“. Nicht ganz freiwillig. „PeP“ (Podium eurer Probleme), das sozial-politisch orientierte Wendemagazin des Verlages Junge Welt, wurde aus ökonomischen Gründen eingestellt. So sagte man es uns jedenfalls. Öko-Freaks hätten ihre helle Freude an dem Papier gehabt, auf dem wir druckten. Acht schmale Ausgaben des kleinen grauen Falters im bunten Blätterwald hatten wir immerhin produziert. Das Ganze selbst entwickelt und geradezu aufopferungsvoll betrieben. Was uns damals, von Januar bis Mai 1990, alles um die Ohren flog, schildern Briefauszüge an meine Freundin Steffi, die mit ihrem Mann 1989 im Sommer für ein Jahr dienstlich nach Genf ging.

28.1.90

„Liebe Steffi,

…Der Verlag wackelt. Wir wollen trotzdem in den nächsten Tagen eine GmbH daraus gründen. Wochenlang sind wir herum gesockt, um uns kundig zu machen: Wie gründet man eine GmbH? Aber ob wir die laufenden Produktionskosten aufbringen können – alles steht in den Sternen. Die Kassen in den Betrieben sind wie stets zum Jahresende leer. Zuweisungen von Produktionssummen aus dem Volkswirtschaftsplan sind ungewiss – es gibt einfach noch keinen. Wie wir das unter diesen Umständen schaffen sollen, alle Presseerzeugnisse gewinnbringend umzuprofilieren, ist mir schleierhaft. Trotzdem arbeiten wir an der Herausgabe unseres neuen Jugendmagazins. Euroformat und Farbe (für den Innenteil) musste uns der Verlag schon streichen. Sehr ernüchternd. Mach‘ mal auf Klopapier ein Magazin. Unsere Fremdgestalterin war ganz schockiert, als dieses – A5-Format – ihre Ideen zerstörte. Die Redaktion befiel ein absolutes Stimmungstief an diesem Freitag. Zulange haben wir mit derartig schlechten Voraussetzungen herum gewurschtelt. Ich hab’ mich am Wochenende hingesetzt und fiktive Titel-Scribbles entworfen. Ausschließlich, um das Team montags zum Weitermachen zu motivieren. ‘Einfach‘ demonstrieren, aus diesem Format lässt sich auch was herausholen. Du glaubst nicht, was man alles veranstaltet, wenn man sich in der Lage glaubt, diese Hoffnungsvision für eine Mannschaft hervorzaubern zu können. Nicht aus einem Höhenflug heraus. Ich weiß sehr wohl, eine Schrift- und Plakatmalerin vor 18 Jahren, ist längst kein Layouter. Aber es ging nicht um Perfektion. Ich fühlte mich verpflichtet, ohne dass jemand von mir Inspirationen erwartete. Es sind ein paar brauchbare Entwürfe und Karikaturen herausgekommen, die den Zweck erfüllten. Die Redaktion strahlte am Montag. Meine Entwürfe hatten ihre Vorstellungskraft geweckt. Wenig später stritt man sich wieder heftigst um die Inhalte – von links bis sozial-liberal, gut. Als mittags unerwartet unsere Layouterin ihre ersten Logos vorlegte, entstand eine prickelnde Situation. Alle saßen stumm um den großen Tisch herum, bis ich daran erinnerte: ‘Meine Entwürfe waren nur therapeutisch gedacht. Diese hier sind besser.‘ Stell’ Dir vor, erst dann freundeten sie sich mit den wirklich pfiffigen Logos an. So ist das, die meisten Menschen sind Augentiere, aber haben keine gestalterische Phantasie, auch Redakteure oft nicht…

23.2.90

…Heute war ein richtig guter Tag. Obwohl der Vormittag in der üblichen Hektik zerfloss. Die fiel völlig von mir ab, als ich ausnahmsweise schon gegen halb vier im sonnenüberfluteten Garten saß. Kurzärmelig! Unmengen von Blüten und Bienen um mich. Irre, es ist Februar, und wir haben draußen 19 Grad. Und während ich das zeitige Frühlingserwachen genoss, kam dieses unbeschreibliche Gefühl in mir auf, heute etwas ganz Besonderes in den Händen gehalten zu haben: Den ersten Andruckbogen unseres ersten „PeP“-Titels. Ich bin damit inklusive einer Kurznachricht zum Jugendfernsehen „Elf 99“ gesockt. Das Papier war druckfrisch, klebte und roch noch. Ich musste es wahrlich in Vorhalte mit der S-Bahn von der Friedrichstraße nach Adlershof befördern, um den Druck nicht zu versauen. Aber ich laufe ja gerne Reklame für meine Firma. Der Nachrichtenmann ließ sich beschwatzen. Um 17.00 Uhr bringen sie die Nachricht kostenlos. Spitze! Ach, da kann man momentweise allen Zoff wegstecken. Bis das komplette Heft da ist, vergehen noch elf Tage. Langsam zählen wir sie mit, wie die Kinder vorm Weihnachtsfest. Hoffentlich kauft das Heft einer. Für Marktforschung war weder Zeit noch Geld. Gegenwärtig schreibe ich sehr viel selbst. Probiere mich ein bisschen in Satire. Meine erste Glosse kommt in der zweiten Ausgabe. Schwierig nur, dass mich immer die tiefsinnigen Metaphern anspringen. Die sind wohl nicht softig genug und ohnehin nicht jedermanns Sache. Das liegt in der Zeit. Ich kann mich halt nur denkenden Lesern zuwenden…

20.3.90

… „PeP“ ist seit acht Tagen von der Druckereirampe und irgendwo bei der Post verschollen. Nirgends ist es am Kiosk zu sehen. 25 000 Stück hat die Post gekauft. Weiß der Geier, wo sie die Dinger auf den Markt schmeißen oder in welchem Lager sie verstauben. In einigen Tagen werden wir es genauer wissen. Stell Dir vor: 5 000 Stück haben wir selbst verkauft. Nach der Arbeit, versteht sich. Der reinste Wahnsinn. Aber was willst Du machen, wenn Du auf der Seite der Don Quichottes stehst? Die Post bestellt jetzt konsequent nach dem Bedarf. Du weißt ja, bisher kaufte sie die ganze Auflage und trug das Verkaufsrisiko völlig allein. Da wir verspätet erschienen (es gab Montageprobleme in der Druckerei), konnte es zu ihrem Stichtag keine verkauften Exemplare geben. Lediglich 3600 Abonnenten (Leute, die allein durch unsere Presseinfos bestellt haben. Erstaunlich nicht?). Im Klartext heißt das jedoch, von der 2. Auflage wird uns die Post nur 10 000 Stück abnehmen. Andere Vertriebsstrecken haben wir noch nicht. 30 000 gedruckte Exemplare sind aber das Mindeste für rentables Arbeiten. Der Preis von 1,80 M wäre dann gerade kostendeckend. 20 000 Stück selbst zu verhökern, ist bei unseren paar Hanseln in der Redaktion (zwei von denen im Impressum sind im Schwangerschaftsurlaub) illusionär. Jetzt hat unser Verlagsvertrieb mit der Post ein Kommissionsgeschäft angeschoben. Damit verlagert sich das Risiko auf unserer Seite. Zugleich aber ergibt sich für uns die Chance, noch Leser zu gewinnen. Die Verkaufskultur an den Kiosken ist traurig. Kleinere Magazine verschwinden unter den Lasten der vielen Tageszeitungen, die seit März den Markt überschwemmen. Welch’ ein Überfluss! Die Post, sollte sie auch nur ein Fünkchen Geschäftsinteresse haben, kann es gut verbergen. Doch mit diesem Desinteresse sterben hier die neuen Blätter. Unsere Posttante auf dem Bahnhofskiosk habe ich mit einer Tüte Kaffee ‘bestochen’, damit sie probeweise für uns zehn Hefte verkauft. Alle sind weg. Nach dem 18.3. kam PeP endlich in die Kioske (Nach den Wahlen. Alles klar. Wer hat 14 Tage darauf gesessen?). Elf Exemplare kamen dann noch an den gleichen Kiosk. Die wurden gleichfalls verkauft und Zeuthen ist nun wirklich kein besonders links-liberaler Ort…

26.3.90

… In dieser Woche gelang es unseren Vertriebsleuten, 450 Kioske als erstes eigenes Vertriebsnetz zu gewinnen. Die einzige Möglichkeit, Herr der Lage zu werden. Es hat den Anschein, die Post blockiert die neuen Zeitungen. Sie erscheinen ständig erst verspätet auf dem Markt. Und wir ackern wie die Blöden, keine Zeit, keine Zeit, die „PeP“-Ausgaben werden zusehends besser…

5.6.90

… mitten im Urlaub richteten mir meine Kollegen telefonisch aus, „PeP“ ist mit der 8. Ausgabe eingestellt. Die Ökonomie ist das eine, das andere die Meinung unseres neuen westlichen Vertragspartner. Jener Westverleger will mit dem Verlag Junge Welt eine Tochter gründen. Dabei wurden alle Publikationen gesichtet und „PeP“ für „zu linkslastig“ befunden. Was die unter links verstehen, ich meine, das Magazin wandte sich mit zunehmenden Ausgaben eher sozialen Zündstoffen von humanistischen Grundpositionen aus zu. Tja, so ist das. Und mir war vielleicht flau an diesem Tag. Obgleich wir wussten, wir haben keine langfristige Chance. Aber man kann mit diesem Wissen nicht kreativ sein, also verdrängt man es doch. Ich fiel seelisch in ein großes schwarzes Loch. Ausgebrannt. Ich hätte mich ständig betrinken können und hab’s am ersten Abend auch. Das Mitleid der anderen Kollegen im Ferienheim war mir unerträglich. Da hockst du nun mit so einer Nachricht auf einer sonnigen Frühlingswiese am Scharmützelsee, und das große Zittern kommt über dich. Hans‘ Arbeit ist ja auch schon lange vakant. Du weißt, er wird umschulen müssen. Ergo obliegt es mir, die Familie im kommenden Jahr über Wasser zu halten. Und nun? Der Kurzurlaub war gelaufen. Wir sind vorzeitig abgereist. Montags darauf hab’ ich Arbeit bei „practic“ gefunden. Die kommt jetzt monatlich, hat Euroformat, vierfarbig, 68 Seiten. Ja freilich, an diesem Objekt hat der Westverleger ein Interesse (130 000 Abonnenten) und schon geht’s. Die Kosten trägt aber unser Haus. Die „practic“-Leute sind mächtig schräg: langsam, altmodisch und intrigenhaft. Bisher produzierten dieses Blatt, was unlängst noch vierteljährlich, A5 mit 45 Druckseiten erschien, drei Männer. Was haben die da solange dran gemacht? Von dem eingestellten „technikus“ kamen noch zwei Leutchen hinzu und nun ich. Das Klima ist saumäßig. Nichts haucht irgendwie Kreativität. Ach, Steffi, schon nach den ersten Tagen könnte man die Ohren hängen lassen. Die dort haben nicht begriffen, dass ihnen nur eine kurze Galgenfrist bleibt. Jeder Anstoß, den ich gebe, wird als Stuhlsägen gedeutet. Es ist zum Kotzen. Wie soll ich das nur aushalten?…

3.9.90

… Ich hab’ Zuhause in unserem Freizeitschuppen wieder einmal eine Klausur veranstaltet. Weiß gar nicht mehr, die wievielte das in den 11 Redaktionsjahren schon ist. Kennst das ja, ein-, zweimal im Jahr machen wir unsere langfristige Themenplanung und Serienkonzeptionen. Die „practic“-Leute wissen nicht mal, was das ist. Ich konnte‘ einfach wieder nicht mehr zusehen. Habe acht Seiten Positionspapier zur Profilierung verfasst, freiwillig und eingeladen, auf dass sie sich bei Chianti und russischer Soljanka daran wetzen und zu Ideen finden. Gekommen sind die meisten wie die Schneider. Es war eine völlige Luftnummer. Nichts ist erreicht, kein bisschen hat sich bewegt. Ich kriege kaum Luft in dem Stall. Was mach’ ich nur? Du weißt, ich habe keine Chefambitionen, war es aber gewöhnt, Ideen einbringen zu können. Hier aber läuft das nicht. Ich möchte am liebsten abhauen, aber wohin? Es gibt keine freien Stellen. Überall ist Einstellungsstopp…“

*

In jene anhaltende Situation kam Ellens Anruf. Ich machte an diesem Tag das Beste aus meinem Gesicht. Schmiss mich in akzeptable Klamotten und fuhr aufgeregt mit der S-Bahn zur Janowitzbrücke. Vor der Wasser-Trotz-Burg, der gewesenen Gewerkschaftszentrale (FDGB), wartete Ellen. „Worum geht es? Kannst Du das jetzt wenigstens sagen, damit ich nicht total ahnungslos darein tappe?“, bohre ich sie gleich an, nervös, wie stets, wenn ich nicht ganz klarsehe. „Komm, wir setzten uns ins Restaurant, es bleibt noch ein bisschen Zeit“, spannt sie mich weiter auf die Folter. Die Gaststätte ist leer. Nur an einem Tisch debattieren drei Leute heftig. „Da sitzt der, den wir treffen werden“, deutet Ellen hinüber. Ich schaue verdutzt noch einmal hin und bemerke: „Das ist doch Uwe Groß von Elf 99. Was hat der denn zu bieten?“ „Er gründet gerade eine Firma, die auch Künstler fördern will.“ „Ach, interessant und womit bezahlt er das?“, frage ich skeptisch. „Hör’ Dir an, was er selber sagt.“

So verplätschern wir uns in ein Gespräch von Alltäglichkeiten, bis er auf uns zukommt. „Ja, meine beiden Schriftstellerinnen, gehen wir rauf in meine Suite. Ellen, warum warst du gestern nicht beim Presseball, da hättest Du sehen können, wer unsere Geldgeber sind.“ Wir hasten seinen langen Schritten nach. Groß schaltet den Videorecorder ein und deutet eine für ihn spannende Szene vom Vorabend. „Da sitzt das Geld. Das ist der heimliche Bundeskanzler. Und mit dem helfen wir Helmut Kohl den Satz ‘Keinem soll es schlechter gehen‘ zu verwirklichen…“ Ich lehne mich tief durchatmend zurück und denke mir, wo bist du denn hier hingeraten. Groß bestürmt mich plötzlich mit Fragen ohne längere Antworten als ja – nein zuzulassen: „Du willst Bücher schreiben, dann tu‘ es. In 14 Tagen will ich dein erstes Exposé haben. Dann machen wir einen Vertrag. Du hörst auf zu arbeiten, bekommst 2000 DM Arbeitshonorar. In vier bis sechs Wochen muss das Buchmanuskript vorliegen. Dann gibt’s 15 000 DM. Mit dem überschüssigen Gewinn finanzieren wir andere Projekte. Um das Verlegerische kümmere ich mich. Mach‘ es. Du kannst auch Bundeskanzler werden, wenn du es willst. Ich kenne die richtigen Leute.“

Ich will einlenken. Auf die Schwierigkeiten im Verlagsgeschehen aufmerksam machen. Aber der Typ mir gegenüber scheint absolut abgehoben. Sein Geist ist entweder verwirrt, vielleicht aber auch genial. Doch ich fürchte das erste. Uwe Groß sprüht Ideen, erzählt von einem Aktienfernsehen fürs Volk. „Schauen Sie fern und werden Sie dabei reich…“ Er will Elf 99 kaufen. Mir wird schlecht. Der Typ quatscht mich besoffen. Zwischendurch verhandelt er mit Ellen. Er will an ihr Recherchematerial heran, das sie für den Verlag „Neues Leben“ und filmisch für Elf 99 bearbeitet. „Wendepolitikerporträts“. Ellen hat berechtigte Skrupel. Uwe Groß bleibt unnachgiebig. Sie auch. Eine Handvoll Minuten und wir sind wieder draußen. Laufen schweigend hinunter zum Café, brauchen Zeit zum Verdauen. „Ellen, ich glaube, der spinnt.“ Aber was, wenn nicht? Wir wägen ab. Im Ergebnis schreibe ich das Exposé, kündige aber nicht.

Bis Februar 91 fesselt diese Sache meine verbleibenden Feierabende. Das Exposé brauchte nur ein Wochenende. Groß nickte zustimmend, machte mir Mut, bekam aber Zweifel, ob solche Themen absetzbar seien.

Schon lange schwebte mir so etwas vor: keine Literatur, sondern Interviews mit fortschrittlichen Wendeakteuren. Alle zum gleichen Fragenkomplex. Die verschiedenen Sichten und unterschiedlichen Rollen würden die Spannbreite der Wende Teil I dokumentieren. Vorab je ein Kurzporträt und gute Milieufotos. Jetzt, nicht erst, wenn es eine klare, abgeklärte Draufsicht auf die Bewegung gibt. Von Uwe Groß hörte ich nicht mehr viel. Nur dass man ihn bei Elf 99 als Abteilungsleiter feuerte, und der Mann sich hoch verschuldet habe. Seinen Maklervertrag zerriss ich im Dezember 90. Fürs Schreiben sollte ich von ihm auf „Grünes Licht“ warten. Von dem Arbeitshonorar war längst keine Rede mehr. Ich schrieb trotzdem an meine Auserwählten lange Briefe. Bekam positive wie negative Antworten. Die Sache zog und zog sich, bis schließlich die Zeit über die Idee hinwegging. Aber ich war durch dieses „Willst du, dann mach es!“ motiviert. Ich besann mich auf mich selbst und begann Notizen für etwas Eigenes aufzunehmen. Von niemandem abhängig. Was es werden sollte, Wusste ich noch nicht genau. Klar war nur, das jetzt Gelebte ist insgesamt wichtig, weil die Zeit kaum wem Besinnung gestattete.

Verwaiste Plätze

Klick-klack, klick-klack tippelt es stelzend im Innenhof des HdjT (Haus der jungen Talente) in der Klosterstraße. Eine Frau durchquert zügig den unbedachten Raum, in dem sich ein milder Herbstabend fängt. 4.11.1990. Im großen Saal referieren internationale Mitglieder und Gäste des Europäischen Bürgerforums. Aber ich konnte mich dort nicht erwärmen, taub für den bedeutsamen Redeschwall. Das Gemäuer wirft das Echo meiner Jugend zurück. Es ist lauter. Gesichter tauchen vor mir als Irrlichter auf und verschwinden wieder im wirklichen Menschengewühl. In einem Seitengang lehne ich mich in ein geöffnetes Fenster und rauche. Mir ist schlecht vor Einsamkeit. Was hat mich nur geritten, hier alleine aufzutauchen? Aber am 4.11.89 war ich ja auch alleine unter einer halben Million Menschen. Hans wollte damals wie heute nicht mit. Heute – nun gut, aber vor einem Jahr ließ sich in der Redaktion auch keiner auf Verabredungen ein. Dabei ging es doch auch um uns Journalisten: „Meinungsfreiheit, Pressefreiheit…“.

Der Mann, der in der „Jungen Welt“ am 8.10.89 seinen Kommentar zu den vornächtlichen Ereignissen mit der Frage „Wer seid Ihr?“ überschrieb, schreckte die Kollegen bei einem Verlagsforum am 3.11.89 mit den Worten: „Wer da (am 4.11.) hinginge, stütze die Konterrevolution!“ Eigentlich ging es am 3.11. um Analytisches zu rechtsradikalen Tendenzen im Land. Doch die eingestreute Warnung wirkte auf viele. Auf mich nicht mehr. Ich sah die Dinge schon anders, aber keineswegs klar. Erst unterwegs, in diesem Riesenstrom der unterschiedlichst denkenden Menschen begriff ich, es geht auch um die unkaschierte Meinungsfreiheit eines jeden. Ungeheuerlich. Warum ist mir das nicht schon früher bewusst gewesen? Wie kam ich denn nur darauf, dass es ausschließlich um Presseleute gehen könnte? Und keiner da, mit dem man dieses obskure Erwachen bereden könnte. Beängstigend. In diesen Tagen verklickern sich mir die Ausmaße meiner Denkfehler. Immer noch mehr ahnungsreich als wissend. Und das widerfährt jedem Beteiligten in der ehemaligen DDR auf andere Art und in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Es sind die jungen Leute, mit denen ich, durch meine Arbeit in der Jugendpresse, jetzt am besten reden und denken kann, während meine Verwandten und Bekannten noch in ihren Grübelkisten sitzen. Aber heute? Als „PeP“ tot war, ich so den Leuten im Haus der Jugend unter den Linden nicht mehr nützlich schien, wurde ich auch dort zum Fremdkörper, mit dem man nur noch höflich umging. 4.11.90 im HdjT – das ist auch nicht mehr die Szene der Akteure und Zaungäste der gewaltigen Demo des Vorjahres. Die Jungen, 16- bis 18jährigen, erobern sich ihr Haus zurück. Wehmut? Ja. Gespaltenes. Ich habe bekannte Gesichter erwartete. Nicht nur die unnahbare Creme der Wende. Aber nichts da. Stattdessen tänzeln mir verstaubte Lieben im Kopf herum und die Aktionen im damaligen Iskraclub des Hauses. Die Nächte, in denen wir Angela-Davis-Plakate malten und Petitionen für Corvalan verfassten, die ungezählten elitären Politdiskussionen. Bettina Wegners „Eintöpfe“. Diese couragierte Liedermacherin, die selbst hochschwanger in engem, schwarzem Zeugs gegen die vielen Stasiisten im Saal ansang. Und hinter der Foyer-Diskothek Bastians Erzeuger. Man, ist das lange her. 1971/72. Fünfzehn Jahre später stand der Typ vor meiner Tür und wollte erstmals „seinen“ Sohn sehen. Klick-klak tönt es wieder vom Hof verloren durch die Nacht: Was willst du noch hier? Hast dich in der Party geirrt? Geh nach Haus spätes Mädchen.

Unbestimmt mulmig

Mai 1991

Es gibt schlimme Tage, die selbst unbekümmerte Menschen Nerven spüren lassen. Tage, die man einfach nicht mit Fassung trägt. Darüber gehen Familien kaputt oder werden arg strapaziert. Jetzt, in diesen Tagen, kann kaum jemand noch ausgleichend wirken. Alles prallt ungefiltert, ungehemmt aufeinander. Der Handlungsspielraum vieler ist nunmehr so eng, dass sie sich von ihm erdrückt fühlen.

Bastian hat seine Freundin geschlagen. Auf der nächtlichen Straße vor unserem Haus hatten sie ein rüdes Wortgefecht. Ich saß wohl mit der gesamten Nachbarschaft aufrecht in den Federn. Bastian  lief dann in die Nacht, und sie zog in meiner Küche ein scharfes Messer an ihrem Handgelenk entlang. Irgendwie spürbar für mich. Ich schlüpfte in den Morgenmantel und sah sie dann so: verheult, hilflos, ein großes, abhängiges Kind, das gerne Frau sein möchte. Am liebsten eine verwöhnte Westfrau. Aber sie ist im Osten geboren, und hier ist man/frau bisher für sich selbst verantwortlich gewesen, so man konnte. Bis fünf Uhr morgens besprachen wir den Ärger, weswegen er ausbrach, erfuhr ich erst von Bastian.

Fassungslos macht mich das, mein Sohn schlägt zu. Der, der stets einen starken Freund neben sich hatte. Ein vorsichtiger Typ. Nie gab es in unserer Familie ein Faustrecht. Während des Frühstücks verwickele ich Bastian in ein Gespräch. Was er hervorbringt, deutet seine Überforderung: Julias Lehrstelle ist wegen Konkurs geplatzt. Seit Monaten liegt sie ihm und uns auf der Tasche. Sie ist 17. Die Eltern? Die kümmern sich nicht. Haben das Mädchen bequemerweise abgeschrieben. Nicht selten heute.

Gestern auf der Disco kam eine Folge heraus. In der ersten Nacht, die beiden Frischverliebten hatten, logierte noch ein Kumpel in Bastians Zimmer. Mit dem hat sie es auch noch getrieben, als der erste ermattet entschlafen war. Das Warum ist schlimm: „Ich Wusste ja nicht, ob es mit Dir was wird. Und nach Hause wollte und konnte ich nicht.“ Sie hielt schlicht und ergreifend zwei Eisen im Feuer. Bastian ist sauer. Ich sehe darin nur die Zeichen der ‘neuen’ Zeit. Sie hat sie schnell begriffen. Und er kann das Mädchen nicht lassen.

Doch schon drängelt Hans und mich die nächste Aussprache. Lange fällig: wir wollen umziehen. Das Abwarten auf dem Westgrundstück nagt an allen in der Familie. Renoviert werden müsste mal wieder. Seit der Wende unternahmen wir für das Outfit unserer Wohnungen wenig. Wofür? Wir sind in der Wohn-Warteschleife. Ja, es war noch kein Wessi mit ’nem Zollstock da. gewiss jedoch ist, die Erbengemeinschaft will alsbald verkaufen, und wir können den Preis nicht aufbringen. Derweil hat sich uns eine Tauschmöglichkeit aufgetan. Die Leute würden nur kurz in Zeuthen bleiben, dann gänzlich die Region verlassen. Das Westeigentümerproblem tangiert sie somit nicht. Doch dies den Eltern zu sagen – eine Hürde, vor der ich wie ein Rennpferd ausbrechen möchte. Eine neue Wohnung ist wie ein neues Leben. Wahrlich, es wird sein.

Wir steigen beklommen die Stufen, die ich schon hunderttausendfach genommen hab’, hinauf zu den Eltern. Mein Magen schmerzt schon tagelang. Mein Gott, ich hab Schiss vor Vaters Unverständnis. Wir ändern mit unserem Plan auch seine Lebensgewohnheiten. Die liebgewordene Vertraulichkeit im Haus wird es nicht mehr geben. Altes Gewohnheitsrecht im Garten auch nicht. Das Gemeinschaftsbad, das vermengte Stromnetz – all das schießt mir auf diesen Stufen durch den Kopf. Abnabeln tut weh. Je später, je schmerzhafter. Da jetzt jeder auf seine eigenen Probleme fixiert ist, kann er die Last des anderen kaum mittragen oder will es auch nicht. Insofern ist nicht mit Verständnis zu rechnen. Die gute Nachricht zuerst: „Ich hab‘ die Zustimmung zur Umschulung vom Arbeitsamt. Musste jedoch selbst kündigen, damit meine Sperrfrist bis zum 2. September abgelaufen ist und die Leistungsstelle die Finanzierung des Jahreskurses übernimmt. Mein Betrieb kann mir da nicht anders helfen, er wird abgewickelt…“ Hans erzählt und erzählt ganz ausführlich, die beiden hören ihm zu. Mein stiller Hans, der gerne allem Ärgerlichen aus dem Weg geht, spricht dann aus, was wir vorhaben. Es geschieht selten, dass er mir etwas derart Unangenehmes abnimmt. Er fühlte wohl, dass für mich diese Stunde ein Gang nach Canossa ist. Vater und Frau schweigen eisig. Er scheint mir heute noch grauer als sonst, seine Augen starren ins Leere. Sie hebt vorwurfsvoll an: „Man kann sich eben auf niemanden mehr verlassen! Wir dachten, ihr nehmt einen Kredit und kauft das Haus. Wir sind beide bald Vorruheständler ohne Rücklagen, also nicht kreditwürdig.“ „Wer denn, wir?“, frage ich verzweifelt zurück. „Hans ohne Arbeit. Ab September bekommt er 650 DM Umschulungsgeld. Ich kann täglich meinen Job verlieren, ohne Gewissheit, wie es weitergeht. Gut, Bastian verdient ab nächsten Monat und wird sich dann an den Unterhaltskosten beteiligen. Das ist ein Lichtblick für den Alltag, mehr nicht. Aber ihr kennt doch die Situation. Was erwartet ihr? Sollen wir uns haltlos verschulden? Ziehen wir weg, ist die größere Wohnung des Hauses über kurz und lang frei, da ist anzunehmen, eure wird damit sicherer. Denn es ist doch vorstellbar, dass die neuen Eigentümer eure Einliegerwohnung weitervermieten. Sicher ist das nicht, aber möglich. Natürlich, ohne uns ist das Leben im Haus nicht dasselbe…“

Das Gespräch mündet in glühenden Verteidigungsgefechten beiderseits. Keiner kann die Position des anderen annehmen. Hans und ich fühlen uns unverstanden, aber – es ist raus. Die Spannung im Haus, die nach Muttis Tod mit Vaters neuer Frau und ihren Kindern kam, wird damit wachsen, logisch. Aber es herrscht endlich Klarheit, nach dem monatelangen Hin und Her: „Was machen wir, wenn die Wessis kommen?“ Wir gehen vorher. Unsere Lösung, keine typische. Wo sollen auch all die Ossis hin?

Leicht gesagt, aber Abschied von dem gelben Haus an der Bahn ist einschneidend. Nun doch wehmütig, beginne ich noch an diesem Wochenende in zehn Blumenkästen einen Kleingarten einzutopfen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, ich komme mir vor wie Noah, dem der Reeder nur eine Mini-Arche zur Verfügung stellte. Ein Balkon ist halt kein Wildgarten. Wie ich so vor mich hin buddele frage ich mich, wie man die Pflanzen auf dem Balkon vor dem Ausfrieren bewahren kann und entwickele die Idee von einem „Winterfesten Balkonhochbeet“, die Hans wieder ausführen „darf“. Hm, er liebt meine Ideen. Wird ganz unruhig, wenn ich die so vor ihm auswickle, ahnungsreich – das macht Arbeit. Diesmal wird zugleich ein Beitrag für „practic“ daraus. Das entschädigt.

Abends kommt Bastian früher nach Haus. Er baut sich auf seiner Liege ein warmes Nest und stöbert in seinen Prüfungsunterlagen. Wälzt noch einmal seine Hausarbeit, woraus könnten sich Fragen ergeben? Übermorgen ist der große Tag, die Facharbeiterprüfung. Aber denkste. Montag zerschlägt sich das. Sein Bauleiter sagt ihm kurz vor Feierabend zynisch: „Herr Scher, sie können heut‘ Nacht ruhig schlafen, die Prüfung morgen fällt aus. Die Handwerkskammer hat beschlossen, Sie dürfen noch ein Jahr länger lernen.“ Bastian hätte zornbebend am liebsten alles hingeschmissen. Es flog und kochte in ihm. Selbst auf dem Weg nach Hause fiel die Erregung nicht von ihm ab. Noch ein Jahr ohne eigene Kohle. Die Urlaubspläne für den Sommer dahin. Mutter wieder anpumpen, denn das Leben mit Julia kostet… Was sollte ich ihm sagen? Ich hatte selbst daran zu schlucken. Besonders an der Art, wie und wann der Fakt übermittelt wurde. Wenngleich, den Sohn beruhige ich naturgemäß: „Bastian, das kriegen wir schon gemeinsam in den Griff.“

Ja, aber wie wird das wirklich gehen? Einer von 19 Jahren, der schlicht und ergreifend einen Beruf lernte, der war in der DDR volljährig und wirtschaftlich unabhängig. Erst recht ein Baufacharbeiter. Das waren die Könige unter den Arbeitern. Ihr Verdienst war gleichzusetzen mit denen eines Hochschulkaders auf fortgeschrittener Entwicklungsleiter. Ungerecht, selbstverständlich. Alsdann, es war so und deshalb wollte Bastian diesen Beruf und verwarf seine Abiturpläne. Er sah, wie ich abends lernte, die Probleme nicht aus dem Kopf bekommen, wochenends unterwegs für die Zeitung. Schließlich fand er: „Mensch, Mutter, ick müsste ja nicht richtig ticken – für die lächerliche Kohle.“ Jetzt hat sein Ego einen Riss.

Ein schweres Frühlings-Gewitter lässt es im Wohnzimmer schon dämmern. Schwarz-grün dunkelst vom Garten her. Beim Abendbrot klagt Bastian unvermittelt über Bauchschmerzen. Morgens geht er zum Arzt. Blinddarmentzündung. Donnerstag soll er zur Beobachtung ins Krankenhaus. Den Tag dazwischen nehme ich frei. Bastian gerät bei solchen Sachen schnell in Panik, oder bin ich es?

Im Verlag wurden in diesen zwei Tagen viele ältere Kollegen entlassen und die Redaktionsarbeit von „Siehste“ (der ehemaligen Schülerzeitung „Trommel“) eingestellt. Es bröckelt weiter und die schlechten Nachrichten wollen nicht abreißen. Bastian lässt sich gehen und seine ganze schlechte Laune raus. Er schwankt zwischen dem Genuss von Mutter verwöhnt zu werden und gähnender, missmutiger Langeweile. Dass der Junge nichts mit sich anzufangen weiß! Mittags ist die Bude wieder voll. Seine Kumpel haben wohl alle plötzlich was an Bauch und Seele und fühlen sich so „frei“. Der Herr Sohn schlägt plötzlich, umringt von seiner blaufeiernden Meute, Töne an: „Eh, Mutter noch ’n Kaffee für Sveni und Maikosch. Und haste noch Zigaretten? Wo is’n meine Hose? Eh, noch nass? Ich will die jetzt anziehen.“ Ich denke, mich tritt ein Pferd: „Bin ich dein Zimmerservice? Und was soll der Ton?“ „Ach, lass mich zufrieden“, gibt er mir oberfein zurück. Ich lasse ihn stehen, schnappe mir ein Foto mit dem Titel „Chaos“ (lauter ineinander verschlungene Rohre. An instabilen Schweißnähten spritzt Wasser heraus.) und verlasse das Haus. Zwei Straßenecken weiter wohnt Lisa. Ich drücke ihr das Foto in die Hand, murmele „so geht’s mir“ und bekomme am großen Küchentisch Kaffee. Sonst sitzen vier Kinder hier herum. Die Zwillinge waren ein „Verkehrsunfall“ kurz vor der Wende. Wir reden mich ruhig. Nach einer Stunde geht’s mir besser. Ich kann wieder nach Hause stapfen und mich an meine Buch-Rezensionen machen.

So war das früher fast immer. Du bist im Schlingern, kommst mit irgendetwas nicht klar, dann pilgerst du halt um die Ecken zu Freunden. Dieses – wegen der Freunde hier geblieben – hört man jetzt allenthalben. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, erklärt nicht den Anfang, und wo der nicht hervorgekramt wird, entstehen die Mythen. Wenn der Mensch seine Träume aufgibt, hat er auch keine Freunde mehr, abgeklemmt vom Leben, nur noch fernsehgelähmt. Unser Freundeskreis hatte aus heutiger Sicht etwas Inzüchtiges. Ungewollt, es ergab sich einfach so. Man lernte sich bei der Arbeit oder im Studium, in Versammlungen, bei Vorbereitungen von Kiezfesten kennen oder wurde in vorhandene, ähnlich entstandene Kreise eingeführt. Es traf sich ohne Absicht, dass wir alle Genossen waren. Wir, alle um die 30 Jahre alt, hielten uns für wesentlich liberaler als die Älteren. Noch waren wir fähig, kritisch zu denken. Aber wir hatten bereits die Ohnmacht im Nacken gespürt und gerieten so doch schon sehr angepasst. Unsere Verabredungen wurden zu Debattierabenden. Wir fühlten, dass die Verhältnisse unsere Träume platzen ließen. Wo waren die Schnittstellen, an denen die Irrwege ansetzten? Philosophisch, ökonomisch, politisch, menschlich? Kontroversen, die meist in fast depressive Lethargie mündeten. Und doch, wir hatten uns, konnten offen reden, Gedanken aneinander reiben und sei es drum, gegebenenfalls so den nächsten Tag besser zu bestehen. Denn man brauchte natürlich auch Zivilcourage zu den kleinen alltäglichen Änderungsversuchen: Ein kniffliges Serien-Thema anständig durchzustehen, wenn schon Politiker energisch nachfragten „Muss das jetzt sein, warum greift sie denn jetzt so etwas auf?“ Beispielsweise: Die Lebensweise junger Leute auf dem Lande. Anhand von nicht gern gesehenen soziologischen Untersuchungen unternahm einer meiner Autoren den mühseligen Versuch, differenzierte Bedürfnisse und Interessen aufzubrechen. Ein anderer ging philosophisch, also globaler über die Dialektik von Einheit und Vielheit heran, die unterschiedlichsten natürlichen Interessenlagen Jugendlicher bloßzulegen. Gedankenansätze, die gegen politische Gleichmacherei standen. Wir empfanden uns schon mutig, derartiges als Artikel durchzusetzen. Eine Selbsttäuschung unter vielen. Denn wer las das? Wer begriff die Brisanz? Wenige.

Gauss nannte die DDR treffend eine Nischengesellschaft. Wenngleich, viele Gesellschaften leben so. Ich empfand es ungemein schmerzlich, als ich während der Wende begriff, wie man es offensichtlich besonders den jüngeren Genossen gestattete, sich auf ihren Spielwiesen auszutoben, in Parteiversammlungen, in ihren separaten Kreisen. Scheinbar offene Debatten, doch nur ein Sturm im Wasserglas ohne Wirkung. Die Kritik wurde höchstens kanalisiert und gedämpft weitergereicht. Ich höre noch meinen damaligen Chef: „So, ihr Dissidententypen, nun habt ihr euch ausgekotzt, lasst uns wieder zur Sache kommen.“ Was wir auch taten, ich begreife eigentlich erst jetzt, welch’ tiefer Sinn in seiner laxen Bemerkung lag. So entstanden einige der Scheinwelten weitab. Wie sehr die Akzeptanz vieler Genossen entschwunden war, drückt sich für mich weniger in den fluchtartigen Parteiaustritten im Dezember 1989 aus (Das war oft mehr eine Frage der Scham, des nicht-mehr-aushalten-Könnens, dazugehört zu haben. Ich habe etliche erlebt, die ihr Parteibuch unter Tränen abgegeben haben, als würden sie sich dabei betäubungslos etwas aus dem Herzen schneiden. Von den Karrieristen einer Regierungspartei hier mal ganz abgesehen.), als vielmehr in der nicht mehr vorhandenen Gegenwehr gegen die Wende. Das Drängen nach Veränderung fand unter uns eine zwiespältige Sympathie.

In der Redaktion höre ich jetzt immer öfter diese Sprüche: „Das haben wir nicht gewusst.“ Ich kann es nicht mehr hören. Es stimmt einfach nicht. Darum blättere ich abends in alten Tagebuchaufzeichnungen und werde fündig. Ich kann nicht anders, am nächsten Morgen nehme ich die kleine Schwarte mit in den Verlag und lese Passagen daraus vor. Da wird deutlich, was wir alles verdrängten.

Tagebuchnotiz

2.11.1986

„Es dunkelt schon. In diesem Dämmerlicht neigt sich das viel zu kurze Wochenende. Wie so oft schleicht mich Unzufriedenheit an: nicht alles geschafft. Ich sollte für das Fach Logik pauken, als der Melancholie nachzuhängen. Stattdessen lege ich mir die neue Kurt-Demmler-Platte ‚Lieder des kleinen Prinzen‘ auf. Immer aufs Schlimme. Warum verletzen sich die Sensiblen noch an der Sensibilität anderer? Es ist doch irre, wenn ich schon innerlich ganz zerrissen bin, greife ich noch nach solchen Aufputschmitteln, die mich, ich weiß dass schon vorher, noch trauriger machen. Ich liebe diese Multiplikatoren des Sensiblen, die einfach früher fühlen, seismographisch wahrnehmen, was nicht stimmig ist. Warum werde ich mit zunehmenden Jahren immer empfindlicher? Das ganze Leben besteht mehr oder minder aus dem Setzen und Lösen von Widersprüchen. Zuweilen türmen sich nur die Gesetzten, während die Lösungen im Verzug sind, so dass man in diesem Defizit zu ersaufen droht. In solchen Situationen wurde ich früher rebellisch und habe gearbeitet wie ein Pferd. Heute kommt die große Müdigkeit, das Grübeln und ich schaffe darüber zu wenig, ganz mickrig, nicht weiter wissend. Zuviel verlangt von einem Menschenleben? Ich glaube nicht. Ich fühle mich gekreuzigt in den Verhältnissen, von den Alltäglichkeiten, die ich hasse und liebe, gleich einem gerupften Adler, der Nestwärme mag. Wie unvollkommen. Seit ich spüre, wie auch ich dem Jahrhundert der Neurosen unterliege, sind meine Wertvorstellungen angekratzt. Vieles, wozu ich angetreten war, scheint mir sinnlos geworden. Einiges sogar völlig falsch. Dennoch ist es wohl gut, dass man mit den Wahrheitstabellen der formalen Logik, die ich im Fernstudium nicht verstehe, nicht Lebensschritte hinterfragen kann. Ich jedenfalls nicht. Was wäre das für eine furchtbare Welt: wahr, falsch, tautologisch, nicht lösbar. Die Ungewissheit, das spontane Moment, das Wahrnehmen von Alternativen (wie gering sie auch sind), haben eben doch Faszination. Woher käme auch sonst Phantasie? Jene wird schon derzeit schwierig gehandelt, gleich einem frevelhaft pompösen Luxus. Der Mensch soll zwar schöpferisch arbeiten, nur mit dem Denken ist es so eine Sache. Ich hoffe nur, dass die individuellen Akzente des letzten Beitrages meiner Lehrlingsserie nicht der Zentralrats-Zensur zum Opfer fallen, es würde mir endgültig den Frost in den Federhalter jagen. Eigentlich ist es ein belangloser Beitrag zu dem saublöden Thema `FDJ-Schulungen‘, doch da sind ein paar Denkansätze meiner Jungs drin, die so ungestutzt wichtig sind. Sie charakterisieren Verhaltenssymptome hierzulande – das kalte Politikmachen ohne Sendungsbedürfnis zum Beispiel. Für mich ufert diese Serie immer mehr zum Test aus: Kann ich in diesem Lande deutlich schreiben, worüber junge Leute nachdenken? Es sind Jugendliche mit Veränderungswünschen, aber die meisten pro-staatlich. Ich zweifle sehr. Die politische Situation steht dagegen, also auch die Macht. Die Macht – immer öfter wäre ich lieber nicht so nah dran. Zu kanalisierte Informationen, zu viele disziplinierte Einsichten, Rücksichtnahmen. Mich zwickt und ärgert vor allem der Stil des Umgangs, die durchschaubaren Notlügen, der Vertrauensmangel überall, nicht die Sache selbst. Die Jungs da im EAW haben mich auf dem Prüfstand. Extrem spürbar, wenn man eine Serie über die gleichen Leute längere Zeit betreibt und es ist nicht meine erste dieser Art. Ich wollte diese Serien, sie sind schwieriger machbar, aber man kann über die Zeit mehr an Problemstoffen der Leute unterbringen als in einem einzigen Artikel, etwas näher dem wirklichen Leben sein und doch nicht unkaschiert – leider. Natürlich schlauchen die Rückkopplungen. Denn diese Jungsklasse lässt sich natürlich nicht nur befragen, sie fragt zurück. Klar, und sie benutzen mich auch für ihren Gesellschaftstest, verständlich.

Was für Schreiber braucht dieses berstende Land? Nicht, dass es verlischt, aber es brodelt überall. Die Leute sind unzufrieden, fühlen sich übergangen, für dumm verkauft – ich auch. Wohin aber führt das? Heute konnte ich Gildas Doktorarbeit lesen, die sich mit den Bedingungen für konterrevolutionäre Bewegungen im Sozialismus am Beispiel der 68er Ereignisse in der CSSR beschäftigt. Den ursächlichen Kern sieht sie darin, dass sich kleinbürgerliche Ideologie und Verhaltensweise noch und nöcher im Sozialismus reproduzieren. Mag sein, aber die wirklichen Verhältnisse entsprechen global nicht dem Ideal, im Gegenteil, die Politik verbiegt jenes. Intershops, staatlich diktierte Misswirtschaft, kein wirkliches Leistungsprinzip als individuelle Stimulans und echten gesellschaftlichen Wertausdruck… die Tabus und ihre gesellschaftlichen Zusammenhänge werden immer größer: Schönfärberei, Gleichmacherei, Disproportionen im gesamten Leben und die Folgen: Lethargie, Schlamperei, Alkoholismus… Wohin läuft der Karren? Die ‘Ostsseezeitung’ beschäftigte sich mit einigen wenigen soziologischen Untersuchungen, deren Chef wurde gefeuert. Ein Exempel, dass allen Presseleuten warnend unter die Nase gerieben wurde. Ich fühle mich ohnmächtig. Was mir bleibt, ist beschönigenden Stoff, der nie gelebt wurde, nicht anzufassen, Sprache junger Leute möglichst so ins Blatt zu bringen, wie sie ist und nicht in ledernen Satzdogmen zu verstümmeln. Es ist wenig genug und schon schwierig, aber hinwerfen will ich die Schreiberei nicht, es bleibt immer ein Rest von Möglichkeiten, etwas zu bewirken und darin ist eben auch viel Spaß. Jedoch die Grenzen sind fast ausgeschritten: Der schlichte Versuch, aus unserem biederen FDJ-Schulungsheft ein Polit-Magazin zu gestalten, löste 1984 hysterische Ausbrüche im Zentralrat aus. Wir sollten doch lieber Dokumente drucken, dann würden wir unserer Aufgabe auch noch gerecht. Mit dieser Auffassung ließ sich nicht leben, doch jede Veränderung mittels Satire und Genresvielfalt war von nun an noch komplizierter geworden, blieb zwar im Sinn, aber die Lichtblicke sind winzig. Mich wurmte diese verachtende Haltung gegenüber der Leserschaft und natürlich auch gegenüber der Redaktion. Ich mache mir auch nichts vor, unser redaktioneller ‘Kampf’ um manch einen Satz, der sich nicht in Parteibeschlüsse einreiht, wird von den Lesern kaum registriert. Diese ‘Zwischen-den-Zeilen-Bewegung’ ist für den Normalverbraucher zu mühselig. Wir verbreiten offensichtlich mit so kompliziert gedrechselten Texten nur Frust. Da sitzt der Stachel, nicht nur wegen des eigenen Ehrgefühls. Die Furcht der Mächtigen vor denkenden (vielleicht noch kritischen) Wesen mutet allgegenwärtig an. Wir Schreiber arbeiten doch nun wahrhaftig systemgebunden und nicht unparteilich, doch wie ist so gesellschaftliche Entwicklung noch möglich? Wann kommt endlich Bewegung in die Situation. Und wenn, wie? Sie ist mehr als wünschenswert, ja notwendig, soll unsere „Revolution“ nicht entgleisen. Die nötige Geduld, die einem hier wieder abverlangt wird, ist bedrückend. Wer irrt sich, die Basis oder die Zentrale?“

Die Truppe sitzt schweigend in der Redaktionsstube, das Verlesene schwingt in ihren Köpfen nach, denn sie wissen ja, Marie ist nicht aus anderem Holz, kein Dissident, kein Widerständler, eben wie sie, mal mehr, mal weniger mutig in diesem Land. Das Betroffensein aber bleibt. Schuld definiert sich nicht nur juristisch. Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Es gibt auch jetzt wieder einige, die danach ernsthaft suchen, aus eigenem Bedürfnis, und andere, die es gar nicht wissen wollen. Darin schon ist ein Moment für kommende, zumindest moralische Täterschaften.

Knockout nach hartem Match

Es ist nicht so, wie wenn dir ein Kind wegstirbt: unfasslich. Es ist anders bitter, wenn Ideen und Hoffnungen vergehen. Wir leben weiter und begreifen, warum unser Land, und mit ihm wir selbst – etwas später – auf den geschichtlichen Müll stürzen. Zurück bleibt ein fader Geschmack. Egal, ob wir uns mühten und dabei lächerlich wirkten. Wir hatten und haben keine faire Chance.

Der Verlag Junge Welt wandelte sich innerhalb eines Jahres von einem zu großen Teilen „Roten Verlag“ in einen bürgerlichen. Nun ist er pleite. Ursächlich stand dafür die Marktlage, aber viel stärker die Abwicklung von DDR-Identität und unsere Partnerwahl. Der reiche West-„Partner“ gebärdete sich im zähen Handel um den Ehevertrag, wie ein mächtiger Fürst, der zufällig ein Landmadel geschwängert hatte, hinhaltend, während sie ganz Schatten wurde, eigene Lebensvorstellungen völlig negierend. Und vor den Altar getreten, vernahm man dann doch sein kaltes Nein. Von der Gemeinde verstoßen, gerieten solche Mädchen bekanntlich ins Hurenhaus. Und was erhielten die Kuppler?

Der Verlag hatte also in diesen anderthalb Jahren nicht nur seine Unschuld verloren, sondern auch sein eigenes Credo, sein Selbst und damit seine Leser. Gefragt wurde niemand. Hier verhandelte nur einer.

Einst, im Dezember 89, knapp von der Belegschaft gewählt, weil er sich traute, öffentlich gegen die alte Direktion anzutreten und dabei auszusprechen, was einige gedanklich in den letzten drei Monaten in der Partei ansatzweise diskutierten. Er war umstritten, bekannt als jähzornig und selbstgerecht. T. hatte viele Widersacher aus den unterschiedlichsten Gründen. Doch es gab keinen echten Rivalen und so war man letztlich froh, dass sich jemand fand. Mit ihm konnte die Stagnation im Verlag aufgebrochen werden. Und weil er der Belegschaft versprach, keinen vor sich selbst zu entlassen, stimmten vor allem die Unsicheren, Verehrer wie Freunde für ihn. Und das war zweifellos eine kleine Mehrheit. Wir traten zunächst gemeinschaftlich an, das Verlagshaus für die Region zu retten. Konzepte, viele sicher unreif, sprossen. Es war eine kreative Zeit und ein freies Arbeiten wie nie zuvor und danach. Nicht streit- und konfliktfrei – natürlich. Zwei, drei Monate lang: Auf die reale Bewegung schauen und sehen, was sie hervorbringt. Sich befreien von Spinnweben im Kopf, gemeinsam mit denen, für die und über die wir schrieben. Eine aufregende Zeit, behaftet von Angst und Scham, aber konstruktiv. Nicht alle und nicht jeder konnte, wollte das. Denn sich selbst in Frage zu stellen verlangt menschliche Qualitäten. Beispielsweise schmerzliche Entdeckungen nicht zu tabuisieren, sondern sie als Erfahrungskapital für sich zu bergen und darin neue Kraft zu finden. Wer das kann, hatte auch früher genug Selbstachtung, nicht alles nur hinzunehmen als ein Taktierer und/oder Opportunist. Wo fangen diese Wesenszüge an und kann man denn immer gerade sein? Wo bilden sich die Grenzen im Kopf für klares, ehrliches Leben und Erleben? Doch wer mag schon, was er nicht begreifen und so nicht sein kann?

Im Frühjahr 90 ging der gewählte Mann offensichtlich seine Liaison mit dem Westverlag ein und die schlimmen Verwandlungskünste begannen. Es war nicht mehr wichtig, was wir wollten, sondern was der Markt massenhaft fraß. Nicht die Marktlücke, nicht die außergewöhnliche Idee oder das gute Pendant, sondern das Kupfern von erfolgreichen Westmagazinen wurde zum Allerheiligsten erhoben. Machart-Klau. Ein Westvertriebler wurde im Haus zum Guru dieser erfolgreichen West-Praxis gekürt. Was er von sich gab, sog man ihm von den Lippen. Den Extrakt beteten von nun an die meisten Chefredakteure ihren Untergebenen vor. Nicht unwidersprochen: Was denn, kein spezieller Rezipientenmarkt? Alle Ossis wollen schnell Wessis sein? Möglich, aber die Verhältnisse sind anders. Es gibt diesen Ostmarkt in Deutschland. Doch einen Arme-Kleine-Leute-Markt (unter einer halben Million Auflage) oder einen regionalen Nischenmarkt wollen die Hochglanz-Edel-Verleger noch nicht. Ich halte das für ignorant und ecke mit meiner Meinung an. Nutzlos – das Chefredakteursprinzip war wieder in Kraft. Der erste Mann im Hause hält solche wie mich für unbelehrbar, arrogant, spinnert. Er ist fleißig, doch schon (vielleicht unwissentlich) Spielball von Westinteressen. Ich aber setze auf die besten Teile von beiden Deutschländern, ein bisschen glaube ich noch an die Innovationskraft der Menschen. Aber ohne aufrechten Gang ist die nicht zu haben. So wird das Verlagshaus in der Mauerstraße zur schlechten Kopie der vorhandenen West-Szene. Ein Jahr darauf, nachdem wir alle „tot“ sind und ein schwarzer Adler an „unserer“ Eingangstür klebt, greifen andere Westverleger einige unserer frühen, noch originalen Denkansätze auf, die nun herrenlos sind und versehen sie mit ihrer Westdiktion. Doch, es gibt diesen regionalen Medien-Markt in Ostdeutschland.

Es ist wieder Mittwoch

Wieder ein Freitag, der auf Montag zielt. Montag kommt die Entscheidung. Zum wievielten Male gehen wir so ahnungsreich ins Wochenende? Montag hat’s ein Ende so oder so. Entweder Schluss für alle und damit auch ein Neuanfang für jeden, ungewiss sicher, aber endgültig würden Lebensnerven gekappt, die sich längst als Fesseln erweisen. Oder: ja, dieses „Oder“ ist mehrdeutig. Man/frau deckt es wochenends mit Geschäftigkeit zu. Bis Sonntagnachmittag. Da wird einem schon wieder schlecht. Das Herz schlägt schneller oder der Magen mokiert sich ob der destruktiven Adrenalinstöße. Die Nacht zum Montag schläft man unruhig. Der Tag der Verkündigung läuft dann wieder ganz anders. Nichts entscheidet sich im Jahr 1991 klar und zügig. Der Betriebsrat lässt uns wissen: Es wurde heute, am 24. Juni 1991, der Verlag wieder einmal völlig neu für Gebote bei der Treuhand ausgeschrieben. Nach der Regierungsentscheidung für den Umzug nach Berlin – völlig klar. Sieben haben sich aufgemacht. W. bekam den Zuschlag. Für alle Logos, 45 von noch 173 (wir waren mal 500) Arbeitsplätzen ohne Haus. Niemand weiß, wie dick bestrichen das Butterbrot noch war, was er dafür ausgab. Tage später werden wir es in der TAZ lesen: Je Objekt eine D-Mark.) Aber die Abfindungen sind immer noch offen. Keine Träume mehr. Nach der großen Arbeitshatz zum Ruhen verurteilt, stimmenlos, bedeutungslos, wie wenn man einen Leistungssportler nicht abtrainieren lässt. Müde, noch immer nicht gewöhnt über Geld zu reden, weil es ehrlos scheint, erwarten wir jetzt nur noch das: Die Abfindungen. Die Händler suchten den billigsten Dreh. Dazu war man sich nicht zu schade, etwas aus der treuhänderischen Trickkiste vorzuführen. Anfangs galt: Wir sind eine privatwirschaftlich geführte GmbH, die Konkurs anmeldet. Das Haus in der Mauerstraße, einem Wert von 30 Millionen (vor dem 20. Juni) wurde am 17.6. entschädigungslos durch die Regierung in Bonn requiriert. Das geht aber letztlich nur, wenn die Treuhand den Verlag als Sondervermögen abwickelt. Um diesen Wechsel zu probieren, mussten zunächst die Gesellschafter eine Verzichtserklärung abgeben. Woraufhin sich der Weg, den wir mühselig im Januar 1990 erklommen hatten, innerhalb einer halben Stunde zurückspulte: erst GmbH, dann Volkseigentum und endlich FDJ-Organisationseigentum und damit Sondervermögen. Im Zwischenstadium wären die Abfindungen beinahe wieder sicher gewesen, dann doch abgewickelt. Denn bei Sondervermögen brauchen (zu diesem Zeitpunkt) nicht unbedingt Entschädigungen gewährt zu werden. Diese Informationen gab am Dienstag der Betriebsrat kund. Weder der Liquidator, noch der ehemalige Geschäftsleiter hielten es für nötig, vor der Belegschaft zu erscheinen. Was ist mit den Heften, die vor der Drucklegung stehen? Was mit den Inserenten? Jetzt schalten Leute. Was geschieht mit der laufenden Arbeit? Wer geht wann? Welches Auswahlprinzip ist zu erwarten? Wann kommen die W-Verleger? Was haben sie mit der kleinen Auswahl vor, und wer gehört zu den Auserwählten??? Niemand im Kreis Wusste es. Während die Mitarbeiter des verwaltungstechnischen Bereiches, der Vervielfältigung, Info-Dok… sicher waren, jetzt zu den zu Kündigenden zu zählen, schwiegen die Redakteure. Vielleicht ist man ja dabei. Wer weiß das schon und dann, was dann? Wer kümmert sich um die Konditionen der 45 Leute? Dieser Betriebsrat nicht mehr. Ein neuer kann erst nach vertraglicher Übernahme der 45 gebildet werden. In den Tagen bis zum folgenden Freitag bekommen Leute, die bereits 20 Jahre dabei sind, den Blauen Brief. Der langen Kündigungsfristen wegen sie zuerst. Andere gehen in Kurzarbeit. Wer, das gaben noch die alten Chefs vor. Die Stimmung ist denkbar zynisch, gereizt bis explosiv. Ich will und kann das nicht noch eine Woche aushalten und nehme Urlaub. Drei Tage. Mit der Maßgabe, in Telefonnähe zu bleiben. Das ist zwar auch kein Urlaub, aber doch ein bisschen weiter weg. Sollen sie sich doch entscheiden. Ich kann’s ja nicht beeinflussen. Freitag ruft die Sekretärin an: „Mach’ Dich Montag hübsch, die Wessis kommen! Gesichtskontrolle. Hi, hi !…“ Also wieder: Entscheidung Montag. Dem wollte ich eigentlich mit meinem Urlaub entrinnen. Denkste. Und, wie soll man sich das denken? Lächerlich, dass vom Aufzug der Job abhängen soll. Wirklich gar nicht komisch. Die Liste, vorgeschlagen von der abgetretenen Geschäftsleitung, ist ohne Frage längst getippt und übergeben. Was soll sich da noch ändern? Es ist mir wahrhaftig schnuppe. Beide Lösungen: Eine vage Zukunft fest bei W. oder ein Versuch als freier Journalist sind momentan nicht ideal. Ich wünschte mir richtigen Urlaub, weit weg von Deutschland. Dieses Land wird mir unheimlich, man muss es sich mal von draußen betrachten. So ausgequetscht, so kraftlos fühlte ich mich noch nie. Trotzdem kaufe ich mir neue Klamotten. Was für ein Irrsinn. Aber ich zwinge mich das ganze Wochenende, nicht über Zeitungskonzepte oder Beiträge nachzudenken. Die sollen mich erst kaufen, bevor ich mich weiter zerreibe und mir mit irgendwelchem Scheiß, der mich nicht im Geringsten tangiert, das andere, wichtigere Denken vernebeln. Wen interessieren heute schon Heimwerker? Einschlägige Branchen, aber es gibt wirklich Wichtigeres: Die Jugendlichen in Marzahn. Die Leute mit ihrem Alltag und ihrer berechtigten Zukunftsangst, der schwelende Hass zwischen Ossis und Wessis nach dem deutsch-deutschen Zusammenschmiss, und noch mehr die Spannungs- und Katastrophengebiete in der Welt. Mal nachdenken, in Ruhe, Positionen anderer anhören oder erlesen. Dazu muss auch mal wieder Zeit sein, nach all diesem Existenzscheiß, der ohne Zweifel doch den Tag belegt. Diesen nicht.

Die drei Wochen nach jenem Montag, an dem die neuen Besitzer kommen sollten, potenzieren den Stress, den Ärger, die Unsicherheit. Wenn man sich am Ende fühlt, kann man sich kaum vorstellen, dass es irgendwie noch dicker kommen könnte. Doch genau das trat in diesen Tagen ein. Montag warten auf W. Wir haben schon den 1.7., jetzt ist der letzte Point für die Arbeitsaufnahme am Heft 9. Zehn Tage bis zur Abgabe. Seit 30. 6. ist der Verlag offiziell in Abwicklung. Die Kontakte zur Außenwelt sind damit endgültig gekappt.

Draußen sind 35 Grad. Am Nachmittag heißt es, die Erwarteten kommen erst Mittwoch. Wirklich waren sie dann Dienstag da, als alles wettergemäß leichtkluftig herumhastete. Zu komisch. Es war uns inzwischen egal. Denn ein völlig neues Team ohne Handlungsrahmen und geschäftsorientierte Kontakte versuchte nun in wenigen Tagen, eine Monatsarbeit möglichst anspruchsvoll zu leisten. Kaum Zeit für eine Draufsicht. Von den neuen Herausgebern sehen wir herzlich wenig. Mittwoch zum Arbeitsschluss kommen die neuen Geschäftsführer Ost und West mit einer Liste durch die Zimmer und zählen Möbel und Technik, die man noch von der Treuhand erwerben will. Als sie in der Tür stehen meinte der alte, neue Ostchef: „So, das wäre wohl das ganze Inventar.“ Und ich mucke mich: „Nicht ganz. Hier ist noch ein Stück lebendes!“ „Was uns ja auch erhalten bleibt“, gibt er zurück. Seither weiß ich es. Mein Chefredakteur spricht erst Donnerstagabend offiziell mit mir. Ich, der letzte Rest von „practic“, alle anderen mussten gehen. Die neue Redaktion besteht nun hauptsächlich aus den Machern der bereits eingestellten „Vision & Technik“. Gut fühle ich mich nicht.

Die Woche vergeht, und die Arbeitsverträge liegen noch nicht vor. Die Betriebsversammlung am folgenden Donnerstag (11.7.) versucht, uns 45 Leute aus der sogannten „Bell-Etage“ (Die vierte Etage wurde 1990 aufwendig nach Weststandart renoviert, möbliert und sollte ursprünglich der Sitz der gemeinsamen „Tochter“ werden.) des Raumes zu verweisen. Für uns sei ja alles geklärt. Wir lassen uns nicht vertreiben, denn noch gehören wir dazu und sind genauso Gläubiger der Treuhand. Es gibt bösartige Wortattacken. Wir fühlen uns wie Aussätzige. Nackter Hass springt uns aus den meisten Augenpaaren an, die Neid, Wut, gerechte, wie ungerechtfertigte Missachtung sprühen. Ich weiß es nicht, ob diese 45 Auserwählten schon immer die anderen mit ihren Ideen antrieben, welche Kriterien ausschlaggebend waren, ich kenne nicht alle gut genug. Man wirft dem Geschäftsführer Günstlingswirtschaft vor. Ein neues Feindbild erwacht: „Das sind ja alles Stasischweine! Die alten Seilschaften. Der Freundeskreis vom Chef….“ Man spricht nicht mehr mit diesen 45 Leuten im Verlag. Wir fühlen uns ätzend, aber der Frust schweißt uns zusammen. Ich weiß nicht, ob noch IM’s unter uns sind. Es ist mir inzwischen auch egal. Aber ich weiß, dass die bekannten älteren IM’s, eben nicht mehr dabei sind und ich werde das merkwürdige Gefühl nicht los, dass gerade sie diese Hassküche anheizen. Indes tauchen wir in einem Gewaltakt von Arbeit ab und können so kaum noch registrieren, was eigentlich läuft.

Nach dieser Woche gerät auch die Stimmung unter den „Belle-Etagen“-Leuten angespannt. Wir wissen, wir befinden uns im rechtslosen Raum. Keine Abfindung, keine Vergütung der Betriebsjahre (es handelt sich um die lächerliche Summe von 253 DM pro Jahr), wir sind aus dem Gehaltscomputer gestrichen und die Arbeitsverträge sind immer noch nicht in Sicht. Dafür aber werden wir fortwährend vom Geschäftsführer angeschnauzt. Auf Fragen reagiert der sauer, auf eigene Meinungen auch. Wir sollten doch dankbar sein. Wofür? Dass wir uferlos arbeiten dürfen, getreten werden von jedem, dem gerade danach ist? Die Dilettanten unter uns sind gering geworden. Doch der blauäugige Oberchef glaubt, ohne ihn wären wir nichts. Was für eine irrige Auffassung, verklärt, verdreht, seine Leute nicht achtend. Wir bleiben nicht aus Sympathie, nicht aus Angst, nur mit ihm etwas zu leisten, sondern, inzwischen aus nüchternen Erwerbsgründen und weil es eine Chance ist, in Berlin zu arbeiten. Berlin lebt im Pressekrieg. Hier wird es zukünftig spannender als sonst wo in Deutschland, denn Berlin wird europäische Drehscheibe sein. Und hier kennen wir uns aus, das ist unser wichtigstes Kapital als Ex-DDR-Journalisten.

Doch im Abwicklungsalltag des Verlages gibt es nicht einmal vernünftiges Papier zum Ausdrucken der Manuskripte. Die neue Technik wehrt sich und streikt. Der Pott, aus dem das Geld zum Arbeiten fließt, ist bei der Treuhand geschlossen und bei W. noch nicht geöffnet. Der Zuschlag ist vertraglich noch nicht ausgekleidet. Bis zur Unterschrift gehören wir immer noch zur Abwicklungsmasse. Also ist noch gar nichts klar.

Gregor, mein neuer Kollege und ich wollen die Sachlage erfragen und sehen uns kurzer Hand beim Liquidator wieder. Der wird echt sauer, als er unser Ansinnen hört, wenigstens die Betriebsjahre zu vergüten. Den menschlichen Verschleiß kann so oder so niemand bezahlen. Und warum sollte es der neue Eigentümer übernehmen, er hatte ja nichts von unserer Arbeit. Bei W. sind zweijährige Zeitverträge zu erwarten, die dann termingemäß ohne Sozialpaket auslaufen. Im Übrigen ist sowieso noch nicht zu sagen, ob die 5 Objekte wirklich weitergeführt werden. „66 Rätsel“ sind ab heute (am 12.7.) eingestellt. Obgleich das ein gut gehendes Heft (mit 53 Prozent Abkäufen, zwanzig sind altbundesdeutsch üblich) war. Zudem, der legendäre Mosaik-Vater, Hannes Hegen, prozessiert gegen den Verkauf. Der liquidierende Herr ließ klar werden, dass die Treuhand meine, Leute mit neuem Arbeitsplatz seien besser gestellt als die anderen entlassenen Kollegen. Die Treuhand hätte ja sonst kein Interesse an dem zustande kommenden Vertrag mit W., wenn sie auch noch für die 45 Sozial-Gelder berappen müsse. Und, er könne ja ganz schnell die Sache sterben lassen. Gregor und ich sahen uns an, wir waren von niemandem legitimiert. Ergo verwiesen wir diplomatisch darauf, dass wir ja lediglich eine private Frage an den einzig aussagefähigen, wenn auch betriebsfremden Menschen stellen wollten. Der schlitzohrige Mann wurde ruhiger, ließ aber mit keiner Silbe möglichen Verhandlungsspielraum zu. „Ach, man hat Sie nicht gefragt, ob Sie den Arbeitsvertrag wollen? Na, dann brauchen Sie ja nicht zu unterschreiben. Doch eine Abfindung bekommen Sie dann auch nicht…“

Seit diesem Tage hieß es ohne Unterlass: „Mittwoch kommen die Wessis mit dem Vertrag.“ Sie kamen ohne ihn, denn das übergeordnete Vertragsgeschehen zog sich hin. Der Chef der Do-it-yourself-Magazine des Westimperiums tauchte unverhofft auf, erklärte kurz, unsere Redaktion gehöre dann zukünftig zu ihm. Erholt und braungebrannt saß der Zur-Zeit-Urlauber während seines Zwischenstopps in Berlin uns gestressten, blassen Nasen gegenüber und verbreitete Hoffnung. W. verhandle nur die Interessen seines Standortes mit. Die in W. seien ja provinziell. Nach der Unterschrift wird dann alles zügig vorwärts gehen. Was wir dann gemeinsam herausgeben, könne er derzeit auch noch nicht sagen, nur soviel, es würde was Großes sein, man sei schon dran und benötige dann diese interessante Mannschaft dafür. Das war im August. Den gestylten Schönling sahen wir nie wieder.

Kopfpreis 10 000 DM

Februar 1992: Vertragsgebaren

Es schneit erstmals in diesem Winter die Stadt weiß. Indem werden die Konturen klarer: schwarz-weiß. Grauzonen verschwinden, ganz wie in unserem Dasein. Alles kam wieder anders und endete nach dem ungesunden Verwirrspiel jäh.

Die Geschichten, die die ehemaligen Verlagsangestellten erzählen, werden sich gleichen und doch nicht identisch sein, denn jeder hat sie aus einer anderen Perspektive erlebt. Genau das Tagesempfinden zu treffen ist ohnehin schwer, denn es ist eine stimmungsbetonte Momentaufnahme. Das besprochene Detail bleibt subjektiver Ausschnitt. Und ob die Summe der Splitter wahrhaftig das wiederzugeben vermag, was der Einzelne im Sog der Ereignisse zweier Jahre durchlebte, erlitt, erfuhr – ich weiß es nicht. Manchmal fühle ich mich durch das Gelebte so gebeugt, dass ich es kaum notieren mag. Die Grundaussagen wirken so depressiv. Monatelang schon wirft man den Ostdeutschen lethargische Leidensmiene vor. Spöttelnd bis genervt. Was mich daran so in Wut bringt, ist die Blasphemie, das Oberlehrerhafte, die Ignoranz, mit der man westwärts die östliche Lebenslage betrachtet. Aber „betrachten“ heißt ja eigentlich – Details sichten. Es geschieht jedoch kaum. Der Erwartungshaltung der Ostdeutschen wird allzu oft die Do-it-yourself-Lösung vorwurfsvoll entgegen gehalten. Doch wie soll die aufgehen, wenn Betriebsvertreter bei vielen Treuhandverhandlungen nicht einmal mit am Tisch sitzen? Wenn wieder gewinnbringende Ostfirmen dem möglichen Investoren zu teuer sind? Beispielsweise musste die Chemiebude in Adlershof erst abwirtschaften, damit ihr Preis akzeptabel wurde. Sie dürfen ihr Unternehmen nicht selbst erwerben, mir schwant schon gar nicht, wenn es konkurrenzfähig wäre.

Kopfpreis 10 000 DM an die Treuhand, bei Entlassung vor 1993. So wollte uns die Treuhand an Käufer verhökern. Der Stückpreis für einen vermarkteten Ossi. Ruchbar wurde uns das am 31.10., als wieder einmal alle Verhandlungen zu scheitern drohten. Die Treuhand kündigte allen 36 Leuten vorsichtshalber zum 31.12.91, damit sie nicht, sollte der Vertrag platzen, noch ein Vierteljahr auf ihnen sitzen bleibt. Kurzarbeit Null ab 1.11.91. Damit stoppten sie die Produktion zum X. Male. Bei diesem Coup wurde unser Unmut natürlich nicht beachtet und auch nicht die natürlichen Interessen des Kaufwilligen, und so kamen wir kurzerhand in die Vorhand – einen Augenblick, unser Geschäftsführer packte aus. Erstmalig sahen wir auszugshaft das zur Debatte stehende Vertragswerk ein. Darin fand sich nun die Formulierung dieser „Kopfprämie“ bzw. Konventionalstrafe. Wir waren mehr als empört. Die Zeit des Sklavenhandels schien uns eigentlich vorbei. Mit welchem Recht also kassiert die Treuhand pro Entlassenem 10 000 DM und der Betroffene bekommt nicht eine Puseratze Abfindung. Die Sache an sich war deftig genug, nun noch die Kündigung. Einer Überreaktion der damaligen Chefredakteurin einer Kinderzeitung war es zu verdanken, dass die Unterhändler von W. ins Schwitzen kamen. Sie rief den zuständigen Herrn in der stillen Westprovinz an und fragte, was sie denn in die Vorschau für die nächste Ausgabe nehmen solle. Sie habe die Kündigung und in zwei Tagen Kurzarbeit Null und er meine doch nicht ernsthaft, sie würden ihre Vorarbeit noch auf den Festplatten lassen. Am anderen Ende soll es sehr still gewesen sein. Dann beschwichtigende Worte, alles würde sich klären. Und so war es. Während wir anderen Tags Krisenredaktionssitzung machten, schneite die Rechtsanwältin des Liquidators hinein, sie hebe mit sofortiger Wirkung die Kurzarbeit wieder auf, am nächsten Mittwoch bekämen wir die lange ausstehenden Arbeitsverträge vom neuen Verleger. Die Kollegen brachen in Schreikrämpfe aus – „nächsten Mittwoch“… W. schickten wir noch selbigen Tages eine Willenserklärung, aus der hervorging, dass uns mindestens die gleiche Abfindungssumme von fünftausend DM zusteht (bei Kündigung innerhalb der nächsten zwei Jahre), wie den Treuhandgekündigten. Der West-Unterhändler faxte ein Schreiben an alle Mitarbeiter zurück, der Betriebsfriede möge bitte gewahrt werden, wir bekämen, was wir forderten.

Am 12.11.91 unterschrieben Treuhand und W. den Vertrag. Nach fast zwei Jahren scheinen 36 Leute des einst größten und einzigen Kinder- und Jugendzeitschriftenverlages der DDR es geschafft zu haben. Wenigstens vier von 15 Zeitschriften sind somit noch lebensfähig. Aber wir glauben es nicht recht. Zu oft wurden wir schon getäuscht. Und richtig: Montags darauf stellt W. die „practic“-Produktion ein. Das erwartete Nachfolgemagazin mit gleichem Titel verwerfen die Herausgeber oder wie sie sagen, die Aktionäre. Niemand hält es für angemessen, mit der Redaktion zu sprechen, um wenigstens die Zusammenhänge zu vermitteln. Donnerstag wird „neu leben“ telefonisch lahmgelegt. Fröhliche Weihnachten 1991… Falls, dann schaue ich dem Fest missmutig entgegen. Ich frage mich, wie viele Treuhandverkäufe nehmen diesen Weg? Unsere Abonnenten bekommen, natürlich zum gleichen Preis für ein Jahr, statt unserem Heft, das West-Magazin in einen „practic“-Titel geheftet. Ein eingelegtes Blatt zur Nummer 12 verheißt: „practic“ und „W“ gehen jetzt zusammen und können so viel besser den landesweiten Bedürfnissen nachkommen. Wir haben dafür nur zynische Worte und die Telefone klingeln in der Redaktion: „Was habt Ihr euch dabei gedacht, uns mit so einem Etikettenschwindel zu beglücken?“ Wir?

Die „nl“-Leute bekommen Besuch von einem Wochenmagazin der Regenbogenpresse. Man will vielleicht ein kleines „Chen“ vom großen Verkaufsschlager herausgeben. Doch die Gespräche sind mehr frustig als sachlich. Es will keiner zur schlüpfrigen Presse. Das hätte man auch früher haben können, ohne die Odyssee des Verlages mit auszuhalten. Bei „Bild“ oder „Super“. Aber dafür waren wir uns echt zu schade. Ein Luxusdenken, das sich Ostjournalisten kaum noch lange leisten können. Die einheimischen Verlage brechen zusehends im Kräftespiel der Medienriesen zusammen. Im Zimmer des Ost-Geschäftsführers stolpert der West-Kaufmann nach erfolglosen Gesprächen über Hefte von „Vision & Technik“. Er fragt, wer denn dieses tolle Heft eingestellt hat. Der Ossi erwidert kleinlaut: „Ich.“ „Und wer hat das entwickelt?“, erkundigt sich der Interessent weiter. „Na, die Redaktion“, erfährt er. Verdutzt fragt der nochmals nach und erfährt selbiges. Er kann es kaum glauben und wird in die irre Entwicklungsgeschichte einiger neuer, kurzlebiger Magazine des Verlages eingeweiht. Als er hört, den Team-Stamm gibt es noch in Gestalt von „practic“-Leuten, ist er ganz aufgeregt und lässt gucken, man habe eine Menge Gewinn letztes Jahr gemacht, wolle den nicht von der Steuer auffressen lassen, sondern in neue Projekte investieren. Er will nachfragen. Am 9. Januar ist der flinke Kaufmann wieder in Berlin und lädt alle „practic“- und einen Teil der „nl“-Leute zum Gruppengespräch. Wir werden gefragt, ob wir nicht die Entwicklung eines seriösen, neuen Magazins übernehmen wollen. Strukturen seien noch nicht klar. Ein Westchef käme, aber W. hat nichts dagegen, wenn wir schon vor dem 1.2., dem Tage des neuen Vertragsabschlusses, für dieses Projekt arbeiten würden. Nachmittags Einzelgespräche und schon die Unterschrift unter den neuen Arbeitsvertrag. Wir kommen uns vor wie Staunemänner. Nach dem zermürbenden Vertragsgeschehen der Vormonate mutet das Ganze unwirklich. Aber es ist so. Eine Woche Gedanken ordnen, auf das neue Projekt zugehen, Zeitungen wälzen, Serien ausdenken, Rubriken ersinnen, Absprachen, alles noch konfus. Der bisherige Redaktionschef hat weder Lust noch Ehrgeiz. Er wird „nur“ Stellvertreter. Da käme ja einer und wird dann alles ganz anders anpacken. Dennoch, am Wochenende sind erste Schemen zu erkennen und ein grober Themenplan vorhanden. Nicht ausreichend, doch ein Anfang. Kommt der Westchef, geht’s weiter. Doch er kommt nicht. Das Material entschwand per Fax gen Westen. Schluss der Übung. Mir wird schon wieder so mulmig, ahnungsreich. Mein Kollege Gregor beschimpft mich freundlich als alte Unke. Doch ich kann das Gefühl nicht verdrängen. Dienstag, am 28.1.92, sitze ich mit Karen mittags im Cafe „Adler“. „Mensch Karen“, hole ich meinen Zweifel vor. „Ich glaube, ab Montag sind wir endgültig Zuhause.“ Sie schaut mich unsicher an und fragt: „Und dann?“. Wir quasseln das durch, ohne dass es ganz dicht an uns herankommt. Wir bereden ja nur eine Annahme. Karen denkt laut: „Und was sagt man dem Westgoten, wenn sich herausstellt: wieder verschaukelt? Schleudert man ihm mal lautstark entgegen, was man von ihm, diesem aalglatten Typen, hält oder straft man ihn mit Nichtachtung?“

Auf dem Weg zum Verlag wägen wir das hin und her und sind uns nicht schlüssig, ob das überhaupt etwas brächte. Kaum die Etage erreicht, werden alle 14 Leute des „Teams“ in die Geschäftsstelle gebeten. Vor uns tänzelt wenig souverän der goldbehängte Westgeschäftsführer herum und spricht: „Ja, wie sag‘ ich’s meinem Kinde? Wir haben ja in Ihnen immer wieder Hoffnungen geweckt -?“ Da ist Karen schon von ihrem Stuhl hoch und aus der Tür heraus. Die anderen schauen sich gegenseitig an, dem da vorne hören sie nur noch beiläufig wegen der Konditionen zu: Kündigung zum 31.3.. Das Geschäft ist geplatzt. Man könne noch in den Verlag kommen, braucht es aber nicht…

Die Leute verlassen den Raum, ohne den Verkünder noch eines Blickes oder Wortes zu würdigen. Er ist es nicht wert.

Später erst erfahren wir, warum das „Geschäft“ geplatzt ist. Das bunte Heft des flinken Kaufmanns gehört zu 50 Prozent auch „unserem“ Westverleger. Der wollte aber seinerzeit schon „Vision & Technik“ nicht. Grund genug, das Magazin einzustellen. Wer sollte es finanzieren? Mit seinen Stimmanteilen konnte W. auch hier das Projekt stoppen. Ob man so die Kleinen klein hält? Sicher. Wir packen. Schon nächste Woche sollen unsere Redaktionsräume neu vermietet werden. Das war’s.

Draußen vor der Tür

Drei Tage lang Persönliches von Dienstlichem trennen. Adressen austauschen, Visitenkarten layouten für Kollegen, die es nicht können. Die letzte Autorenpost rausschicken. Auf dem Flur türmen sich in den Containern die Altlasten: Manuskriptpapier von nicht mehr existenten Zeitungen, Bücher, Bürokram, Layoutbogen aus feinstem Karton. Ich kann nicht anders, muss dies und das wieder rausziehen. Einen Atlas, eine Schachtel Büroklammern, Papier, Belegexemplare von „LAVA“. Zu schade für den Müll. In Plastiktüten verstaut stehen meine Habseligkeiten neben meinem Schreibtisch, als Hans kommt. Er schlürft Kaffee, während ich die letzten Arbeitsordner auf „meinem“ MAC lösche und das gute Stück dann abschalte. Anschließend schaue ich meinem Mann in die Pupille und brauche nichts kommentieren. Er weiß, das war die symbolische Handlung. Der eigentliche Abschied. Wir raffen die Beutel, Karen und Gregor bringen uns mit dem Kram vor das Haus in der alten Mauerstraße. „Ja, wir telefonieren Montag. Tschüß.“ Hans holt den Trabi, obwohl hier keiner mehr arbeitet, ist die Straße zugeparkt. Das Ministerium des Innern nebenan hat wohl wieder Personal aufgestockt. Wie ich da so wartend bei meinen Utensilien für die Freiheit stehe, habe ich doch plötzlich einen Kloß im Hals. Denke: Tapfer, Mädchen, tapfer. Du hast dich doch immer durchgeschlagen. Kein kreuzloser Chef ist nun mehr über dir. Kannst dich jetzt ausprobieren. Es wird wirklich alles deines sein. Keiner, der sich mit u. a. deinen Ideen seinen Sessel erhält. Gut, das ist wirklich ein Stück Freiheit. Dann rollen doch Tränen. Vor Wut, so ausgepresst und verschaukelt zu werden für nichts. Ich ärgere mich. Ausprobieren. Ohne Hinterland ist das bei einigen tausend arbeitslosen Journalisten in der Stadt wahrhaftig eine rosige Zukunft. Ich heule, weil ich begreife, man braucht diesen Berufsstand gar nicht zu diskreditieren wie die Lehrer, Richter, Künstler… Man stellt ihn einfach draußen vor die Tür, ins soziale Abseits. Diese Gilde war gefährlich, denn sie hat sich als einzige der Öffentlichkeit gestellt. Versucht ihre Teilschuld zu ergründen und es nun eben besser zu machen. Es genauer zu nehmen mit der Meinungsfreiheit. Nicht perfekt, aber es gab 1989/90 diesen öffentlichen Versuch, für jeden erkennbar. Diese Gilde hatte Medien unter dem Hintern und konnte sich bedingt gegen die Straßenwalzen der Mediengewaltigen wehren. Sie tat es lange nicht, weil es gelang, sie geschickt zu splitten. Erst Alte und Junge, dann nach guten und weniger fähigen, den natürlichen, immer vorhandenen Konkurrenzdruck in dieser Berufgruppe benutzend. So wurden es beständig weniger, bis die Grüppchen kaum noch wahrzunehmen waren. Deren Aufschrei wäre nahezu lächerlich gewesen, gegen den tausendfachen Ausstieg der Flughafenleute, des Fernsehens, der Hennigsdorfer Stahlarbeiter, den Werftleuten an der Küste und, und, und. Nun steh’ ich hier und spüre wieder diese Ohnmacht, steige zu Hans in den Trabi und fühle mich krank.

Wie ein Bumerang schlägt an diesem Wochenende der Stress der vergangenen zwei Jahre zurück. Herz und Kreislauf muckern. Der Magen spielt verrückt. Das kann je heiter werden, Mädchen. Ich treibe mich an: Du musst schreiben! Raff‘ die Notizen und setz‘ dich hin. lass‘ es raus, dann wird dir besser.

Der erste doppelt freie Tag

Das ganze Wochenende habe ich Papier bewegt, in Ablagen sortiert, mit Geschäftigkeit mein Unbehagen zugedeckt. Jetzt ist das Büro zu Hause arbeitsfähig. Auch das war unterschwelliger Druck des letzten Herbstes: Werden wir es schaffen, die neue Wohnung, die recht heruntergewirtschaftet war, in einen ertragbaren Zustand zu bringen, bevor es mich auf den von Arbeit freien Markt spült? Das erste, was wir uns nach der Währungsunion anschafften, war auf die Arbeit gerichtet: Kamera, Mitschneidegerät, Computer. In der Familie guckten manche schon sehr merkwürdig, weil wir immer noch Trabant fuhren. Doch es zeigt sich, es war genau richtig. Hans entstand durch das Erobern des Computers eine Arbeitsvision. Das ist viel. Wenn jemand auf sehr eingefahrenen Berufswegen kutschiert, ist das Herausfinden – was kann, was möchte ich denn noch (?), gar nicht so einfach. Jetzt schult er seit September 91 zum PC-Techniker um und verändert sich zusehends zum ehrgeizigen Computerfreak. Ohne Frage ergaben sich daraus Spannungen in der Familie: Er hoch motiviert und dynamischer denn je, ich im Abwicklungskrampf, mit dem Alptraum belastet, das Einkommen für die Familie zu sichern. Daneben der Umzug und der Wohnungsausbau. Alles selbst machen. Das schlaucht. Für Handwerker reichten die Rücklagen nicht. Wolf kam an sechs Tagen helfen und tapezierte fünf Decken. Klaus klebte die sechste Decke. Bastian putzte Wandschäden aus und sein Kumpel Didi verlegte im Bad neue Installationen. Einmal kam Lisa mit einer riesigen Reispfanne. Ein anderes Mal bekochte uns Gisela… Was wären wir ohne solche Freunde? Seit Weihnachten geht es schleppender voran. Das Bad ist noch halbfertige Baustelle. Die Kraft war schlichtweg dahin. Man musste auch mal wieder raus, etwas anderes sehen.

Komisch, aber ich höre das nicht so selten, dass die Männer Arbeitslosigkeit ergebener als Frauen hinnehmen. Hans hat seinerzeit im Sommer drei bis vier Stunden am Computer verbracht, sich so auf seine Umschulung vorbereitet. Der Rest war genüssliches Trödeln. Es schien mir jedenfalls so. Die Rollen im Haus verteilten sich nicht neu. Ich durfte in meinem Leben alles, nur musste ich alles andere auch schaffen. Männer sind eben doch anders. Sie gönnen sich ihre Gedankenpausen und Pläsierchen ohne jegliches schlechte Gewissen. Ich bin noch nicht einmal ohne Einkommen, aber die freigewordene Zeit versuche ich erwerbstüchtig zu nutzen. Warum eigentlich? Emanzipation ist bei den Westfrauen, so glaube ich jedenfalls, stärker eine Frage des Bewusstseins, bei uns wurde sie gelebt. Wir haben einfach nicht darüber gesprochen. Sie realisierte sich über die Arbeit. Nur von daher kam unsere Unabhängigkeit. Vielleicht galt sie einigen auch nur als Alibi, um etwas neben der Familie zu leben. Etwas, das konnte Kommunikation schlechthin sein, eigene Entscheidungswelt, Dienstreisen, Abendstudium. Das Leben war für viele Frauen schon geteilt in Arbeits- und Familienwelt. Mehr oder weniger beliebt, leicht auf keinen Fall. Weil doppelt schwer, doch unerlässlich auch für das Familienbudget. Ein Zwang, der Freiheiten in sich barg. Ich habe das Zwanghafte daran nie so empfunden. Eher war ich empört, dass viele Frauen in der DDR mehr als Männer leisteten, was wenig anerkannt war. – Der Preis der Freiheit.

Was für Frauen entstanden zwischen diesen Polen? Vermännlichte Arbeitstiere, heißt es so oft. Etwas anderes, meine ich.

Meine vielleicht nicht gerade typische Lebensbahn war ein Auf und Ab, woraus so eine Art Steh-auf-Weibchen entstand. Ein bisschen härter im Nehmen und verschwenderischer im Geben. Hart machte mich der Leistungssport. Besser hartnäckig im Verfolgen von Zielen. Das Schwimmtraining, die Wettkampfsituationen: Gewinnen und verlieren. Kämpfen können und nach einem Fehlschlag wieder aufstehen. Immer aufs Neue einen Anfang zu wagen. Das prägte sich von daher tief in meinen Charakter. Es mag sich unsagbar Widersprüchliches im Leistungssport der DDR finden, die frühen 60er Jahre erlebte ich im Schwimmsport frei von Doping. Alles basierte auf Konditionstraining. Wir schwammen täglich länger als wir lernten oder uns per pedes bewegten. Spaß hatten wir Olympiakader dabei wenig. Es war das Ziel im Kopf, was uns ernsthaft trieb und bewog weiter, immer weiter zu machen. Niemand zwang uns dazu. Doch diese Erwartungshaltungen vom Vater – er fragte eigentlich nie wie ich zurechtkam, er fragte nach den Zeiten und Plätzen. Aber sonst – mit 12, 13, 14 Jahren hing ja noch nicht vordergründig ein Berufsleben am Sport. Mexiko 1968. Das wär’s gewesen. Die Chance unter südlicher Sonne zu weilen, sich mit den Schwimmkanonen dieser Welt zu messen. Wie wenige kamen dahin, ich auch nicht. Eine angeknackste Gesundheit zwang zum Ausstieg und Abgang von der Kinder- und Jugendsportschule. Kein Netz da. Ich fiel tief. Später erst baute sich in mir Frust gegen die Methode auf, junge Leute nur solange zu fördern, wie sie medaillenträchtig waren. Reines Nützlichkeitsdenken, ohne Verantwortung für den jungen, filigran geschliffenen Menschen zu übernehmen. Eine Dankesurkunde und tschüs.

Viele Spitzensportler verbaute ihre einseitige Förderung Zukunftschancen. „Zurück im Leben“ würde ich die Zeit danach überschreiben. Erst jetzt begriff ich, was mir alles fehlte: kindgemäße Freizeit, unbeschwert zu probieren, was in einem steckt. Sonderbar, aber die erste Zeit dachte ich, wie kann man nur so in den Tag hineingammeln? Was haben die anderen nur für belanglose Sorgen? Was für einen beschränkten Aktionsradius. Herbstwärts jedoch bekam ich in der Schule meinen Dämpfer. Es war unübersehbar, ich hatte immense Wissenslücken. Das gekürzte Lehrpensum zugunsten von Trainigseinheiten war dafür die Ursache. Nur kümmerte das keinen, ich musste alleine durch. Mathe-Physik überstand ich nur abenteuerlich. Mit mehr Konsequenz wäre möglicherweise noch etwas reparabel gewesen. Aber ich entdeckte die schönen Alltagsseiten: Gitarre spielen lernen, zeichnen, den Star auf dem Sprungbrett im Bad zu mimen, bei Regenwetter spielte ich mit den Schwimm-Meistern Skat. Zuhause träumte ich mich weg. Gisela und Vati waren schwer erkrankt, Ria und ich schmissen den Laden allein. Sie im Dreischichtsystem beim Funk. Unentwegt „muckte“ sie, um den Lohnausfall vom Vater halbwegs zu kaschieren. Krankenbesuche kosten. Sie war entnervt, und ich hatte den schnöden Haushalt am Hals. Nachts saßen wir oft lange beieinander und redeten. Mit vierzehn war ich Rias Seelenkiste. Die Last der tödlichen Bedrohung der nahesten Menschen drückte sie schwer. Wenn sie arbeitete verschwanden die Probleme etwas. Aber dann, wenn die Ruhe über sie herfiel, war sie verzweifelt. Über beiden, Vater wie Gisela, schwebte wochenlang ein Damoklesschwert. In Vater Ernsts Lungenwand wanderte ein Granatsplitter. Die Ärzte scheuten eine Operation und hofften, dass sich das Ding wieder verkapselt. Gisela hatte eine damals noch seltene Milz-OP hinter sich, aus der schwere Komplikationen folgten.

Da war er wieder, der ernste Alltag im kahlen Herbstgewand. Das Grau. Die Schwermut. Frauen pflegen Kinder, Kranke, Seelen und Beziehungen. Ja, wenn sie müssen, wer tut es sonst? Daneben aber die bezahlte Arbeit. Ich sehe noch das Strahlen in den Augen meines Sohnes, als er auf seine Frage: „Mutti, gehst du gern arbeiten?“, meinen Stolz auf meine Arbeit in der Antwort spürte. Hier stimmte das Gehörte in seinem Heimatkundeunterricht, was später selten wurde. Aber das war meine Antwort, andere Frauen hatten zweifellos andere. Wie lange braucht man für die richtige Wahl des Berufes? Ich zehn Jahre. Hätte Bastian etwas früher, vor der Verlagsarbeit, gefragt, die Antwort wäre anders ausgefallen. Es reizte mich täglich, an meine Grenzen zu stoßen. An meiner Schreibe zu schleifen. Sich nicht zu verzehren ob der Kollegenkritik, sondern anzunehmen, was gut gemeint war. So wächst man. Jeden Tag neu zu beginnen, neue Menschen mit ihren Problemen zu erleben. Eine vertrauliche Situation herzustellen, in der sie dir alles erzählen. Wissend, sie können immer sagen: Dieses Moment bleibt unter uns, aber du weißt es erst einmal. Dagegen waren die harten Schnitte durch Herausgeber oder alle möglichen Leitungen schwerer zu verkraften. Alles barg in sich auch Qual. Aber die Suche nach den unterschiedlichen Lebensmotivationen und -maximen wurde für mich Lebenssinn. Herauszufinden wie und wodurch sie entstehen, und also Antworten zu finden auf das: Wie lebt man aufrecht in konfliktreichen Situationen? Nicht der Schlagzeile, sondern der Information wegen, die sich darunter befindet.

Ich bin mir im Klaren, dass wir vornehmlich Bestenpolitik im Journalismus der DDR betrieben haben. Meist lebensfremd, doch es gab auch diese andere Art zu fragen, die keine Distanz zwischen dem Fragenden und Antwortenden lässt und so tiefer dringt.

Es wird mir schlichtweg übel, wenn in der ersten „ungeschminkt“-Sendung des ODR die neue Besetzung, eine reife, gestandene Ostfrau vor einem west-journalistischen Hüpferchen, ob ihres zupackenden Bisses, auf dem Boden liegt. Gerade ungeschminkt, heißt: dicht ran, Großaufnahme, sehen, was unter dem Putz ist. Konkret, schonungslos, aber wahr. Das erfordert Nähe und Distanz. Nähe, um ganz exakt den Menschen und seine Problemwelt aufzunehmen und Distanz, um reale, kritische Wertungen treffen zu können. Ein Verquicken der Methoden halte ich für angebracht. „Ungeschminkt“, diese Sendung spiegelt die Lebensweise von Frauen schlechthin. Nicht das Anormale, den Exzess, die Entgleisung von wenigen, wie sie uns aus den bunten Blättern entgegen schreit. Mein Nachbar hat nicht seine Frau gewürgt. Keiner meiner Familie oder im Freundeskreis kam unnatürlich um. Ich vergewaltige nicht meinen Sohn oder peitsche meinen Mann aus. Ich bin vielleicht eine Stino, eine Stinknormale, aber die meisten Menschen haben in ihrem Keller keine Leiche. Unsere Geschichten sind stiller. Sie bergen keine schrille Headline, aber sie sind die massenhafte Wirklichkeit, die gelebt wird. Mehrheiten, die nur in statistischen Monatsberichten und allgemeinen Befindlichkeiten ihren Zeitungswert finden. Eine Auffassung von Informationspflicht, die ich nicht teilen kann. Das Geschäft mit dem privaten Sumpf einzelner geht aber glänzend, wie die Osttageszeitung „Super“ zeigt, von Westjournallien wird ein Ossi-Zerrbild kreiert. Unsere Schreiber taugen nicht dazu. Sie haben eben doch noch eine Verantwortung im Bauch, die einem großen Teil der westlichen Gilde gänzlich abgeht. Für uns ist der Mensch und die Nachricht über ihn noch keine Ware. Ich kann dieses: „…soll haben…offensichtlich…man wird sehen…gerüchteweise könnte…“ nicht mehr hören oder lesen. Das ist Rufmord übelster Art, wofür der Journalist nicht einmal sein Haupt hinzuhalten hat. Denn es gibt Quellenschutz, nicht Personenschutz. Mit sauberer Recherche hat das meist überhaupt nichts zu tun, nur mit der Hatz um die nächste, teuer honorierte Story. Wer liest schon die Dementis am Folgetag? Inzwischen hängt sich ein nervenschwacher Attackierter auf. Die nächste Schlagzeile steckt in der ersten, wenn sie nur bissig genug ist.

Mit Biss löst man keine Probleme. Man reißt nur ein Stück aus dem Bündel heraus, bis zur Unkenntlichkeit im Detail und im Ganzen. Ich habe wahrhaftig Skrupel, so eine Skandaltype, eine einsame Wölfin, zu werden. Das Gebilde DDR, die Art, wie man darin lebte und wie Regierende mit Regierten umgingen, was daran verwerflich, menschenverachtend, deformierend und kriminell war, kommt damit nicht ans Tageslicht. Im Gegenteil. Diese derzeitige Berichterstattung stopft den Ossis das Maul, denn sie waren mehr oder weniger alle dabei, wie in jeglicher Gesellschaft jeder dabei ist.

Was ist Norm? Sie kann aufgesetzt und unstimmig sein. Aber wenn sich die Mehrheit danach richtet, warum auch immer – aus Gewohnheit oder Angst – wird sie zur gelebten Norm. Das allein zu verurteilen, halte ich für illegitim. Nahaufnahme bitte! Strukturen und ihre Folgen erkennbar machen. Nur so hat die überlebende Gesellschaft etwas davon. Nur – will sie es? Es würde ja deutlich werden, dass geteilte Verantwortung, eine Folge der Arbeitsteilung schlechthin, immer dazu führt, nicht alleine zu entscheiden und zu verantworten. Man sieht nur stets einen Ausschnitt, wer sieht das Ganze? Darin steckt: gesellschaftliche Entgleisungen, mal schwer-, mal leichtgewichtig, wird es stets aufs Neue geben. Auch in einer Demokratie. Erst recht, wenn man den Deformationen nicht auf den Zahn fühlt. Aber dazu müssten tausendfach die Leute im Ossiland sprechen. Es könnte ja sein, dass sie dann, klarer formuliert, doch einen Restposten nachträglich einbringen. Wie unschön. Allein der Gedanke einer Ossifizierung spukt heute dumpf-angstvoll in westdeutschen Köpfen um. Bedauerlich, aber die wirklichen Konsequenzen aus dem DDR-Leben finden bei den Brüdern und Schwestern mit der Siegerpose wenig Zuspruch. Also bleibt es bei der undifferenzierten Jagd nach der Stasikrake. Wie leicht. Nein, zurzeit läuft die Verständigung nicht aufeinander zu, und ich merke, ich bin nicht frei von Zorn. Soll sich jetzt die Polarisierung nicht weiter manifestieren, in nackten Ost-West-Hass ausarten, muss man sich einander annehmen, wahrnehmen und die untauglichen Klischees zerstreuen. So, wie es nicht nur lebensuntüchtige, jammernde Ossis gibt, sind nicht alle Wessis raffgierig, kaltherzig und unsensibel gegenüber ihrer Mitwelt.

 

Das erste NEIN

Neue Erfahrungen. Schmerzliche Einsichten. Jeden Tag davon ein bisschen. Vieles zum ersten Mal: Die erste Woche ohne Arbeitsanweisung. Das ist erleichternd, spannend, wiewohl ängstigend. Ich treibe mich an, effizient mit der Zeit umzugehen. Pausen müssen sein, doch bereiten fast ein schlechtes Gewissen. Was zuerst? Was kann, was muss warten? Zeitig aufstehen, heizen, frühstücken, aufräumen – eine knappe Stunde. Mit einem Humpen Tee, der zwei Stunden reicht, an den Schreibtisch: Was hast du gestern für heute vorgesehen? Ist dir danach? Nicht ablenken lassen. Los, ran an den Computer. Gedanken ordnen, sich versenken, Worte finden. Es flutscht. Die Zweifel: Kann ich das, braucht das wer, verfliegen. Ich kehre schlicht nach außen, was in mir ist. Abends kommen die Zweifel wieder. Der zweite und dritte Tag verläuft ähnlich. Mal 9, mal 6, mal 12 Seiten, je nachdem, ob noch Post und kleinere Artikel mich von meinem großen Projekt abbringen. Artikel sind jetzt Störungen. Es muss aber sein. Wer weiß, ob ich das Buch bewältige. So entsteht Stress, anders als der gewohnte. Das richtige Maß zu finden ist es, worauf es ankommen wird. Disziplin ist nicht das Problem. Wer so eine echte Ex-DDR-Fernstudentin ist, hat die intus.

Donnerstag im Verlag. Mein Büro ist leer. Ich suche nach einem Computer. Will ein paar Texte layouten. Unser „Schneider“ zu Haus ist nicht grafikfähig, und überdies hat mich das Jahr am MAC verwöhnt. An welcher Tür ich auch klinke, sie ist verschlossen. Die paar Leute, die noch bei W. verblieben sind, haben die Zimmer gewechselt. Zuletzt finde ich doch noch einige Seelen. Zur Mittagszeit werden Computer frei. Die Begegnungen mit den Hinterbliebenen sind anstrengender als ich dachte. Die Frage „Was machst du denn jetzt?“ schlaucht. Ich weiß es doch selbst nicht. Alles, jeder Tag, jede Kontaktnahme zu einem Artikel… ist derzeit ein Balanceakt und ein Versuch. Wie lange der Zustand dauern wird – großes Fragezeichen. Vorerst wird mir nichts anderes übrig bleiben, als doch zum Arbeitsamt zu gehen. Ich graule mich vor den sterilen Fragebögen, den langen, menschenangefüllten Fluren, den depressiven Gesichtern, der Wartezeit. Zeit, die ich lieber kreativ verbrauchen würde. Heute will ich noch nicht zu den Dienstgesichtern. Ich spüre, dass es mir recht ist, auf eine präzisere Kündigung zu warten. Der W-Verlag hat es doch wirklich fertiggebracht, uns Ostredakteuren eine Kündigung aufzutischen, aus der kein Grund hervorgeht. Peinlich. Ist es mangelnde Routine oder lästige Mühe? Wie auch immer.

Eine Handvoll Tage später ist die Abschlussfete der Redaktion nun doch noch zustande gekommen. Beinahe wäre nichts daraus geworden. Der Chef machte keine Anstalten, nachdem wir schon weder Weihnachten noch zum Jahresbeginn feierlich-friedlich zusammenkamen. Nicht mal auf ein Glas: „Gute Nacht, Freunde, es ist Zeit für uns zu gehn…“ Aber diesmal würde es das letzte Mal sein, nach all den Jahren. Trotz allen Frustes, der inzwischen keimte und ausbrach: Wann? Bei wem? Kneipe ist zu öffentlich und teuer. Bei Gregor ist die Frau krankhaft eifersüchtig. Der Chef lässt die Truppe gewöhnlich nur auf seine Datsche und meint aber: „Gartenfetenzeit ist noch nicht…“ Karen fragte mich, ob wir nicht bei mir feiern könnten. Sie wunderte sich über mein schroffes NEIN. Es galt nicht ihr. Dieses NEIN war prinzipiell. Genährt aus so vielen verletzenden Enttäuschungen. Schnitt. Klappe. Neue Einstellung: Vorbei die Zeit, in der ich „kollektivbildend“ wirken wollte. Eine Rolle, die mir federleicht zuflog. Ungewollt. Ich gehöre zu den Menschen, die vielleicht stärker spüren, wo etwas klemmt und meinte, das jeweilige Problem kann, es muss behoben werden. Damit der-, diejenige sich besser entfalten, effizienter einbringen kann. Diese Gabe war oft ein Fluch. Denn die Dinge bedrängten mich und zehrten an meiner Seele. Vielleicht naiv, doch ich glaubte wirklich, dass man derbe klimatische Störungen auflösen kann. Wie einen Fitz, mit Geduld und Spucke. Harmonie gehört für mich zur Teamarbeit. Nicht um jeden Preis. Aber insoweit, dass sie den Schaffensprozess der Gruppe motiviert. Reibung gehört dazu. Auch Angriffe, nicht gegen die Person gerichtet, sondern gegen eine lieblose, schlampige Arbeit. Es aussprechen. Nicht selten geriet ich so in den Part eines freundlichen Wanderpredigers. Füreinander da sein, miteinander etwas anpacken. Das war Marie, vor Zeiten, Anno 1989, die Vertraute, die Vertrauensfrau, das Mädchen für alles, wäre die schlechteste Bezeichnung.

Der Ort, mal wieder generell neue Ansätze zu finden, war unsere jährliche Klausur. Knapp eine Woche denken, sich streiten und wieder zusammenfinden ob der Akzeptanz des gemeinsamen Ziels. Zugleich aber war das die Stätte, wo Neues aus Parteidisziplin und der damit verflochtenen Furcht vor zu großem Wagnis gleich von vornherein verworfen wurde. Sehr zweischneidig, und schon damals gemischte Gefühle. Nichts Klares. Meist nur eine dumpfe Wut, dass der jeweilige Chef nicht bereit war, etwas mehr zu wagen. Vorbei. Vorbei auch die Toleranz. Jemandem, der sich meine Achtung verbaut, verwirkt hat, des Kollektivs wegen zu mir einzuladen. Die „Neuen“ der „practic“-Redaktion waren recht angenehme Menschenkinder. Wir fanden zueinander leicht Zugang, kannten uns ohnehin jahrelang vom Kaffee in der Kantine. Man wird einige der Bekanntschaften pflegen. Aber der Chef. Ich bin es leid. Zuviel Inkompetenz, verächtliches Misstrauen, pure Erfolgsgier auf Kosten der anderen. Dieser hier war ein ganz besonderes Exemplar: selbstgerecht, jammervoll ängstlich. Unterwürfig nach oben und hinterhältig, grob tretend nach unten. Aber dennoch war er von dem Wunsch beseelt, gemocht und geachtet zu werden. Was dieser kleine, korpulente Mann seinen Leuten in dem davon gehasteten halben Jahr angeboten hat, war oberschlimm. Wer sich wehrte, dem drohte er unterschwellig mit „Du kannst ja gehen.“ Wer konnte sich das leisten? Sein Misstrauen wandte sich gegen alles, was er nicht kontrollieren konnte. Selbst Recherchezeit. Als würden wir uns bunte Tage machen. Dafür gab es ohnehin keine Zeit. Fähig war in seinen Augen der, der immer am Arbeitsplatz war, ähnlich einem altpreußischen Beamten. Was für eine Auffassung von Journalismus! Nachdem das Informations-„Privileg“ der Chefs des Kinder- und Jugendverlages durch den Zentralrat der FDJ gebrochen war, hatte der Mann die feine Angewohnheit, eintreffendes Info-Material, welches sich seine Redakteure über fleißige Kontakte einholten, aus der Post zu nehmen. Bücher, Zeitschriften, Einladungen, PR-Materialien, wichtige Terminsachen. Vieles sah der eigentliche Empfänger zu spät oder nie. Irgendwann, wenn wir an unseren Bleistiften kauten, Informationen zu einem geplanten Beitrag auf diesem Wege fehlten, holte er das Zeug hervor, mit den Worten: „Da hast du aber schlecht recherchiert. Hier sieh‘ mal. Kann man alles nachlesen…“ Man bedenke: diese Redaktion war durch die zweimalige Konkursmeldung des Verlages Junge Welt und die schwebenden Kaufverhandlungen von allen Lebensnerven gekappt. Sie war zu dem neu zusammengestellt. Jeder Redakteur eroberte sich eben erst sein Fachgebiet. Bei laufender Produktion von je zirka 25 bis 28 Druckseiten. Es galt Autorenkontakte neu aufzubauen. Die wenigen vorhandenen bedienten offenkundig nicht das neue Profil. Schwierig, da keiner sagen konnte, ob noch Honorare gezahlt werden würden. In dieser Situation kam jener Charakterzug des Chefs einem Boykott unserer Arbeit gleich. Der Mann schuf sich so ein neues, „eigenes“ Informationsmonopol, was seine Wichtigkeit als Chef wiederbelebte. Ich liebe diese Spezies, die nicht begreift, dass sie ohne ihr Team gar nichts ist. Diesem Menschen nicht mehr unterstellt zu sein, war, wie gesagt, das stille Glück der Kündigung. Ich wollte ihn nicht einladen. Ich war einfach sauer. Nach diesem extremen halben Arbeitsjahr vermochte er nicht einmal, uns ein Zeugnis über unsere Arbeitsleistung zu geben. Wir mussten ihm wahrlich mit Stichpunkten auf die Sprünge helfen. Er Wusste nicht, welch‘ ein Aufwand in dieser Art Beiträgen steckte.

Ich denke noch mit Schrecken an meine Kork-Produktion. Nach sechs Tagen „Jahresurlaub“, für den man in dieser Redaktion beinahe einen Kniefall tätigen musste, erfuhr ich freitags: Das nächste Heft wird produziert. Nichts sollte vor dieser Info angekurbelt werden, was Kosten verursacht. Aufgescheucht tritt mir der kleine Mann entgegen: „Du wolltest doch eine Verlegepraxis zu Korkfußböden machen. Könnte der Hauptbeitrag werden. Mach‘ mal, übernächsten Montag will ich ihn haben.“ Ich dachte, mir bleibt die Luft weg. Wollte schon, ja, aber unter vernünftigen Bedingungen. Nun hatte ich eine Woche und ein Wochenende Zeit, daneben fünf andere Beiträge. Das hieß: Mit einem Fachhändler in Westberlin telefonisch einen Termin zum Montag machen. Zwei Stunden Finger wund wählen, zwischenzeitlich wäre ich selbst dort gewesen. Abends Renovierungsbeginn unserer Küche, die sich noch im Ausbauzustand befand. Den Vertrag für diese Wohnung hatten Hans und ich gerade eine Woche lang. Beim Abschlagen der alten Fliesen fielen große Flatschen Putz von der morschen Wand. Also rund acht Quadratmeter neu putzen. Das trocknet schwer. Aber die Raufasertapete musste einen Tag später darauf. Die Nässe grinst förmlich schadenfroh durchs Papier. Nachts laufen Heizsonnen. Wenigstens der Fotoausschnitt muss tipp-top sein. Montag Rezensionen im Verlag schreiben. Mittags ins Fachgeschäft. Sich mit Material vertraut machen und beschaffen. Die Sorte, die uns zusagte war nicht vorrätig. Vier Wochen Bestellzeit! Da hab’ ich mir die Dame gegriffen, stiefelte an ihrer Seite durch das Lager und spähte mit Adleraugen, wo sich ein Posten über 11 Quadratmeter findet. Einen gab es – 300 DM teurer als geplant. Wunderbar! Was soll’s, ich musste ihn nehmen. Abends Fenster streichen. Dienstag früh Gesprächstermin mit einen Hobbypyramidenbauer. Zurück in den Verlag, den Beitrag aufschreiben und mit dem Fotografen, der sich wie eine Diva spreizt, einen Fototermin für die Pyramiden aushandeln. Schließlich ist die Sache abgemacht. Dazu tritt mein Chef: „Eigentlich könnten wir ja aus dem Kork-Thema eine Titelseite produzieren, nicht?“ Ich verdrehe die Augen: „Die Küchenwand ist noch nass. Es waren Fotoausschnitte vorgesehen, nie eine Totale. Da ist ein Ossifenster drin, die Möbel sind nicht neu…“ „Versuch das mal und lass dir was einfallen“, entgegnete er nur und hat es plötzlich eilig wegzukommen. Wie? Es darf nichts kosten, muss exquisit sein und schnell gehen. Klar, nach Feierabend und aus meiner Börse. Ich bin maßlos wütend. Heute Abend geht das Korkverlegen los. Wir haben das noch nie gemacht. Hans geht vorsichtig mit dem Material um. Es war nicht billig und die Mark zählt, seit er ohne Einkommen ist, in unserem Haushalt was. Ich trau‘ mich nicht, ihm gleich von den Chef-Extrawünschen etwas zu sagen. Denn das bedeutet, wenigstens eine kleine neue Sitzgruppe zu erwerben und eine Alujalousette, mit der wir das Ossifenster tarnen. Etwa 300 DM zusätzlich, rechne ich. Und wann soll ich das einkaufen? Der Chef nervt mich mit meinen anderen Beiträgen. Morgen und Donnerstag sind zwei sehr komplizierte Autorenbeiträge zu bearbeiten. Bei dieser Autorin heißt das nicht selten, völlig neu schreiben. Ihre Ideen, das Informationsmaterial und der Bau sind gut. Das Aufgeschriebene eine Katastrophe. Kein Stil, keine innere Logik. Es sind zwei lange Beiträge, das pack’ ich möglicherweise nicht in der knapp bemessenen Zeit… Das Verlegen geht Hans gut von der Hand. Ich leime inzwischen die Korkfliesen vor. Was aufhält, sind die Fotoeinstellungen. Stunden vergehen darüber. Nachts gegen eins klingelt es. Eine Nachbarin kann das Hämmern (Kontakten der Fliesen) nicht mehr ertragen. Sie hat Recht, ich entschuldige mich. Der Fotograf mault, er war gerade so gut in Fahrt. Wir brechen ab. Morgens komme ich mit umschwollenen Augen in die Kantine. Ich treffe die Frau unseres Chefs, die auch im Hause arbeitet. Sie fragt mich, wie ich vorankomme und mich fühle. „Ach, ich könnte deinen Mann aus dem Fenster schmeißen. Der merkt einfach nicht, wann er einen überfordert und die Sache mit dem Geld…“ Sie schaut mich scheinbar mitfühlend an. Hat dann aber nichts Besseres zu tun, als ihren Alten zu informieren. Das handelt mir ein längeres, prinzipielles Gespräch ein, was nichts bringt, außer einen „freien Tag“, an dem ich dann nach Möbeln ‚rumrenne. Die kommen Donnerstag, die zwei Autorenbeiträge liegen abends fertig vor. Der Chef begreift nichts: Dass Putz eine Woche zum Trocknen braucht. Dass das Verlegen von Kork mindestens acht Stunden fordert. Fotoaufnahmen die Sache verzögern. Dann drei Lackschichten auf die Fliesen müssen. Diese eigentlich erst nach sieben Tagen ausgehärtet sind und danach erst ein schwerer Mamortisch draufgestellt werden kann. Er weiß es eben nicht. Er ist ja nur der Chef eines Heimwerkermagazins.

Mit der letzten Lackschicht haben wir gemogelt. Das Küchenszenario war für Freitag fotobereit. Erst als der Foto-Typ wieder raus war, zog ich die dritte Lackschicht auf. Zu guter Letzt hätten wir sonst noch die Wertarbeit versaut. Am Wochenende schreibe ich den Sechs-Seiten-Beitrag dazu. Montag liegt er vor und irgendwann höre ich Wochen später, was der Chef über meine Arbeit weiß – „…nur, sie braucht für die Beiträge immer so lange…“

Der kommt mir nicht an meinen Küchentisch, gärt es tief in mir. Es verletzt mich, wenn einer so dumm-dreist daherschwätzt. Unterm Strich war es doch so, dass solche Projekte außer mir (Dank der Hilfe meines Mannes) in der Redaktion keiner vermochte. Exklusiv für „practic“ arbeitete kein verlagseigenes Atelier mit fest angestellten handwerklichen Entertainern, wie es sich westliche Konkurrenzblätter leisten. Keiner der Heimwerkermarktproduzenten liefert für „practic“ frei Haus. Wir sind nicht finanziell integer und obendrein ohne Zukunft. Während der Chef zu Gast im Wessiland bei den Herausgebern mit der Nachricht protzte: „Wir haben uns jetzt auch eine Ausbauwohnung vorgenommen…“, schlugen Hans und Marie sich die Nächte um die Ohren, gaben 600 Familien-DM mehr aus als gedacht. Das innerbetriebliche Honorar wog nicht mal die Materialkosten auf. Weil er nicht Wusste, was Arbeit kostet. Vielleicht war ich nur zu feige, NEIN zu sagen oder zu verantwortungsvoll für das Heft. Jetzt kann ich es. Ich bin nicht mehr abhängig beschäftigt.

Schließlich richtete unser Gestalter das Abschlussfest aus. Es geriet angenehm. Ich hatte meinen Groll versteckt. Daneben sollte noch etwas richtig Produktives herauskommen. Ich konnte den gestaltenden Phillip, der feierabends wunderschöne Aquarelle und Karikaturen zaubert, überreden, mit uns ins „Abseits“ zu fahren. Auf dass er sich dort vielleicht der Öffentlichkeit präsentiert. Schon lange ging mir das durch den Sinn. Phillip reagierte jedes Mal sehr zögerlich, wenn ich ihm von der kleinen Galerie am Rande Berlins erzählte. Er kann sich nicht von seinen Werken trennen, was ihn durchaus sympathisch macht. Aber mal ehrlich, jede Wohnung birgt nur begrenzt Platz für einen Kunstschaffenden. Und wer Kunst kreiert, braucht irgendwann Resonanz.

 

In der Spinnstube

Schüchtern und blass wie immer, obendrein spät, schneit Phillip in unsere Wohnung. Wir pendelten schon eine halbe Stunde im Mantel zwischen Flurtür und Küche. Wo bleibt er nur? Hoffentlich bezieht es sich nicht draußen. Das Fotolicht ist gerade noch erträglich, denke ich, die dritte Zigarette nacheinander qualmend. Im „Abseits“ hängt eine neue Ausstellung, die sich besonders gut für Schwarz-Weiß-Aufnahmen eignet.

Hans und Phillip ziehen schwunghaft die Trabitüren in die Schlösser, ich throne hinten und bewahre die grafischen Schätze, die schlicht in einer übergroßen Plastiktüte stecken. 30 Minuten später rollen wir bei den Müllers vor. Zwei große Nobelkutschen parken im Sand. Also Manne hat Gäste. Keine gute Gelegenheit für uns, aber seine Kasse kann’s brauchen. Es ist Sonntag und frühlingsmild, da zieht es mehr Leute zum Bistrowirt mit dem selbst gemachten Apfelstrudel. Manne umarmt uns kurz und macht sich gleich wieder in seiner Winzlingküche zu schaffen. Der Geschirrspüler ist kaputt. Der Wirt sauer. Auf der Anrichte duftet ein malerischer Strudel. Gut, warten wir bei Cappuccino und Strudel. Bevor der kommt, krauche ich in alle Ecken des Gebäudes und mache Fotos.

Galerie & Bistro trauten sich die Müllers seit September ’90, einer Zeit, wo die Kneipen gähnend leer waren. Kaum wer hatte Muße oder ganz drastisch gesagt, die meisten hatten Existenz- und damit Geldsorgen. Trotzdem, zu lange gingen die Müllers mit diesem Projekt schon schwanger. Es musste raus aus ihnen. Tine meinte damals: „Allein die Idee ist wie ein Orgasmus.“ Jetzt war es kein Problem mehr, einen Gewerbeschein zu bekommen, also los. Manne schuf mit seinen eigenen Händen aus der alten Waschküche nahe dem Zweifamilienhaus einen Ort zum Schauen, Fühlen und Kommunizieren. Wie macht man das? Mit Phantasie, künstlerischem Talent, Esprit und der Lust auf Leute. Manne, der Entertainer. Bei ihm kann man ganz selbst sein, sich ausquatschen oder wenn er denn mal überschäumt, ihm gedanklich folgen. Ideen tanken, immer wieder neu. Seine klitzekleine Galerie mit Bistroveranda ist wie ein Theater. Ein Künstler stellt sich vor, und Manne entwirft dazu den Raum mit beziehungsreichen Ambiente. Mal Dekoration, oft selbst mit Aktionskunst, gleich einem Bühnenbildner und doch mehr. Jahreszeiten im „Abseits“, das ist wie mit einem Chamäleon. So viele Ausstellungen, so viele völlig neue Räume und immer wieder doch DAS „Abseits“. Seit ich es kenne, ist für mich ein Markenzeichen für innovationsreiche Gestaltungskraft, gepaart mit menschlichen Gaben ist. Es soll Leute geben, die schon Wetten abgeschlossen haben sollen, wann dem Müller nichts mehr einfällt. Die aber wissen wenig von dem Mann, der selbst zerfleischend an sich arbeitet. Manchmal nahe dem Wahnsinn, immer aufs Neue Kreationen heckt.

Die Empfindsamen dieser Welt sind zwar zerbrechlich, doch ihre Empfindungen geben ihnen ein Gespür, für diese veränderliche Welt, aus der sie unentwegt schöpfen. Oft leidend und ahnungsvoll. Das werden die Dickhäuter nie begreifen, nur bestaunen, wenn sie es wahrnehmen. Und so begibt es sich, dass bei Manne viele Sensible sich treffen, die die Szenerie ergänzen. Die wenigen Stärkeren unter den Gästen schmücken sich nur mit dieser Bekanntschaft und kaufen Kunst, was die Galerie am Leben erhält.

Wenn es jemanden gab, dem wir während und nach der Wende viel zu verdanken haben, dann ist es Manne. Wie viele Nächte haben wir gemeinsam nach Antworten gesucht. Nie deckungsgleich, manchmal völlig daneben und schräg, doch es war möglich, alle Ängste raus zulassen. Und das ist es eben.

Tine fegt durchs Geviert. Sie wartet auf einen Klavierstimmer, für eine Veranstaltung, die Müllers im Schulzendorfer schloss ausrichten wollen. Der Mann ist überfällig. Noch eine Weile kann sie sich nicht entschließen, uns zwischen diesen Termin zu schieben. Wenn der gleich kommt… Dann nimmt sie uns doch beiseite: „Du hast mir jemanden mitgebracht? Ach, euren Gestalter. Haben Sie Arbeiten dabei?“ Phillip breitet Werke aus und Tine springt an, denkt über Personal- oder eine ausschnitthafte Karrikaturen-Aussstellung nach. Vielleicht mit jemandem zusammen? Das hatten sie im „Abseits“ noch nicht. Satire – eine Herausforderung für Manne. Sie will es, und ich freue mich für Phillip. Hoffe nur, dass der Junge nicht zwischendurch kalte Füße kriegt und die Sache nicht wagt.

Ein paar Tage später setzt sich Phillip in ein Auto, das ihn in den Westen mitnimmt. Er bekommt in W. sofort einen sicheren Gestaltungs-Job. Im „Abseits“ ruft er nicht mehr an. Er flieht aus dem Abseits, und der Osten hat wieder einen guten Mann verloren. Alsdann, Manne eröffnet am Wochenende, nachdem Phillips Koffer gepackt sind, eine neue, brillante Ausstellung.

 Regenwetter

Der erste Gang zum Arbeitsamt ist wie der Weg zu Beerdigungen. Es regnet sinnflutartig. Ein Menschenstrom drängt in Richtung Gotlindestraße. Kahler, protziger Beton links- und rechtsseits, nichts Feinsinniges ist in dieser Straßenflucht. Mir schießt die Bemerkung eines Museumsführers aus Weimar durch den Kopf. Ich stand damals (1984) vor zeitgenössischen Gemälden und fragte Hans mehr vor mich hin, warum man heute nur überall so scheußlich-grobe Techniken vorfindet. Da mischte sich dieser Mann in meine Gedanken: „Na, die Welt ist doch nicht zart wie ein Aquarell oder die Pinselführung der Romantiker. Schauen Sie sich doch um…“ Es ist wahr, die Erde ist kaputt, der Norden asozial gegenüber dem Süden. Pfarrer Schorlemmer nennt den Menschen einen Nimmersatt. Ohne Geistes-, ohne Wertewandel wird die Menschheit zugrunde gehen. Unwiderruflich? Früher glaubte ich an die Vision Engels: Dass die Menschen sich nur vornehmen, was sie auch bewältigen können. Und dass die technische Evolution auch jene heilsamen Kräfte in sich birgt, die die Zerstörung aufhalten, gar regenerativ wirken könnten. Logisch scheint mir das noch immer. Nur, ich sehe die Kräfte der Vernunft nicht, die diese Seite der Menschheitsentwicklung mehrheitlich betreiben. Nicht einmal national, geschweige denn global. Selbst mit dem einzelnen Leid, einer tödlichen Krankheit eines nahen Menschen beispielsweise, können die Leute nicht umgehen. In der DDR nicht und im großen Deutschland auch nicht. Der Tod ist ein gesellschaftliches Tabu. Indem die Menschen vor Urzeiten schreiben lernten, war die naturgegebene Macht der Alten gebrochen und damit verblasste nach und nach ihre Rolle in der Gesellschaft. Wer lesen konnte, war auf das Wissen der Ältesten der Dorfgemeinschaft, die das Monopol auf die Erfahrungen der Art innehatten, nicht mehr angewiesen. Bekanntlich verdoppelt sich heute der Wissensschatz der Menschheit aller sieben Jahre. Wer kann diese Herausforderung bewältigen? Für keine Menschengruppe ist das Lernen an sich so typisch wie für die Jugend. Unweigerlich musste besonders in unserem Zeitalter daraus der Fetisch entstehen: Nur die Jugend könne diese gigantische Aufgabe packen. Ohne Frage ist das nicht so, denn es zeigt sich inzwischen, dass reifere Menschen dem gesellschaftlichen Druck standhalten, neue Lebensgewohnheiten entwickeln, beispielsweise lebenslang zu lernen. Nicht alle gleichermaßen, doch der Trend ist sichtbar. Berufe auf Lebenszeit ausgeübt, das gibt es kaum noch. Wie auch immer, jung und fit sein ist in. Mobilität und immenser Leistungsdruck führt zur Vereinsamung schon im Jugendalter. Eine Folge daraus ist die Singlebewegung. Kleine Wohnungen, teure Mieten lassen den Drei-Generationen-Haushalt ohnehin kaum noch zu, indem der natürliche Gang des Lebens für Kinder noch miterlebbar war. Welchen Platz haben in diesem gesellschaftlichen Existenzraum das Alter, Elend, die Krankheit und das Sterben? Keinen. Er wird verdrängt.

Ich erinnere mich noch gut, wie das damals war, als sich meine 53jährige Mutter hinlegte und innerhalb von sechs Wochen starb. Meine Kollegen behandelten mich wie ein rohes Ei. Keiner fand passende Worte. Sie waren genauso hilflos wie ich auch. Nur ich steckte in dem Problem und lernte dabei handeln, sie nicht. Es war ihnen gespenstisch, wie ich allmorgendlich in der Redaktion erschien, die Nacht hing mir um die Augen, und täglich wurde ich schmaler. Jedermanns Mutter oder Vater stirbt irgendwann. Jeder lebt mit dieser weit weg geschobenen Gewissheit. Doch mit 30 war man in der DDR fast noch ein Jugendlicher. Ich hatte nichts Gluckenhaftes. Die meisten Großmütter waren auch noch keine echten Omas, eher die beruflichen Stützen der DDR-Nation. Da denkt man nicht an solche Verluste. Sie geschehen unvorbereitet, weil man sie aus den Zukunftsplänen verbannt und die Zeichen nicht versteht. Bei dem Ungarn Gyula Illyés fand ich diesen treffenden Gedanken: „Vergänglichkeit ist nicht ohne Humor. Für einen Halbwüchsigen ist schon ein neckischer Rippenstoß oder ein unverhofftes Beinstellen etwas Geistreiches. Auf dieser Ebene liegt auch das geistige Niveau des Todes; mit solchen Mätzchen versucht er uns eines Tages zu umgarnen, uns heimlich still und leise ein Zeichen zu geben. Aber wieso lassen wir uns auf derlei Schulhofpausengerangel ein? Wir nähern uns dem Grab mit Tanzschritten und Bocksprüngen… die Definition Epikurs über den Tod: ‚Solange ich bin, ist er nicht, und wenn er ist, bin ich nicht mehr.’ Etwas Geistreicheres zu diesem Thema gibt es bis heute nicht, auch nichts Tröstlicheres.“

Und was tröstet den, der verliert? Dem eine neue Rolle in der Familie zufällt? Der sich für den schweren Weg entscheidet, den nächsten Menschen in vertrauter Umgebung, würdig und geliebt sein Leben beenden zu lassen? Es gibt keinen Trost. Nur die Zeit wandelt langsam den Schmerz in Dankbarkeit. Wir wussten nicht, worauf wir uns einließen.

*

Sonntags stand Ria nicht auf. Sie schlief an freien Tagen immer gern lange, so war die Familie nicht sonderlich beunruhigt. Der gestrige Veranstaltungsabend in Oranienburg wog ihr wohl schwer in den Knochen. Es lief bereits bei den letzten Rundfunk-Live-Sendungen nicht mehr so gut. Sie wirkte schon monatelang irgendwie ausgebrannt, als wären alle Ideen verraucht. Erst mittags, sie wollte auch nicht zum Kaninchenbraten erscheinen, wurden wir unruhig. Fahl sah sie aus und klagte über Schmerzen im Bauch. Zur Kaffeezeit tauchte Mutti kurz auf, griff nach dem braun-weißen Zigarettenpäckchen und zündete sich ein Stäbchen an. Zwei Züge, dann drückte sie es mit einer Ekelkrause über der Nase verächtlich aus. Ria rauchte leidenschaftlich. Wenn nicht, war sie krank. Vielleicht brütet sie einen Infekt aus? Sie schlief bis in den folgenden Morgen. Ich hatte Schreibtag und konnte mich so ihrer etwas annehmen. Mittags brachte ich sie zum Arzt. Ganz langsam schlich meine kleine Mutter wenig später die paar Stufen zum Krankenhaus hinauf. Unsere Hausärztin hielt es für angebracht und tippte auf Galle. Dann ging alles ungeheuer rasch. Zwei Tage später OP. Vater wurde zum Chefarzt gerufen. Währenddessen hielt ich Mutters müde Hand, ganz gelb, ganz eingefallen schaute sie mich mit fragenden, matten Augen an: Wann kann ich hier wieder raus? Dieses Haus ist ein Alptraum. Bald Mütterchen, bald.

Auf dem Gang stand Vater, die Schultern nach vorn gefallen, seine feuchten Augen verbarg er hinter der schweren Hornbrille. Hände zitternd steckte Ernst das nasse Taschentuch in seiner Hose. Dieser hoch gewachsene, akkurate Mann wurde zusehends kleiner. Er taumelte, als Hans und ich ihn wortlos in die Mitte nahmen. Schleppend die Stufen hinab, hinaus in den Novemberregen zum Auto. Die Fahrt von Königs Wusterhausen nach Haus schluchzte er vorn neben Hans. Er brauchte nichts zu sagen, sie wird sterben. Stunden später konnte Vater sich zu wenigen Worten sammeln. „Sie hat Krebs. Unheilbar. Sechs, acht Wochen gibt ihr der Arzt. Lasst sie uns nach Hause holen, sobald es geht.“ Dann brach er völlig in sich zusammen und ergab sich in dieser Nacht dem Alkohol für sein ganzes weiteres Leben.

Eine Woche darauf holten wir Ria heim. Alles war vorbereitet. Das Krankenlager im Wohnzimmer, eine Klingel, die ins Schlafzimmer führte, Schnabeltassen und Bettgeschirr, Unmassen von Verbandszeug und Medikamenten, die Hausärztin würde täglich kommen. Wir folgten Vaters Wunsch, ihr nicht die Wahrheit zu sagen. Ria ist eine Kämpfernatur, sie würde wissend noch schwerer sterben, war seine Ansage. Diese Lüge kommt mir heute noch wie ein Fluch vor. Wie sie Pläne machte, glaubend, eine schmerzreiche Virusgelbsucht ausheilen zu müssen. Es war dann jedes Mal so ein Gefühl, ertappt zu sein. Täglich verfiel sie rapider. Die Nähte ihres Nachthemds drückten, ich „nähte“ welche ohne. Diätkost für einen Spatzenhunger. Jetzt erst lernte ich richtig kochen. Jeder Wunsch wurde ohne Murren erfüllt. Vater war mit krankgeschrieben, ich arbeitete so viel es ging zu Haus. Nachts kaum Schlaf. Vater war am nahesten dran. Vier, fünfmal raus, irgendwann blieb er gleich nach dem ersten Wecken in der Küche beim Korn.

In dieser Nacht hatte die Klingel Ernst nicht aus dem Halbschlaf gerissen. Sechs Wochen waren ins Land gegangen. Er schreckte hoch, schlich in die Küche zur Flasche und traute sich nicht in die Wohnstube. Was würde dort sein? Er zitterte vor Schaudern. Leise öffnete ich die Küchentür, „Hallo Paps, morgen, was ist los? Schläft sie noch?“ Er zuckte mit den Schultern, und ich kochte Kaffee und Tee. Mittags musste ich zum Aufnahmegespräch für ein lang erträumtes Philosophiefernstudium an die Humboldt-Uni. Es blieb so noch Zeit für die beiden. Es war überhaupt erstaunlich, dass ich die Studienvorbereitungen neben der Arbeit und dem Führen zweier Haushalte noch bewältigte. Neben dem ungläubigen Hans, der sich mit den Worten „es wird schon“ in seinen Hobbykeller verdrückte. Bastian trug schwer an dem Zustand seiner Oma. Jeden Tag hielt er sich unaufgefordert mindestens eine Stunde bei ihr auf. Wenn sie wach war, sprach er mit ihr, schlief sie, setzte er sich neben sie und puzzelte neben ihrer Liege auf dem Boden. Immer ganz dicht. „Ich trau‘ mich nicht rüber, sie hat die ganze Nacht nicht geklingelt“, sprach es plötzlich flatternd hinter meiner gedankenverlorenen Geschäftigkeit. Ich ließ alles stehen und lief über den Hausflur, durch die Diele, deren Teppich schon die Laufpfade wies, zu Ria. Sie schlief und erwachte, indem ich mich zu ihr auf die Bettkante setzte. Ganz weit weg war sie heute und doch schaute sie aus fragenden Augen. Ich richtete ihr die Kissen, wusch sie, rieb ihren wund gelegenen Körper ein, kämmte ihr das graue Haar und brachte das Frühstück, das sie sich lallend zusammenstellte. Dann sprach sie ihre letzten halbwegs klaren Worte, beinahe schon jenseitig: „Ist dieses Scheißjahr endlich zu Ende?“ Ach, Mütterchen, ich legte meinen Kopf zu ihrem, streichelte ihre dürr gewordenen, faltigen Hände. Diese Hände, die niemals zuschlugen, diese geschickten, zärtlichen. In die Kissen flossen heimlich meine Tränen. An diesem 3. Januar schlief Ria so viel wie lange nicht. Als ich von meiner bestandenen Aufnahmeprüfung zurückkam, erzählte ich ihr, was sich zutrug. Doch ob sie mich noch vernahm, weiß ich nicht. Nachmittags hatte ihr die Ärztin wieder Morphium gespritzt, so dämmerte sie wie in Watte vor sich hin. Abends, gegen neun, polterte es gewaltig auf der Treppe. Ernst muss sie förmlich heruntergestürzt sein und rief schon durch die geschlossene Tür mit schriller Stimme: „Jetzt ist es passiert, kommt schnell, kommt.“ Ich nahm ihn bei der Hand, wie man mit einem ängstlichen Kind über eine Klippe springt. Langsam stiegen wir ins Obergeschoß. Dort lag Ria. Im Tode schwemmte sich ihr eingefallener Leib unerklärlich leicht auf. Sie hatte so fast ihre wohlproportionierte Figur zurück und lag entspannt, wie wenn sie nur irgendwo sacht am Strand eingeschlummert war, ganz friedlich, gar nicht grauselig. Wir setzten uns zu ihr und rauchten nach sechs Wochen alle drei unsere erste Zigarette in diesem Raum. Stellten ein korngefülltes Glas in die Mitte des runden Tisches und stießen nach russischem Brauche auf diese Weise mit unserem toten Mütterchen an. Sie hat es überstanden, und wir erinnerten uns tränenreich schöner Stunden mit ihr. Dieses jähe Ende bedeutete zukünftig anders zu leben. Wie, das ergab ein Tag nach dem anderen. Die Leere jedoch blieb bis heute.

Im „Sonntag“ schrieb ich damals diese kleine Sentenz:

Floskeln

Jemandes Frau ist gestorben, viel zu früh. Man erinnert sich, neulich war sie noch im Konsum. Sie kam immer erst kurz vor Ladenschluss. Und war sie nicht kürzlich noch in der Schule, um ein Gespräch aufzunehmen?

Herr Jemand hört nun oft auf seinen einsamen Wegen: „…und halt die Ohren steif!“ Jemand liebte seine Frau 35 Jahre. Dann vergeht diese Frau in knapp sechs Wochen. Er hat sie Zuhause sterben lassen und sich davor gefürchtet. Jemand kochte, verband, zog Bettzeugfalten glatt. Seine Zigarette rauchte er von nun an in der Küche zum Korn. Er schlief kaum mehr, bis man sie in einem weißen Spitzenhemd davontrug.

In jener letzten Nacht sprach er lange mit seiner leblosen Liebe, leise, hilflos und es war ihm, als würde seine Seele zerplatzen wie ein Glas Wasser im Frost. Herr Jemand ist 55 Jahre. Nun allein, schafft er sich eine Legende, die von Frau Jemand, eine süße, an der er sich nährt – doch Erinnerung ist gefährlicher als Phantasie. Sprüche, wie der mit den steifen Ohren, verletzen ihn. Herr Jemand braucht Wärme – keine verlegenen Floskeln.

 

 

 

Still und ohne Lorbeer

Herzensbildung bei Kindern entsteht nicht allein durch das Vorleben der Eltern, das ist nur der Ansatz. Man kann einige Bücher lesen, Maxie Wanders „Tagebücher und Briefe“ zum Beispiel, doch „vorbereitet“ ist man damit auf Schicksalsschläge nicht. Es ist die Haltung eines anderen, die man achten oder gar bewundern kann. Seine findet man nur in sich selbst, ob man bereit ist zu geben, Gefühle zu zeigen, schlimme Wahrheiten und Verantwortung für den Vertrauten anzunehmen. Freude teilt sich gemeinhin federleicht, geteiltes Leid schmiedet zusammen. Es ist wahr, was Saint-Exupéry im „Kleinen Prinzen“ den Fuchs sagen lässt. „Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgendetwas kennen zu lernen. Sie kaufen alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, so zähme mich… Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar…“ (aber) „du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast…“

Vielleicht waren es das wenig Perfektionistische, die unendlichen Behelfslösungen, das Nicht-Weiterkönnen ohne den anderen, das Nicht-Weg-Können, das Erfinderische gekürt aus dem Mangel… der eigentliche Grund, dass man so viele Freunde in der DDR haben konnte. Womöglich ist es auch der Kern des heute so umstrittenen Wir-Gefühls. Füreinander verantwortlich, ein Luxus, der mit der Hatz nach dem großen Wohlstand im Osten an Glanz verliert. Eine unabänderliche Folge? Wahrscheinlich.

Heute muss ich fast lachen über so viele kuriose Blüten, die dieses Wir-Gefühl trieb. Es muss Mitte der achtziger Jahre gewesen sein. Ich recherchierte zu einer Erfindung, die ein Jugendforscherkollektiv im „Untergrundspeicher Mittenwalde“ gerade zum Abschluss brachte. Es ging um einen Simulator für hunderte von Metern tiefe Gesteinsbohrungen. Eine wirklich wertvolle Idee. Zur Messe in Leipzig sollte die Entwicklung präsentiert werden. Doch die fachgerechte Beschriftung des Gerätegehäuses wurde zum Problem. Ich saß mit meinem Block dabei, als sich wegen so einer Lappalie die Messebeteiligung in Frage stellte. Einschlägige Siebdruck-Firmen hatten Zeitangebote unterbreitet, die indiskutabel waren. Die jungen Forscher ließen ratlos die Köpfe hängen, denn auch Folienbuchstaben gab es höchst selten. Ich hätte weggehen können, um diese tragik-komische Situation als beißende Glosse zu notieren. Was ging mich das an? Doch ich konnte nicht anders. Wusste einen Mann bei der Firma „Signograph“, der für ’ne Pulle Schnaps auch mal nach Feierabend Drucksiebe fertigte. Heimlich, versteht sich. Ich hob also aus meiner Schreibecke die Stimme und sagte zu, mich darum zu kümmern. Mit Maßen, Text und Zauberwasser ausgestattet suchte anderentags den Mann bei „Signograph“ auf. Nach drei Tagen schleppte ich Sieb, Rakel und Farbe, die es in den Geschäften auch nicht gab, in die Redaktion und rief den Teamleiter in Mittenwalde an. Zwei Stunden später stand der ungläubig vor mir und Wusste, die Dinge geldlos entgegennehmend, nicht wohin mit seiner Freude. So war das halt. Sicher, solche Aktiönchen und andere dieser Art deckten eigentlich die Schlamperei und das Unvermögen vieler nur zu. Aber diese Jungs waren nicht schuld daran. Sie hatten sich für ihre Idee Feierabende um die Ohren geschlagen. Ärger mit Abteilungsleitern gehabt, die ihnen die Sache nicht zutrauten. Dann sich erfolgreich durchgebissen. Sollte das Projekt zeitlich scheitern, wenn ich den Ausweg in der Hand hatte? Zufällig gewiss, aber diese Zufälle waren häufig die Regel. Gegen diese anzuschreiben war unmöglich. So blieb es bei diesem und jenem, gelegentlich ein kleiner Wundertäter zu sein. Still und ohne Lorbeer. Man ließ eine Sache nicht wegen der Parteibeschlüsse nicht platzen. Es ging wesentlich öfter um natürlichen Berufsstolz, um Selbstachtung oder um die winzige Prämie. Das auszeichnende Händeschütteln später war oft für beide Seiten peinlich.

Allein diese Motivations-Tatsache wurde zuweilen argwöhnisch betrachtet. Da gab es beispielsweise einen Beschluss, wonach junge Fachkräfte für leistungschwächste LPGen gewonnen werden sollten. Im Klartext: Jugendlichen tauschten einen guten Arbeitsplatz gegen einen schlechten, auch geringer bezahlten. Mussten indem ihre Freundeskreise verlassen und kamen in fast ausgestorbene, abgetakelte Dörfer ohne Kneipe und Konsum. Eine Folge großmännischer Landwirtschaftspolitik der Partei. Ich traf sogar bei meinen Recherchen in einem Dorf an der F5 (gen Norden) auf einen LPG-Vorsitzenden, der sich schon freute, in mir mal eine zum Reden zu finden. Der hatte es ausschließlich mit Alten und Alkoholikern zu tun. Letztere hat die Fernverkehrsstraße angeschwemmt und er wurde sie nicht mehr los. Irgendwie faszinierte mich diese Aktion. Wer macht sich da auf den Weg? Wirklich freiwillig? Und warum? Das Entdeckte veranlasste mich dann zu einem fast literarischen, abenteuerlichen Vorspann zu einer umfangreichen Reportage, die den Motivationen auf den Grund ging. Als die Sache erschien, rief mich der Landwirtschaftssekretär des FDJ-Zentralrates an und warf mir vor, ich entpolitisiere Texte. Da hätte der Beschlussextrakt voran gehört. Ich lauschte dem grollenden Schwachsinn ein Weilchen. Als ich bemerkte, der will gar nicht hören, weswegen ich so und nicht anders heranging, legte ich einfach auf. Es war mir zu blöd. Wenn sich heute viele Aufklärer wundern, weshalb beinahe jede Fach-, Diplom- oder Doktorarbeit von einem SED-Zitat ausging, dann war es eben diese Praxis: Wer nicht die große Politik im exakten Wortlaut zu seinem Fach beherrscht, dient ihr nicht, und was ihr nicht dient, ist Ausschuss. Mag sein, das ist stark vereinfacht, aber so in etwa liefe die Dinge, und wer wollte schon umsonst studiert oder gearbeitet haben?

Nach diesem Erlebnis wurde ich ganz besonders sparsam mit solchen Zitaten. Nicht als Gegner der Lehre, sondern aus der hartnäckig vertretenen Erkenntnis heraus, dass ebenso Politik nicht ankommt. So nicht gelebt und gesprochen wird. Nur ein einziges Mal stand ein Beschlusszitat noch ganz prononciert vor meinem eigenen Text, in der Abschlussarbeit zu meinem Fernstudium. Natürlich.

Im Schneckenhaus aufrecht?

Wie kommt einer zum Widersprechen, zum Auflehnen gegen die Norm? Durch Reibung am erlebten Widerspruch der Gesellschaft. Aber das allein führt ihn eher zu philosophischen Fragen. Und wenn die gelehrte und verfügbare Philosophie auch Dogma ist? Und selbst, wenn das mit der Zeit erkannt wird, fragt sich weiter, will man den Konflikt pro-gesellschaftlich oder kontra auflösen? Radikal oder liberal? In den vorhandenen Strukturen oder hält man jene schon für untauglich? Hat man letzteres erfahren oder setzt man es ablehnend a priori voraus? Wenn ja, warum? Starke familiäre oder freundschaftliche Bindungen zum anderen Deutschland? Und wer die nicht hatte, nicht ins westliche Ausland kam, zu Untergrundkräften keinen Zugang suchte…? Und somit deren Alternativen, Einsichten, ihr Schriftgut und ihre Lebensart nicht kannte? Sie waren öffentlich nicht zu haben. Wer diesen Zutritt nicht fand, drehte sich im Kreis. Ich war ein Kreisel.

Was wusste ich von der „Kirche von unten“? Das es sie gab. Was sie konkret wollten, Wusste ich nicht. Ich hörte nur vom Stunk mit der Kirchenobrigkeit und der Staatsmacht. „Informelle Gruppen“ nannte die Macht alles, was im Untergrund keimte. Was der Presse über den Parteiweg zufloss, waren wilde Bruchstücke ohne Kontext. Das klang bedrohlich.

Was wusste ich von der Kirche schlechthin? Früh, dass es im Religionsunterricht schöne Abziehbildchen gab, die mir meine christliche Freundin in der Pioniergruppenversammlung zeigte. Sie war die Vorsitzende (später auch bei der FDJ) und, dass selbst mein Gitarrenspiel im Kirchenschiff fantastisch hallte. Mein Jugendfreund war Jugendklubleiter und in der „Jungen Gemeinde“. So kam ich ab und zu dorthin. Ich hatte keine Probleme mit Christen. Sie schienen mir nicht wesentlich anders als ich, vielleicht nur gespaltener, stiller. Irgendwie war ich nicht sonderlich neugierig auf sie. Ihre Weltsicht war nicht die meine. Nur Kirchengemäuer an sich und religiöse Malerei brachten in mir stumme Seiten zum Klingen

Ich begriff den Irrsinn solcher Verbote: „Du sollst keine Westkontakte haben…“, deren Einhaltung mir lediglich flüchtige Berührungen leicht machten, erst 1987. Zum ersten Mal flog ich ins westliche Ausland mit dem Jugendreisebüro. Acht Tage Griechenland. Von draußen sieht alles anders aus. Ich hielt die entstandenen Kontakte zu einer griechischen Filmschnittmeisterin. Jetzt spürte ich das Verbot und empfand es als pervers. Jetzt erst sah ich auch die Mauer anders. Was ich vorher als Notwendigkeit gelehrt bekam und als richtig ansah, wankte. Aber die Distanz zu Westdeutschland blieb. Es war mir fremd.

Einschneidend dann das „Sputnikverbot“ 1988. Man könnte es auch kollektiven Konflikt nennen. Viele Genossen überlegten wie ich, ob man noch in der „richtigen“ Partei sei. Man schrieb gemeinsam Protestbriefe an das ZK. Austrittsgedanken gab es wie noch nie. Aber bei jedem zeitlich versetzt und so hielt man sich gegenseitig fest. Es blieb hier und da die Grundidee, eine neue sozialistische Partei müsste her. Darüber wurde es Sommer 1989 und tausende Bürger flüchteten. Und wir weinten ihnen jede Träne nach, die wir hatten. Ich hatte Angst, unermessliche Angst, Bastian würde von jener Fluchtwelle ergriffen. Keine Angst vor Reglementierungen. Den Jungen mir hinter dieser Grenze vorzustellen – unerreichbar – der Gedanke brachte mich fast um. Es ist mein einziger Sohn. Alle Tage saß der Freundeskreis um Bastian an unserem Küchentisch. Äußerlich wie immer seit zehn Jahren. Mein Küchen-Jugend-Club – jederzeit geöffnet. Sie futterten mir den Kühlschrank leer, rauchten und tranken Kaffee wie die Weltmeister. Sieben, acht junge Männer und deren Mädchen. In Wirklichkeit saßen sie schon auf dem Sprung. Der und der war weg, hier ging sowieso nichts mehr. Nur die Eltern. Wäre einer des Kreises aufgebrochen, sie wären ihm gefolgt, alle. Ich habe in dieser Zeit hoch gepokert. Sprach mit ihnen von kommenden Veränderungen, dachte mir für sie den Schädel wund. Nichts so bleiben würde, erzählte von Anzeichen, dass die Jüngeren der SED einen anderen Kurs anstreben. Reisefreiheit wird es sicher bald geben… Von den anderen, den eigentlichen Wendemachern, Wusste ich im August noch nicht viel zu sagen. Meine Vision machte sich drei Monate später spärlich gegen die Wirklichkeit aus, sicher.

Mit der Wende zerriss der nebulöse Schleier. Der Untergrund trat aus seinen Nischen. Klartext. Hunderttausende Bürger empfanden diese Mutigen als Ventil. Die meisten Gedanken vom „Neuen Forum“, „Demokratie jetzt“, dem „Unabhängigen Frauenverband“… konnte ich annehmen, oder sie waren mir Denkansatz. Doch die Enthüllungsstorys jener Tage beschmutzen jeden halbwegs anständigen Genossen mit. Da wuchs neue Distanz, war Argwohn. Ich war froh, dass das Reden zwischen Bastian und uns nie abriss. Das hätte ich nicht ertragen. Ich hab ihn nie belogen, nicht doppelbödig gelebt, nicht dogmatisch erzogen. Würde das für eine bruchlose Beziehung reichen? Man galt ja mit dieser Mitgliedschaft bald als Komplize einer Verbrecherbande. Für die Bürgerinitiative in Zeuthen durfte ich tolle Plakate zaubern. Aber mitmachen? Nein, sie hätten schon zwei SED-Leute, das wäre mehr als genug. Die Aufträge kamen nächtens. Trauer befiel mich und inzwischen auch Entzugsschmerz. Kann, soll man die eigene Lebensweise einfach kappen wie ein Tau? Ebenso wie Robert versuchte ich es noch eine zeitlang, hin- und hergerissen, die SED in eine demokratische, menschliche Partei zu wandeln. Obwohl mir Auflösung und Neugründung sauberer schien. Davor stand die Mehrheit. Nach dem zweiten großen Finanzskandal 1990 trat ich aus. Meine Schmerzgrenze war erreicht. Ich wollte die neue Schuld anderer nicht länger auf mich laden. Und nun? Was macht in diesem Ostdeutschland ein politisch denkender Mensch mit seinen Erfahrungen und Verletzungen der Vor- und Wendezeit? Zurückziehen, bedenken, keine Kompromisse mehr? Braucht man denn diese schmerzlichen Erkenntnisse der Insider für die Zukunft nicht? Fühlt man sich bei den eigenen (nicht deckungsgleichen) Mechanismen ertappt? Ich bin ratlos, weil unzufrieden damit. Es gibt viel zu tun. Aber ich bin ein Menschenfreund, vielleicht auch ein durch Schock gewordener Moralist, aber kein Wendehals. Wem nützt das?

Immer wieder frage ich mich, waren wir wirklich alle Opportunisten in diesem Land? Bestimmt, es war eine weit verbreitete Seuche: Stets auf Vorteile bedacht und nett angepasst zu sein. Das ist der einfachste, unauffälligste Weg zu leben, insofern der typischste wohl. Doch wie vielen fehlte allein der Mut, den kritischen Ansatz weiterzudenken? Wie viele meinten, es wäre nur die falsche Politik und zu viele opportune Leute am Werk? Viele trugen den Anspruch im Bauch, ihr Umfeld stückchenweise positiv zu verändern. Gar Oppositionelle glaubten, arbeiteten für eine bessere Version dieses Gesellschaftsmodells. Latent gab es Hoffnung mit solchen Leuten wie Lamberts und ein Jahrzehnt später mit Gorbatschow darauf. Daneben spukte tiefe Verzweiflung durch die Seelen. Wenn sich gar nichts bewegte und man empfand, dass es so nicht weitergeht. Wie viele? Es ist nicht zu sagen. An ihren Taten sollst du sie messen. Doch wer findet heute das rechte Maß und was wird als Tat anerkannt? Damit sich nicht alle „Widerständler“ schimpfen? Ein ganzes Volk moralisch schuldig und darüber einige moralisch schuldiger und etliche darunter kriminell. Wer richtet ein Volk, dessen Lebensumstände er nicht begreift und mit wessen Elle? Dieses Volk hat keinen Völkermord geduldet und mitgemacht. Hierfür sind Gleichheitszeichen zum 3. Reich absurd.

Während der Wende staunten wir über die Sprachgewalt einfacher Leute. Sie ist erstummt. Erstickt im Nachrichtensumpf, verwirrt allenthalben, die Situation mutet gewollt an. Doch wenn sie nicht reden, wird man das Maß für Urteile niemals finden. Freilich, wie lange es dauern wird, bis die Macht enttarnenden Splitter aus den Geschichten, den Akten und dem dazugehörigen Kontext: Ort, Zeit und Bedingungen zusammengetragen sind, vermag keiner zu schätzen. Eine gerechte kurzweilige Lösung gibt es nicht. Soll nicht neues Unrecht entstehen, braucht es ein gesundes Kalkül vor dem Urteil. Das überfordert allerdings die schnellen, erfolgsgewöhnten Wessi’s. Bei jenen begibt sich die Konjunktur gerade in eine Atempause. Im Osten ist Neuland, da sind ihre Ellenbogen gefragt. Nur die Ossi’s stören mit ihren diffusen Debatten und ungeklärten Verhältnissen west-wirtschaftlichen Interessen, die sowieso über Ostler hinweggehen. Doch genau da müssen wir durch, und ihr mit uns. Wir halten euch derzeit den Spiegel vor: Ihr seid nicht besser, nur bunter und einige reicher. Mit euch hätte man diesen DDR-Stalinismus auch gemacht – Ort, Zeit und Bedingung!

Verstrickungen der Untertanen

Es gibt einen vielsagenden sprachlichen Begriff: das politische System der DDR. „System“ allein sagt – ein geschlossenes und in sich geordnetes wie gegliedertes Ganzes. Alle Teile greifen ineinander und sind miteinander verwoben. Jeder kennt das aus der DDR-Zeit: War ein Parteitag der SED, werteten ihn alle hierarchisch strukturierten Teile des Ganzen aus. Es war durchaus nicht selten, dass ein „Nicht-Genosse-Klassenlehrer“ in der Elternversammlung noch seinen Psalm dazu sprach. Zum X. Male hörten die Versammelten die nächste schlechte Variante einer Interpretation. Bastians Nicht-Genosse-Klassenlehrer hielt es sogar für unumgänglich, uns zu Hause aufzusuchen, weil mein Sohn nicht der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft beitreten wollte. Bastian wusste, es ist seine Entscheidung. Ich erlebte, wie einschneidend und beschränkend eine Parteimitgliedschaft ist. Wie kompliziert es für den einzelnen war, diese „kollektive Meinung“ ungebrochen zu vertreten. Denn wer nachdenkt, findet auch zu Alternativen im Detail, bessere Nuancen. Wie erpressbar wurde man durch dieses: „bedingungslos hin zu gehehen, wo die Partei dich hinstellt und deren Beschlüsse zu erfüllen…“ Ich hatte immer schon Schwierigkeiten mit solcherart Zwängen. Sie ermöglichten streckenweise sogar einen beinahe militanten Umgang mit den Mitgliedern. Nach der diplomatischen Anerkennung der DDR und den Weltfestspielen 1973 in Berlin erschien die Partei offener, liberaler, entwicklungsfähig. Ungeheuer viele junge Leute traten jetzt mit „fliegenden Fahnen“ der Partei bei. Aber die innere Befehlsstruktur blieb und machte auch diesen Zuwachs größtenteils krumm. Als der Philosoph Loesert Mitte der 80er Jahre das Land verließ, hörte ich ihn in einer Nachtsendung im SFB oder Rias. Er sprach damals davon, dass radikale Reformen nur über die Parteijugend machbar wären. Das glaubte ich auch, war aber trotzdem schon skeptisch, denn diese Parteijugend war gespalten. Mit Gorbatschow gab es ein Reformdenken junger Genossen in Betrieben, unter den Naturwissenschaftlern, nicht ohne Widerstand der älteren. Dagegen schob sich der konservative jugendliche Teil, der des Machtapparates und der Parteiwissenschaften. Trends, die nicht ausschlossen, dass etliche anders dachten.

Nun saß mir also ein Nicht-Genosse-Lehrer gegenüber und machte mir mit seiner mangelnden Zivilcourage Druck: „…das könne ein Nachspiel haben…“ Bastian trat nicht in die DSF ein. Selbiger Lehrer war nach der Wende ganz scharf gegen Genossen. Er war ja nicht dabei und machte nun Karriere an der Schulzendorfer Schule. Mitgliedschaft ist noch kein Indiz für Täterschaft. Alles ist viel komplizierter. Mitgliedschaft deutet zunächst lediglich auf eine Geisteshaltung. Doch die splitterte in der SED wie in jeder mächtigen Partei in verschiedene Strömungen, später Flügel. Es gab alles in ihr: Moralisten, Idealisten, aktive wie inaktive Realisten, Mitläufer, Opportunisten, Konservative, konservative Dogmatiker. Es war eine Massenpartei und jeder Mensch denkt nicht gleich dem anderen. Selbst wenn sie das Gleiche meinen, ist es nicht dasselbe. Dass die SED dennoch einheitlich nach außen erschien, lag neben der waltenden Parteidisziplin nicht zuletzt daran, dass nur eine besondere Spezies in die Führungsriegen drang. Leute mit einem typisch deutschen Autoritätsverständnis, gepaart mit Konfrontationsdenken, das dem Kalten Krieg geschuldet war. Eine merkwürdige Mischung, die sich so oder so auch in allen mächtigen Parteien Deutschlands wiederfindet. Ich weiß nicht, ob sich diese Gilde auch noch so hartnäckig in Machtpositionen schöbe, wenn diese Posten ehrenamtlich und unentgeltlich wären. Funktionäre, die nicht abhängig Beschäftigte einer Partei sind, ihr Brot anderweitig verdienen, was wären das für Menschen? Ein unrealistischer Traum. Denn als Nebenjob ist Regierungsarbeit wirklich nicht machbar, in den jetzigen Strukturen jedenfalls. Lenins Traum „Der Sozialismus ist das Werk der Millionen Menschen…“, hat sich derweil als idealistisch herausgestellt. Wie reich müsste eine Gesellschaft sein, die solche Menschen hervorbringt? Leute, die nicht der Existenzkampf treibt. Aus dem sich so unterschiedliche wirtschaftliche und politische Interessen ergeben, die wieder Macht bündeln und benutzen -.

Nein, heute glaube ich, solange Menschengruppen um ihren materiellen Anteil an dem Reichtum der Gesellschaft raufen, ist dieser Traum ein Gedankenphantom. Es bleibt, die leidlich entwickelte Demokratie zu umsorgen und zu befördern, national, international, was bei den zunehmenden, weltweiten Spannungen schwer genug wird.

März 1992

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Morgenstunde (402. Blog-Notat)

„Großmutter, was hast Du für große Ohren…“ – so fühlte ich mich gestern, nach den vielen, vielen Glückwunsch-Telefonaten. Es ging den ganzen Tag so und während ich sprach oder lauschte, landeten wieder weitere Gratulanten auf der Box. Einzig in der Kaffeezeit mit unseren Nachbarn, klingelte es nicht so ununterbrochen, danach hab ich den Liebsten auf ein Feierabendbier weggeschickt, wir kamen eh zu nix… Jedes Jahr wird es schlimmer mit den Anrufen, auch wenn sie herzlich gemeint sind, sie sind einfach zu lang und besetzen komplett den Tag. Es gab Zeiten, da fand man die Glückwünsche im Postkasten vor (drei hatte ich davon diesmal noch) und konnte sich still daran erfreuen, später noch einmal nachlesen und sich in der Feierzeit ganz seinen Gästen bzw. der Familie zuwenden. Als der Liebste zurückkam saß ich knülle mit den „großen“ Ohren auf dem Sofa und schaltete nur noch die Doku „Wir Ostdeutschen“ von Lutz Pehnert ein, das hätte ich wahrscheinlich sonst nicht gemacht… ABER da hätte ich dann doch etwas verpasst, denn DAS ist der einzige Filmbericht, den ich bisher über die ostdeutschen Befindlichkeiten gesehen habe, der es haarscharf tritt. Es ist der Versuch mit unbelasteten Protagonisten glaubhaft zu erklären, dass eine ganze Gesellschaft plötzlich vor dem Nichts stand, ohne gute Aussichten, mit schwerem Autoritätsverlust der Elternschaft und in der Berufswelt und was das bedeutete und wie es nachwirkt, das erzählt diese empfehlenswerte Doku. Ich selbst hatte 1992 als ich die Nachrichtenbilder von dem rechtsradikalen Mopp vor der brennenden Unterkunft vietnamesischer Vertragsarbeiter in Lichtenhagen sah, begonnen, mein Wissen aufzuschreiben. In Form eines Jugendromans mit zwei Helden aus der linken und der rechten Szene. Ich war zur Wende Print-Jugendredakteurin, kannte mich in beiden Lagern aus und glaubte, die Brisanz des Themas müsste doch hinreichendes Interesse auslösen. Aber nee: „Müssen wir Sie kennen, Frau Elsner?“, war eine gedehnte Frage eines westdeutschen Entscheiders. Mussten und wollten sie nicht. Das Buch erschien nicht in Deutschland. Was hatte die Ostdeutsche auch schon zu sagen, allein die Griechen fanden es wichtig genug, übersetzten den Stoff und brachten das kleine Buch heraus. Wir haben alle diese oder jene Geringschätzung oder Ablehnung erfahren und eben das wirkt nach – lange.
Ich bin jedenfalls froh, dass es diesen Filmbericht gibt, er ist ein Anfang ehrlicher und nicht tendenzieller Analyse. Danke dafür.

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Morgenstunde (111. Blog-Notat)

Entlang der Peene auf der Rückfahrt von unserer kurzen Ostseetour. Foto: Petra Elsner

Ein Bild der Zeit von gestern. Aus dem fahrenden Auto eingefangen: Kahle Auen am  Peenestrom kurz nach der Insel Usedom Richtung Anklam. Dieser Schnappschuss könnte für mich für den Flug der Zeit stehen. Für Magersein im Überfluss. Liegt es am Tag der Deutschen Einheit, der morgen wieder all die Dinge schönreden wird – politisch-korrekt. Ich weiß nicht, diese Zeit ähnelt der Starre aus dem vergangenen Land im Osten vor 1989. Bleierne Zeit, sie ist nur bunter. Die Entscheidungen im Land und gegenüber der Welt, sie stehen im Stau. Und so länger sie dort verharren, scheinen die Grabenkämpfe wieder aufzuflackern, denn ein Schuldiger muss wieder einmal gefunden werden. Ich bin es echt leid, dass darüber das Verwandtschaftsgefühl der Deutschen wieder Risse bekommt. Ich wünsche mir nach fast 30 Jahren Leben im vereinten Deutschland eine gegenseitige Wahrnehmung auf Augenhöhe… Nicht mehr und nicht weniger.

1033. Blogbeitrag

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